Tipsy's sonderliche Liebesgeschichte / Taft zum Kragen

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Tipsy's sonderliche Liebesgeschichte / Taft zum Kragen
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Else Hueck-Dehio

Tipsy’s sonderliche Liebesgeschichte Taft zum Kragen

Baltische Erzählungen

Kaufmann Verlag

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

4. Auflage 2011

© 1913 Eugen Salzer-Verlag, Heilbronn

© 2003 Verlag Ernst Kaufmann, Lahr

Dieses Buch ist in der vorliegenden Form in Text und Bild urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags Ernst Kaufmann unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Nachdrucke, Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: JAC

Druck und Bindung: CPI books, Ulm

ISBN 978-3-7806-5003-0 (Druckausgabe)

ISBN 978-3-7806-9204-7 (ePUB)

ISBN 978-3-7806-9205-4 (Kindle-Version)

Tipsys sonderliche Liebesgeschichte

Tipsy war kein Kanarienvogel. Sie war auch kein junger Wachtelhund mit langem Behang, der sich wie Seide anfühlen konnte, wenn man ihn bürstete. Sie war kein Fohlen und kein Kätzchen. Sie war ein junges Mädchen, das noch vor der Jahrhundertwende auf einem estländischen Gut heranwuchs. Sie war natürlich auch nicht Tipsy getauft, sondern Maria-Gabriele. Aber dieser schöne und edle Name wurde von den vier älteren Brüdern nie ganz ernst genommen. Da das Kind das jüngste in der Reihe der Geschwister blieb und, als es zu laufen anfing, mit unermüdlichem Eifer versuchte, hinter den großen Brüdern herzurennen, ergab sich von selber der Name ›tagga-tips[1]‹ , aus welchem dann das zärtlichere ›Tipsy‹ wurde.

Tipsy blieb Tipsy, auch als sie längst selber reiten und schwimmen konnte, und wahrscheinlich wurde sie noch als Großmutter so gerufen, denn wir wissen alle, dass sich in unserer Heimat solche Kindernamen oft bis ins hohe Alter, ja, bis in die Todesanzeigen hinein, erhielten.

Aus dem Leben dieser Tipsy möchte ich nun eine kleine Geschichte erzählen – die Verwandten, die sie mir lächelnd zugetuschelt haben, werden mir meine leichte Indiskretion hoffentlich verzeihen, denn es handelt sich immerhin um den sonderlichen Beginn von Tipsys Liebesgeschichte.

Ich habe auch lange gezögert, ehe ich beschloss, die Geschichte aufzuschreiben. Aber nun soll es doch geschehen, und während ich dieses bedenke, freue ich mich darauf, wieder einmal die Felder und den Himmel, Fluss, Wald und Schneesturm, ja, das ganze, nie vergessene Bild der Landschaft wiederzusehen, die einst unsere Heimat war.

Zunächst wuchs Tipsy auf ihrem elterlichen Gut auf, wie unzählige junge Mädchen der damaligen Zeit schon aufgewachsen waren. Die estnische Kinderfrau wiegte sie auf ihren prallen Armen in ihre ersten Träume. Die halbdeutsche Bonne bürstete ihr die Haare und wusch ihr die Hände, wenn sie vom Sandhaufen zum Mittagessen gerufen wurde. Sie trocknete ihr auch die Tränen, wenn die großen Brüder wieder einmal auf ihren Ponys über alle Berge ritten, ohne sich um den die Händchen flehend ausstreckenden Tagga-tips zu kümmern. Dann kam die deutsche Gouvernante, Fräulein Magnus, die sich mit Ernst und Strenge um Tipsys Bildung bemühte, ihr den Handkuss und die anderen, einem wohlerzogenen Kinde zustehenden Höflichkeitsformeln beibrachte und sie dabei als einziger Mensch in der Welt stets ›Maria-Gabriele‹ nannte. Schließlich kam auch noch Mademoiselle aus der Schweiz, parlierte französisch wie ein zwitschernder Garten-Laubsänger, legte sich abends Papilloten rund um den kleinen, dunklen Kopf und duftete unnachahmlich nach Maiglöckchen.

Darüber hinaus gab es natürlich noch Papa und Mama, die, wie die Götter im Olymp, über dem ganzen Leben thronten, alles Wichtige entschieden, den Morgen- und Abendkuss in Empfang nahmen und, aus einer gewissen Entfernung betrachtet, bestaunt und geliebt werden konnten.

Und dann gab es noch Tante Addi.

Tante Addi lebte in Dorpat in einem lang gestreckten, niedrigen Holzhaus an der Breitstraße. Wenn die Familie im Herbst zur landwirtschaftlichen Ausstellung in die Stadt fuhr, stieg man bei ihr ab. Aber viel öfter, zu jeder Festzeit und wann es ihr sonst richtig schien, kam Tante Addi in ihr Elternhaus nach Ilgafer. Sie brachte Mandeln und Rosinen, das Dorpater ›Studentenfutter‹, mit, schaute nach allem, was in Küche und Schafferei, Stall und Kinderstube vor sich ging, fuhr auf die Nachbargüter, und wenn sie abends nach Hause kam, steckte sie voll der lustigsten Geschichten, über welche die Großen bei Tisch schallend lachten, während Tipsy sich meistens vergeblich bemühte, herauszukriegen, was nun eigentlich so komisch war.

Aber Tante Addi verstand es, auch Tipsy die schönsten Dinge zu erzählen, Märchen oder „wie es in meiner Jugend herging“, was ebenfalls geradezu märchenhaft klang.

So war Tipsys seelisches und charakterliches Gedeihen von allen Seiten aufs Beste umsorgt und umfriedet, und es konnte eigentlich nichts anderes aus ihr erblühen als eine ganz exemplarisch wohlgeratene Mädchenknospe.

Aber wie das im Leben so ist – gerade die Menschen, von denen man sich am meisten verspricht, führen manchmal ein verhängnisvolles Doppelleben. So auch Tipsy.

Wenn Mademoiselle um die Mittagsstunde in einem Lehnstuhl und einem broschierten französischen Roman versank und Fräulein Magnus sich in ihr Zimmer zurückzog, um ernstlich nachzudenken, dann blieb Tipsy nicht auf der Veranda sitzen, damit beschäftigt, ›Karl und Marie‹ zu lesen. Wie ein Wiesel schlüpfte sie die wenigen Holzstufen in den Garten hinunter, verschwand um die Hausecke, rannte hinter den dichten Jasmin- und Fliederbüschen entlang, bis vom Hause aus kein Mensch sie mehr sehen konnte, und wanderte dann aufatmend zur Pferdekoppel. Die zweijährigen Fohlen waren ihre besonderen Freunde. Auf ihren schlanken, blanken Rücken verstand sie sich zu schwingen, um dann, die Hände in die Mähne festgekrallt, die Schenkel eng an den warmen Pferdeleib gepresst, jagte sie über die Koppel, nun selber in einen Gott, in einen jener Olympier verwandelt.

Der wellige, stellenweise moorige, stellenweise samtgrüne Boden der Koppel war das Antlitz der Erdkugel. Das abgefressene Gestrüpp wurde zum Hain, in dem Sylphen und Dryaden hausten, die modrige, zertrampelte Tränke war der Ozean, den ein Odysseus befuhr. Die Luft aber, die um das Gesicht wehte und das Haar zerzauste, die Luft war das Element, durch das man flog, grenzenlos glücklich, grenzenlos frei. Und über sich, mit Wolken, Bläue und Licht, nur der Himmel – grenzenlos... bis das fliegende Ross, der herrliche, geflügelte Pegasus, plötzlich wie angewurzelt stehen blieb und man mit dem Gesicht in seine Mähne flog. Wenn man aufblickte, sah man vor sich die dunklen, blank gewetzten Balken der Umzäunung. Ach, auch die Grenzenlosigkeit hatte ihre Grenzen!

An anderen Tagen gelang es, das Heureka-Spielgewehr von Bruder Karluscha zu klauen. Dann ging der Streifzug weiter, hinter die Hofhäuser und die große Kleete bis an den Waldrand. Dort, unter einigen Eichen, war der Schweinepirk, und wenn es in seiner Nähe auch nicht gerade nach Maiglöckchen roch wie bei Mademoiselle, so gab es dort immerhin das edle Borstenwild zu erjagen. Die Patronen von Karluschas Gewehr bestanden aus einem Stäbchen mit Gummi-Saugnapf, und wenn es glückte, eine der suhlenden Sauen richtig auf ihre Breitseite zu treffen, dann war es äußerst possierlich zu beobachten, wie das verblüffte Tier versuchte, den haftenden Pfeil wieder loszuwerden.

Einer der niedrigen, breit ausladenden Äste der Eichen war als Hochsitz für dieses Jagdunternehmen besonders geeignet, und manche Stunde des Pan, in der alles zu ruhen schien, saß auch Tipsy ganz still und ohne zu zielen dort oben und horchte nur auf das Rieseln der Sonnenhitze zwischen den Eichenblättern. Alles schwieg, der Wald, die Wiese, das moosige Dach der Kleete, die Hofhäuser zwischen ihren verwilderten Fliederhecken. Sogar das Borstenwild lag und rührte sich nicht. In der flimmernden Luft aber stand ein Ton – man konnte ihn fast nur fühlen, nicht hören – ein süßer, alles verzaubernder Flötenton.

Wenn man genauer hinhörte, konnte es vielleicht auch ein Pirol sein, der fern, fern aus den Gründen des Waldes rief. Hinter den Häusern und Parkbäumen standen nämlich, noch weiß und völlig harmlos, ein paar Gewitterwolken.

Es erwies sich leider, dass der Eichenhochsitz nicht ganz ohne Tücken und Gefahren war. Eines Mittags, als Tipsy gerade ihren Pfeil mitten auf das runde Hinterquartier einer Sau platziert hatte und mit Entzücken beobachtete, wie die alte, dicke sich bemühte, den betreffenden Körperteil an einem der Eichenstämme abzuwetzen, rauschte das Laub genau neben Tipsy auf, und ein dunkler Kopf erschien wie der Kopf eines Riesen, denn kein Mensch konnte so lang sein, dass er vom Erdboden bis zu Tipsys luftigem Hochsitz reichte.

Der Kopf sprach: „Groß ist die Diana von Ilgafer, ihr ward es vergönnt, das edle Wild aufs hintere Blatt zu treffen!“

„Ich heiße nicht Diana, sondern Tipsy“, sagte diese, die nach ihrem ersten Schreck begriff, der Riese sei ein Reiter und sogar ein bekannter Reiter, nämlich der Habichtshofsche Nachbar. Übrigens ein schon älterer Herr von etwa achtundzwanzig Jahren, denn wenn man selber zwölf Jahre zählt, sind achtundzwanzig Jahre ein beachtliches Alter.

Der Kopf neben ihr mit seiner blanken, schwarzen Locke, den dunklen Augenbrauen und dem modischen Bärtchen lächelten, und dann sprachen sie: „Sehr wohl, also: Groß ist die Tipsy von Ilgafer! Und ich bitte, die olympischen Eltern zu grüßen, ich schaue nachher vielleicht herein.“

 

Tipsy erhob ihre Hand erschreckt zum Munde und blickte dem Habichtshofschen so dicht und glasklar in die Augen, dass dieser schon wieder zu lächeln begann. „Nein, nein“, sagte er beruhigend, „ich werde schweigen wie das Grab. Ich weiß, was sich einer so verehrungswürdigen Persönlichkeit gegenüber gehört. Die Tipsy von Ilgafer kann sich auf mich verlassen.“

Er zog seinen Kopf zurück, lenkte sein Pferd, dessen goldbraune Flanken in der Sonne spiegelten, mit einem Schenkeldruck auf die Wiese hinaus, grüßte zu Tipsy hinauf, indem er die Reitgerte leicht an die Stirn hob, und trabte davon.

Nach diesem Erlebnis wagte Tipsy es mehrere Tage nicht, ihre Jagdgründe aufzusuchen. Aber es gab ja auch noch andere Vergnügungen, zum Beispiel das ›Katte-rattas‹, zu deutsch das Zweirad. Es war ein hochrädriger, flacher, leichter Karren, mit dem man abends schnell und bequem einen Haufen Grünfutter vom nächsten Feldrain heranholen konnte. Wenn nun einer der Knechtssöhne sich bereit erklärte, das ›Katte-rattas‹ im Trabe über die Parkwege zu ziehen, dann konnte man sich selber draufstellen und träumen, man sei eine Zirkustänzerin, die schwebend und grüßend durch das Rund der Arena gefahren würde. Die Bäume am Weg waren das Publikum, sie neigten sich und applaudierten mit ihren grünen Ast-Händen. Die Fichten waren die alten Herren, Birken waren natürlich junge Mädchen; die Silberpappeln aber, die immer, auch im leisesten Windhauch, flüsterten und ihre Blätter regten, waren die Tanten, die dauernd etwas zu tuscheln hatten.

Auf einer dieser Fahrten hatte Tipsy es nicht beachtet, dass Fräulein Magnus von ihrem Giebelfenster aus Einsicht in den Park nehmen konnte. Von oben her erscholl der markerschütternde Schrei: „Maria-Gabriele, willst du dir das Genick brechen?!“ Woraufhin der Knechtsjunge vor Schrecken stolperte, das ›Katterattas‹ sich vornüberneigte und Tipsy tatsächlich auf den Sand des Weges flog.

Die mittäglichen Zirkusvorführungen nahmen also ein Ende mit Schrecken, und zur Strafe für Tipsy wurde Wanja, der russische Gymnasiast, der den Brüdern die schwierige Staatssprache beibringen sollte, beauftragt, in der Mittagsstunde mit Tipsy russisch zu lesen.

Gleich am ersten Tage wanderten beide mit ihrem Buch einträchtig zum Ententeich hinter der Brauerei. Dort gab es Kaulquappen und junge Frösche in Massen, und um Tipsy recht zu imponieren, zeigte ihr Wanja, wie man junge Frösche lebendig verschlucken konnte. Tipsy bekam ihre glasklaren Augen, und dann rannte sie einfach davon, Wanja mit seinem Buch und seinen Fröschen sich selbst überlassend. Dieser war es zufrieden. Er setzte sich ins Gras unter eine der Weiden und begann allein zu lesen.

Tipsy hingegen flüchtete zum Roggenfeld. In einer seiner Buchten war nichts anderes zu sehen als nur die jungen, grünen Ähren, die sich auf ihre Blüte vorbereiteten, und darüber der blaue Himmel. Hier lag sie mäuschenstill, bis die Panstunde vorübergegangen war und man sich mit Anstand zum Kaffeetrinken einfinden konnte.

Bei dieser Handhabung der Dinge blieb es. Wanja erzählte beim Kaffee munter, was sie gelesen hätten, und Tipsys Doppelleben war gerettet. Die Großen wussten nicht, wie gut das war. Aber Tipsy wusste es, denn es war das Glück ihrer Tage.

Schon in jenen guten alten Zeiten war es so, dass die Jahre vergingen und die Kinder heranwuchsen. Auch Tipsy wurde mit jedem Sommer älter. Sie begann, sich im Spiegel zu betrachten, und meinte, sie müsse ihre Haare endlich aufstecken. Bis dahin waren sie, von einem schwarzen Band über der Stirn gehalten, lose über ihren Rücken gefallen. Sie begann, in die broschierten Romane von Mademoiselle hineinzuschauen und den Mond für das herrlichste und wehmütigste Gestirn des Weltalls zu halten. Sie begann, sich für die Jugend der Nachbargüter zu interessieren, und wanderte versonnen durch den Park zum Tennisplatz, der nach den neuesten englischen Richtlinien für ihre Brüder angelegt worden war. Sie setzte sich auf die Bank am Rande dieses neumodischen Spielplatzes und schaute zu, wie die Brüder und ihre Freunde sich mit Schlägern weiße Bälle zuwarfen. Es schien ihr wie eine gewalttätige Abart von Federball, ein Spiel, das sie mit Mademoiselle früher auf dem Rasenrondell vor dem Hause gespielt hatte. Sie betrachtete die jungen Männer mit vergnügter Neugierde, wie sie da sprangen und rannten und schlugen und sich englische Zahlen zuriefen. Dass sie selber hätte mitspielen können, auf diesen Gedanken kam sie überhaupt nicht.

Einmal war auch der Habichtshofsche Nachbar auf dem Tennisplatz, jetzt schon ein älterer Herr von etwa zweiunddreißig Jahren. Komisch – Tipsy betrachtete ihn heimlich von der Seite und wunderte sich, dass er ihr heute jünger erschien als damals auf dem Schweinehochsitz. Er saß neben ihr auf der Bank, schlug Bein über Bein, rauchte eine Papyros und rief den Spielern auf dem Platz kritische Bemerkungen zu. Offenbar kannte er das Spiel, vielleicht hatte er es sogar im Ausland gelernt! Er hatte ein dunkel gebräuntes Gesicht mit einer gebogenen Nase, glänzende Augen, die den Bällen lebhaft folgen, und unter dem schwarzen Bärtchen einen Mund, den selbst die unschuldsvolle Tipsy als höchst ironisch empfand. Sie wandte die Augen weg und blickte in die Wipfel der Tannen, die den Tennisplatz umstanden. Sie waren golden-grün und der Himmel seidenblau. – Nein, mit diesem dunkelhaarigen Onkel aus Habichtshof wollte Tipsy nichts zu tun haben!

Da kam ein Ball, den Karluscha flach geschlagen, mit scharfem Sausen auf die Bank zugeflogen. Tipsy fing ihn aus der Luft, ehe er das Gesicht ihres Nachbarn hätte treffen können, und warf ihn in hohem Bogen auf den Platz zurück.

Der Habichtshofsche wandte seinen Kopf mit den aufglänzenden Augen Tipsy zu, erhob sich ein wenig von der Bank, machte eine winzige Verbeugung und murmelte: „Groß ist die Tipsy von Ilgafer...“ Dann setzt er sich wieder und beobachtete das Spiel weiter, als ob es auf der ganzen Welt keine Tipsy gäbe.

„Ekel...“, dachte Tipsy, die knallrot geworden war, und drei Minuten später stand sie auf, machte einen kleinen Knicks zum Habichtshofschen hin, wie sich das bei einem Onkel gehört, und wanderte schüttelnden Haares fort in den Park hinein.

Noch eine Eigenschaft entwickelte sich in Tipsy, die bis dahin nur kaum bewusst zu ihrem Wesen gehört hatte: Sie begann mit größter Aufmerksamkeit die Gespräche zu verfolgen, welche die Großen bei Tisch miteinander führten. Es konnte passieren, dass sie beim Tee-Einschenken vergaß, den Hahn des Samowars zuzudrehen, und dass das heiße Wasser dampfend über den Tassenrand floss. „Aber, Maria-Gabriele, pass doch auf“, rief Fräulein Magnus vorwurfsvoll. Sie ahnte nicht, wie gut Tipsy aufgepasst hatte!

Wenn die großen Brüder, die jetzt schon Studenten waren, aus Dorpat erzählten, gingen Tipsy neue Welten auf. Da gab es im Frühling Mollatz-Kommerse und Blumenkorsos und im Winter eine Schlittschuhbahn, auf der die jungen Mädchen Hand in Hand mit den Studenten Bogen laufen durften. Da gab es Konzerte, nach denen die Studenten die Pferde des Zweispänner-Schlittens ausspannten, um die Sängerin im Triumphzug selber ins Hotel zu fahren. Da gab es Bälle und Burschentheater und Fuchsaufnahmen mit dem ›Landesvater‹... Dass es in Dorpat auch noch eine Universität gab, geriet eigentlich ganz in Vergessenheit.

Aber auch wenn die Brüder nicht da waren und Tante Addi von den Nachbargütern erzählte, war es spannend genug. Wie artig zum Beispiel die Kustumäggischen Kinder waren, die reinsten Tugendbüchsen, erzogen wie die jungen Jagdhunde!... Und Fee, die Adalsholmsche Tochter, die stundenlang mit dem jungen Berg durch den Park wandelte... „Der junge Berg hat jetzt das Beigut seines Vaters selbstständig übernommen, und folglich ist er ein ernsthafter ›Epouseur‹ – wenn da sich nicht etwas anspinnt...“

Tipsy senkte die Augen auf ihren Teller und steckte sich gedankenvoll ein Stückchen Butterbrot in den Mund. Was war ein Epouseur? Und was sollte sich anspinnen?

Nach dem Essen zog sie ihre Tante Addi in eine der Fensternischen des Esszimmers. „Sag, Tante Addi, was ist ein ›Epouseur‹?“, fragte sie mit großen, ernsten Augen.

Tante Addi wollte sich ausschütten vor Lachen. „Wai, Herzchen“, rief sie, „das weißt du noch nicht? Nun, ein Epouseur ist kein Student mehr, mit dem man einfach flirten kann. Er ist ein fertiger, selbstständiger Mann – junge Mädchen müssen sich vor ihm in Acht nehmen!“

Also so war das: Vor Epouseuren sollte man sich in Acht nehmen. Und Fee hatte das offenbar nicht getan.

Heute Abend ging es nun um den Habichtshofschen, der beim Tennis zugeschaut hatte. Er hieß übrigens Bodo, und Tipsy dachte, die Nase krausend, der Name passe zum Ekel. Dennoch horchte sie doppelt so aufmerksam wie sonst zum oberen Ende des Tisches hinüber, was ihr eine Rüge von Fräulein Magnus eintrug: „Maria-Gabriele, die Gespräche der Erwachsenen sind überhaupt nicht interessant. Denk lieber an deine Geographiearbeit.“

Nun, Fräulein Magnus mochte sich ruhig einbilden, die Geographiearbeit sei interessanter als die Gespräche. Tipsy wusste das besser. Und sie erfuhr an diesem Abend Außerordentliches! Auch der Habichtshofsche war ein Epouseur, dazu noch der reichste in der Umgegend. Aber er schien nicht an die Erfüllung seiner Epouseurspflichten zu denken, im Gegenteil, er fuhr jedes Frühjahr ins Ausland, nach Monte Carlo, und vergeudete dort sein Geld in der unsolidesten Weise. Außerdem sei er ein Schürzenjäger – dieses wurde ganz leise geflüstert –, aber wohlaussehend, das musste man ihm lassen. Die interessanteste Erscheinung weit und breit...

Von diesem Abendessen stand Tipsy mit gesenkter Stirne auf, und zwar nicht wegen der Geographiearbeit. Die Botschaften aus dem Reich der Erwachsenen, zu dem nun auch die Brüder mit ihrem leichtfertigen Mundwerk gehörten, hatten sie tief verwirrt. Sie konnte nicht umhin, Tante Addi noch einmal in die Fensternische zu ziehen, um sie auszufragen: „Sag mir doch, womit vergeudet der Habichtshofsche sein Geld auf so unsolide Weise in Monte Carlo?“

Wie ein Orakel klang die düstere Antwort: „Er spielt, mein Kind.“

Tipsys Augen wurden ganz rund. „Er spielt...“, murmelte sie, und sie begriff nicht, inwiefern man mit dieser fröhlichen und unschuldigen Tätigkeit, die ihrem Herzen so nahe stand, sein Geld vergeuden konnte. Kinder spielten und freundliche Erwachsene spielten manchmal auch mit. Allerdings ein Spiel gab es, das etwas mit Geld zu tun hatte, in Tipsys Welt natürlich nur mit Spielgeld. Das war das Kartenspiel ›Müller-Matz‹. Wenn die großen Brüder mitspielten, konnte man dabei sogar beträchtlich verlieren. Tipsy war einmal ganze fünf Rubel losgeworden.

Tante Addi hob das Gesicht der verstummten Tipsy mit zwei Fingern am Kinn in die Höhe und fragte: „Noch etwas, mein Herzchen?“

„Ja, Tante Addi“, flüsterte der kindliche Mund. „Was für ein Jäger ist der Habichtshofsche außerdem?“

Tipsy sah deutlich, dass in Tante Addis ohnehin vergnügten Augen zwei besonders lustige Fünkchen aufglühten. Trotzdem antwortete sie ernsthaft: „Er ist ein ausgezeichneter Jäger, ein ganz großer Nimrod! Wenn du einmal in die Vorhalle seines Hauses kommst, dann wirst du sehen, wie viele Elchschaufeln, Rehgehörne und ausgestopfte Auerhähne er dort aufgehängt hat.“

„Und die Schürzen?“, fragte Tipsy.

Tante Addi schien verblüfft. Nach einer kleinen Pause sagte sie: „Die hat er wahrscheinlich nicht aufgehängt“, dann wandte sie sich schnell um und ging zu den anderen Großen, die sich bereits auf der Veranda um die Lampe versammelt hatten. Dunkle Nachtfalter flogen um die weiße Kuppel.

Tipsy merkte deutlich, dass Tante Addi bei ihrem schnellen Abgang ein Lachen verborgen hatte. Also sagte auch sie nicht alles, was es zu sagen gab. Man musste allein mit den überwältigenden Neuigkeiten fertig werden, die so ein Tag einem in den Weg zu werfen beliebte...

Tipsy zögerte noch einen Augenblick. Aber da niemand nach ihr rief, wanderte sie unauffällig an der Verandatür vorbei zur Treppe und in ihr Zimmer hinauf. Hier holte sie aus den Tiefen einer Schublade ein in Leder gebundenes Heft. Es war ihr Tagebuch. Auch dies war etwas Neues: Sie hatte seit einiger Zeit begonnen, Tagebuch zu schreiben – und die Ausbeute des heutigen Tages war groß.

Draußen in der weißen Nacht sangen die Sprosser im Park und das Korn in der Roggenbucht blühte auf. Tipsy aber sah vor ihrem geistigen Auge den Habichtshofschen, das Ekel, wie er auf einer Klippe der Riviera saß und mit dem Fürsten von Monaco ›Müller-Matz‹ spielte...

 
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