Loe raamatut: «Der Säbeltänzer»

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Der Säbeltänzer

von

Erhard Regener

I M P R E S S U M

Copyright © 2021 Erhard Regener

Alle Rechte vorbehalten.

Autor: Dr. Erhard Regener

Außerkreith 20, 6162 Mutters, Österreich

+49 152 5434 5497

feedback@regener.tirol

Lektorat: Dr. Gregor Ohlerich, Berlin

Auch als Printausgabe erhältlich.

www.erhard-regener.de

Dies ist die Geschichte eines Feiglings. Sie hat ihre Aufgabe erfüllt, Wenn sie den Zweifelnden Mut macht, auf ihr Herz zu hören.

1. Tante Anna

Vergangene Woche hatte Atsche den letzten Brief von Rosana erhalten, den allerletzten. Nach zwei Jahren, in denen sie nichts weiter voneinander gehabt hatten als ihre regelmäßigen Briefe; zwei Jahre, in denen er keine andere Frau auch nur sehnsüchtig angesehen, geschweige denn angefasst hatte. Nach zwei Jahren, in denen er immer noch die sinnlose Hoffnung gehegt hatte, sie würde eines Tages zu ihm zurückkehren können, brach Rosana den Kontakt nun ab.

"Atsche, ich kann nicht mehr! Ich weiß, ich werde nie wieder so geliebt werden, wie du mich geliebt hast, aber es ist eine Illusion ohne jede Perspektive. Verschwende dein Leben nicht! Du wirst in meinem Herzen bleiben - für immer."

Was sollte Atsche dazu sagen? ER war es schließlich gewesen, der sie hatte widerstandslos ziehen lassen. ER hatte tatenlos zugesehen, wie sich der Vorhang langsam gesenkt hatte, bis er endgültig gefallen war - der Eiserne Vorhang zwischen ihnen.

Atsche war für ein paar Tage zu seinen Eltern nach Schnelleben gefahren. Nach dem Abschluss seines Studiums waren die Besuche immer seltener geworden. Nicht dass er sich von den Eltern Trost erhoffte. Über Rosana hatten sie nie wieder gesprochen. Seit ihrer Abreise war das Thema in diesem Hause tabu. Aber die Abende in der Natur zu verbringen, brachte ihm immerhin etwas Ablenkung.

Bei seiner Ankunft erzählte ihm seine Mutter, dass es Tante Anna sehr schlecht ginge und sie in Kürze das Schlimmste erwarten müssten. Tante Anna war eine Großtante von Atsche. Sie hatte immer in Schnelleben gewohnt und sich nie weit von diesem Dorf entfernt. In ihrer Jugend war Anna ein hübsches Mädchen gewesen. Nun wird dies, wohl aus Freundlichkeit und Mangel an gegenteiligen Beweisen, gemeinhin fast jeder alternden Frau nachgesagt. Doch ließen Annas nachkolorierte Jugendfotos aus dem Familienalbum jeden Zweifler verstummen. Die wenigen jungen Burschen im Dorf hatten ihr alle den Hof gemacht. Und obwohl Anna ihren Freundinnen gegenüber immer wieder beteuert, ja fast geschworen hatte, den Otto würde sie niemals heiraten - am Ende machte doch Otto, mit seiner den Wagners eigenen Beharrlichkeit, das Rennen.

Atsche erinnerte sich gern an Onkel Ottos hintergründigen Humor. Oft hatten sie vor der Gartenlaube gemeinsam Kaffee getrunken, während Onkel Otto seine billigen Stumpen rauchte. Atsche lauschte dabei gespannt den Geschichten, die der Onkel zu erzählen hatte: Geschichten einer Generation, die noch Originale zuhauf hervorgebracht hatte, trocken gewürzt durch Ottos obligates Plattdeutsch. Die Vertrautheit zwischen Tante Anna und Onkel Otto strahlte eine wohltuende Ruhe und Harmonie aus, die durch ihre gegenseitigen Sticheleien eher noch bestätigt wurde.

Nachdem Onkel Otto vor etlichen Jahren gestorben war, wirkte Tante Anna etwas hilflos. In der Folge übernahm Atsche die anstrengenden körperlichen Arbeiten in ihrem Garten, wie einst ihr Mann. Den Kaffee vor der Laube tranken sie nun zu zweit. Anstelle des Zigarrenqualms bildete fortan ein Gläschen Likör den Abschluss des Rituals, wobei Tante Anna kein einziges Mal die Bemerkung "ausnahmsweise" ausließ. Und allmählich wurde sie wie eine zweite Großmutter für Atsche. Doch nun ging es mit Tante Anna unweigerlich dem Ende entgegen.

"Ich war gestern Abend bei Anna. Gehst du heute allein zu ihr? Es ist besser, wenn wir uns alle abwechseln.", sagte die Mutter. Atsche trank einen letzten Schluck Tee und erhob sich. Im Flur zog er den Lodenmantel über und pflückte im Garten ein paar Blumen. Die einzigen Blumen, die jetzt noch blühten, waren die letzten Herbstastern. Er mochte Astern, es waren für ihn die Nelken des Herbstes. Die zehn Minuten zum Haus von Tante Anna ging er zu Fuß. Oben im Treppenhaus an ihrer Wohnungstür angekommen, klopfte er leise und trat ein. In der Wohnstube war nur seine Großmutter, offenbar im Aufbruch begriffen.

"Grüß dich, Oma.", Atsche küsste sie zur Begrüßung auf den Mund und half ihr darauf in den Mantel.

"Richard. Gut, dass du kommst. Dann brauche ich Anna nicht allein lassen. Ich muss erstmal nach Hause, nach den Hühnern sehen und eine Kleinigkeit essen."

"Geht es dir wenigstens gut?"

"Ja, ja, mir schon, ja. Aber ..., na du wirst es selbst sehen. Sie liegt in der Schlafstube. Richard, ich muss los."

Im Schlafzimmer roch es nach Kampfer und alter Frau. Tante Anna hatte ein weißes langärmliges Nachthemd an, die Bettdecke war bis zur Brust hochgezogen und ihre Arme lagen seitlich neben ihr, fast so als gehörten sie nicht zu ihr. Von ihrer ehemals leichten Korpulenz war nichts geblieben, sie sah eingefallen aus und hatte einen gelben Schimmer auf der Haut.

"Hallo Tante Anna. Hier, ich habe dir ein paar frische Astern mitgebracht.", Atsche strich ihr über die kalte, schweißnasse Stirn. Die Blumen registrierte sie nicht.

"Richard, dass ich dich noch einmal sehen würde."

"Aber, aber, ich bin doch nicht aus der Welt. Wir werden uns noch oft sehen."

"Das glaube ich nicht, mein Junge. Mit mir geht es zu Ende."

"Nun, es geht dir im Moment nicht gut. Aber wir wollen doch im Frühjahr wieder in deiner Laube gemütlich Kaffee trinken, Omas berühmten Hefekuchen essen und ein Likörchen nehmen, oder nicht? Hoffnung gibt es immer."

"Nicht mehr für mich.", sie ließ den Kopf, den sie bis dahin noch mühsam, aus einer Art Höflichkeit, leicht angehoben hatte, auf das Kissen zurücksinken und sah mit leeren Augen an die Decke.

"Ich habe letztens die Rosen in deinem Garten zurückgeschnitten und mit Mist abgedeckt. Das ist zwar noch etwas früh, aber nun kann der Winter kommen.", Atsche zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr.

"Richard, wie alt bist du jetzt?"

"Siebenundzwanzig."

"Doch schon. Sag, hast du immer noch keine Freundin? So ein ansehnlicher Junge wie du.", für ihren besorgniserregenden körperlichen Zustand konnte sie verhältnismäßig deutlich sprechen, wenn auch langsam.

"Damit habe ich es nicht eilig."

"Oder hast du noch nicht die Richtige gefunden?", genau über dieses Thema wollte Atsche am Allerwenigsten reden. Schon suchte er nach einer ausweichenden Antwort, doch als er in Tante Annas müde Augen sah, schämte er sich für sein Vorhaben, jetzt und hier nicht ehrlich zu sein. Seit Jahren hatte er mit niemandem darüber gesprochen, selbst mit seinen besten Freunden nicht.

"Doch, ja. Ich hatte die Richtige gefunden."

"Das ist aber schön, Richard. Wer ist sie? Du hast sie uns noch nicht vorgestellt."

"Ich, ähm, ... ich habe sie gehen lassen."

"Aber warum?"

"Mir hat der Mut gefehlt."

"Das ist schade, mein Junge, sehr schade. Und, fehlt sie dir?", Tante Anna hüstelte leicht.

"Ich bin noch jung, es wird wieder vergehen. Die Zeit heilt alle Wunden.", wie altklug er sich anhörte.

"Das hoffe ich, das hoffe ich sehr für dich."

"Keine Sorge, das wird wieder."

"Ach, Jungchen. Du kannst das noch nicht wissen: Die Zeit heilt nur die kleinen Wunden."

"Du meinst den Krieg?"

"Nein, ... das Herz."

"Ja, der gute Onkel Otto. Jedes Mal, wenn ich im Schrebergarten bin, fallen mir seine Geschichten ein.", Anna machte Anstalten, als wollte sie sich etwas aufrichten. Atsche rückte ihr das Kissen zurecht, damit ihr Kopf etwas höher lag.

"Ist deine Oma noch da?"

"Nein, wir sind ganz allein. Aber ich bleibe noch eine Weile.", Anna nickte kaum wahrnehmbar in Richtung ihrer Bettkante, was er als Aufforderung verstand, dichter an sie heranzurücken.

"Als ich ein junges Mädchen war, da hatte ich noch nicht mit Otto angebändelt ..., hier auf dem Gut war eine Kompanie Kavallerie für ein paar Monate einquartiert. Das war eine Aufregung im Dorf, sage ich dir.", sie lächelte, wie jemand, dem eine schöne Erinnerung ins Hirn schießt. "Die einfachen Soldaten durften natürlich abends nicht ausgehen. Viel war hier auch nicht los. Aber die drei Offiziere sind abends immer im Dorf auf und ab geritten und auch mal in der Kneipe eingekehrt. Die Offiziere waren noch blutjung und sehr schneidig in ihren akkuraten Uniformen - einer ganz besonders. Ja, und dann war das Erntefest und der Gutsbesitzer hat auch die Offiziere dazu eingeladen. Ein Offizier hat mir immer heimliche Blicke zugeworfen. Aber wir haben den ganzen Abend nicht miteinander geredet. Nur am Ende hat er mir einen Zettel zugesteckt. Er hieß Herwarth. Wir haben uns immer heimlich getroffen, das war nicht so einfach in so einem kleinen Dorf, zwei Monate lang. Dann musste die Kompanie weiter.", Tante Anna leckte sich ihre trockenen Lippen. Mit dem Kopf deutete sie auf die Tasse auf ihrem Nachttisch und Atsche gab ihr etwas von dem inzwischen kalten Kamillentee zu trinken.

"Herwarth wollte mich mitnehmen. Er wollte, dass wir heiraten. Er hatte schon alles geplant - er war in allem sehr korrekt. Aber, ich konnte doch meine Mutter nicht allein lassen. Und so weit weg von hier. Das hat mir Angst gemacht. Ich habe ihm gesagt, dass ich das nicht kann.", ihre Stimme war zum Ende hin immer leiser geworden. Nach einer kurzen Pause, in der sie nicht zu atmen schien, holte sie tief Luft und fuhr fort: "Und dann waren sie weg. Ich habe wochenlang geweint, ... ja, und heute? ... bis heute habe ich ihn nicht vergessen. Manchmal träume ich noch von ihm, wie er an meinem Fenster vorbeireitet. Nein, er kommt mich nicht holen, er reitet nur vorbei und ich kann nicht mit. Es ist immer das Gleiche: Er reitet vorbei, winkt mir zu und ich kann mich nicht bewegen. Ach, hätte ich damals doch nur den Herwarth genommen, ... dann wäre alles anders gekommen. Ganz anders.", diese Sätze hatten sie viel Kraft gekostet und sie schloss die Augen. Ihr schwerer Atem ließ erkennen, dass sie nicht schlief.

Atsche war schockiert! Es erschien ihm völlig absurd, dass zwei Monate im Leben so lange und so intensiv nachwirken können. Niemand in der ganzen Verwandtschaft hatte davon gewusst. Da hatte diese Frau zwei Kriege überstanden, zwei Kinder großgezogen, war scheinbar zufrieden mit sich und der Welt, um nun auf dem Totenbett eine Mutlosigkeit zu bereuen, die ihr gesamtes Leben schlagartig sinnlos erscheinen lässt? Das machte Atsche panische Angst. Sollte es ihm in seinen letzten Minuten ebenso ergehen? Würde auch für ihn alles Erlebte wertlos werden? Und das alles nur wegen dieser einen, seiner bisher einzigen, Feigheit?

Tante Anna starb zwei Tage später, friedlich eingeschlafen, wie man beschwichtigend sagt, obwohl weder der Friede noch der Schlaf das Geringste mit dem Endresultat gemein haben - der absoluten Leere.

Atsche saß mit seinen Eltern am Frühstückstisch. Das Telefon klingelte, seine Mutter nahm ab. Es war ein kurzes Gespräch.

"Hans.", sagte sie zum Vater. "Der Leichenbestatter ist bei Tante Anna. Sein Kollege ist ausgefallen und er kann sie nicht allein die Treppe heruntertragen. Gehst du mal helfen?", der Vater fuhr erschrocken herum.

"Ich? Nein."

"Hans!"

"Nein, ... nein, sowas kann ich nicht."

"Aber irgendjemand muss helfen."

"Schon gut, ich gehe.", sagte Atsche ruhig und stellte seine Teetasse beiseite. Er ging in den Flur, zog seinen Mantel über und verließ das Haus. Dieses Mal fiel das Blumenpflücken aus.

Tante Anna wohnte im ersten Stock, es ging eine schmale Treppe und eine enge Kehre hinauf. Im Schlafzimmer wartete der Bestatter mit herabhängenden Armen. Die Bettdecke war zur Seite geschlagen, Anna Wagner hatte noch immer ihr weißes Nachthemd an. Bei Atsches letztem Besuch hatte er nur ihr Gesicht und ihre Arme gesehen, ihr Körper war unter dem schweren Federbett kaum zu erahnen gewesen. Dass sie jetzt so unfassbar schmal war, hatte Atsche nicht erwartet. Er war über sich selbst erstaunt: Er hatte keinerlei Empfindung. Das war nicht mehr Tante Anna. Zu oft hatte er bei Tieren gesehen, wie von einem Moment auf den anderen das Licht ausging und dann blieb nur ein seelenloser Berg Fleisch. Was hier lag, war weniger: ein Bündel aus Haut und Knochen. Wenn ein Verstorbener noch warm ist, ist es etwas anderes. Man kann seine warme Hand halten, man kann ihn streicheln und küssen, als würde die Seele sich Zeit lassen und erst in ein paar Stunden nach und nach entweichen. Das ist ein langsamer Abschied, auch wenn man weiß, dass hinter diesem Gesicht niemand mehr zuhört, wie bei einem Schlafenden. Aber hier lag die Sache anders. Anna war steinkalt und nur noch ein Haufen Materie, mehr nicht - auch wenn dieser Haufen in seinem Aussehen entfernt an Tante Anna erinnerte.

"Wollen wir?", fragte der Bestatter.

"Ja, klar.", antwortete Atsche, als handele es ich um ein Möbelstück. Es gab keine Trage oder ein anderes, dem Umstand angemessenes Behältnis. Sie trugen Anna im Bettlaken die enge Treppe hinunter. Anna war so leicht, dass Atsche sich fragte, warum der Bestatter überhaupt seine Hilfe gebraucht hatte. Unten angekommen legten sie sie auf eine Bahre und schoben sie in den Leichenwagen. Der Bestatter schloss die Wagentür.

Atsche glaubte nicht an ein Leben nach dem Tode. Das machte ihm mitunter selbst Angst, aber jetzt tröstete es ihn. Tante Anna musste also nicht diese unsinnige Bürde, die sie ein Leben lang gequält hatte, mit hinübernehmen. Es war vorbei.

2. Die alte und die neue Welt

Der zehnte September war ein sonniger, windstiller Spätsommertag und ein Sonntag obendrein. Für Atsche ein denkwürdiges Datum: Endlich war er Student. Ein völlig neuer Abschnitt in seinem Leben begann: kein Gefängnis wie bei der Armee, kein Eingesperrtsein im Internat, keine Abhängigkeit vom elterlichen Haushalt. Er fühlte sich erstmals in seinem Leben unabhängig und ja, das darf man so sagen: Frei! In den kommenden fünf Jahren würde er nichts weiter zu tun haben, als die Prüfungen recht oder schlecht zu bestehen und einigen Formalitäten zu genügen. Das erschien ihm lächerlich wenig. Darüber hinaus könnte er tun und lassen, was er wollte. Von vielen Älteren hatte er gehört, dass das Studium die schönste Zeit ihres Lebens gewesen sei, und wenn er sich etwas fest vorgenommen hatte, dann, dass auch er dies einmal sagen würde.

Allerdings erwischte ihn eine der Formalitäten ausgerechnet heute: der studentische Kontrolldienst, kurz SKD. Jedes Wohnheim hatte am Eingang eine Art Pförtnerbude, in der zwei Studenten Wache schieben mussten. Ungesehen kam also weder jemand hinein noch hinaus. "Kontrolldienst" trifft es aber nicht einmal annähernd, da niemals jemand kontrolliert wurde. Letzte Woche hatte Atsche einen Brief von der Uni erhalten:

"Sehr geehrter Herr Wagner, ... sind Sie zum SKD am 10.09.1978 von 14:00 bis 22:00 Uhr eingeteilt. ... Die Einweisung erfolgt um 13:30. Sie werden den Dienst gemeinsam mit Thorsten Heckenbauer versehen. ... "

So eine gottverdammte Scheiße! Während alle anderen rabiat feiern würden, müsste er in dieser öden Bude sitzen. Heckenbauer hieß sein Spannemann also. Für einen Nachnamen wie Heckenbauer kann man sich doch glatt erschießen. Hecken kann man pflanzen, schneiden oder auch vollpinkeln, aber doch nicht bauen. Und all seine Nachkommen wären ein Leben lang mit diesem peinlichen Namen bestraft.

Atsche kam geradewegs vom Bahnhof, hatte seinen Rucksack geschultert, die Gitarre in der Hand und war im Laufschritt auf dem Weg zum Wohnheim. Eine alte Frau, so um die vierzig, gab auf dem Flur einem Burschen mit Brille, ordentlich gekämmten Haaren, weißem Hemd, Jackett und lederner Aktentasche ihre Anweisungen. Die unterwiesene, hagere Gestalt konnte nur dieser Heckenbauer sein. Gerade sagte sie mit Blick auf seine prall gefüllte Aktentasche:

"Oha. Herr Heckenbauer, sie haben sich heute Abend aber viel vorgenommen."

"Ja, Wissenschaft ist schwer. Das sind alles Bücher. Ich will den Dienst nutzen, und mich noch ein wenig vorbereiten.", Atsche hatte es geahnt: ein Streber.

"Tach. Ich bin Richard Wagner, heute zum SKD eingeteilt.", brachte er etwas pustlos hervor.

"Sie sind zehn Minuten zu spät, Herr Wagner."

"Tut mir leid. Sie wissen ja, diese Langsamfahrstrecken überall. Ich habe meinen Anschluss in Leipzig verpasst.", sofort brodelte es in Atsche. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich für irgendetwas zu entschuldigen, schon gar nicht vor dieser runzligen Harpyie.

"Natürlich weiß ich das. Aber die Genossen von der Reichsbahn arbeiten mit Hochdruck an der Lösung dieses Problems. Man kann eben nicht immer alles auf die Minute genau planen. Vielleicht nehmen Sie das nächste Mal einfach einen Zug früher. Sie haben hier schließlich eine Aufgabe!"

Die Einweisung war eine Farce. Ein Zettel mit allen wichtigen Punkten, die er ohnehin nicht beachten würde (am wenigsten das Alkoholverbot), wäre völlig ausreichend gewesen. Also, da saß er nun mit diesem fein herausgeputzten Heckenpisser, wieder eingesperrt, diesmal im SKD-Verschlag.

"Hallo. Ich bin Thorsten, aber alle nennen mich Hecki.", versuchte diese Frohnatur eine Konversation anzubändeln und streckte Atsche seine Hand entgegen. Atsche ahnte, dass es wenig Sinn machen würde, hier einen auf beleidigt zu spielen. Hecki trug schließlich keine Schuld an dem Dilemma des ersten Abends.

"Hecki, nimm es nicht persönlich, mit diesem Scheißdienst haben sie mir gleich den ersten Abend versaut, aber gründlich. Na ja, wir werden es schon überstehen.", Atsche stellte die Gitarre beiseite und setzte den Rucksack ab. Dabei gab es ein klirrendes Geräusch. Er öffnete den Rucksack und kramte zwei Flaschen Pils hervor, nestelte aus seiner Hosentasche einen Dreikantschlüssel und öffnete damit die beiden Flaschen.

"Ähm, Hecki: Ich weiß, du willst heute noch lernen. Möchtest du vielleicht trotzdem ein Bier?", Hecki rutsche etwas unsicher auf seinem Stuhl hin und her und rückte seine Brille gerade.

"Ich weiß nicht. Wenn ich ein Schluck Bier trinke, kann ich mich danach immer schlecht konzentrieren."

"Ach, komm Junge, das ist der erste Tag und in dieser Woche läuft eh nicht viel.", Hecki nahm zögernd die Flasche, hielt sie weit von sich und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen das Etikett, als würde er so etwas zum ersten Mal sehen.

"Prost Hecki.", hielt ihm Atsche seine Flasche entgegen, Hecki stieß mit ihm an, klock, setzte die Flasche vorsichtig an seine gespitzten Lippen und nippelte daran wie ein Mädchen.

"Na, war das so schlimm?"

"Nein, nein. Was ist das?"

"Luxator, das beste Bier aus Magdeburg.", sie unterhielten sich artig über Familie, Schule, Armee und das bevorstehende Studium. Leider würden sie, wie sich schnell herausstellte, in der gleichen Seminargruppe sein. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte Hecki endlich die seinige Flasche Bier vollständig geleert. Atsche beherrschte sich aus Höflichkeit, in der gleichen Zeit nicht drei Bier hinterzukippen.

Immer wieder gingen diverse Studenten an ihrer Loge vorbei, die einen hinein, die anderen hinaus. Schon vorhin hatten sie sich über zwei vermeintlich deutsche Bewohner gewundert, die sich aber in einer völlig unbekannten Sprache unterhielten. Und was war das jetzt? Ein schüchterner, dunkelhäutiger Junge passierte ihr Fenster und nickte ihnen freundlich zu.

"Was macht der denn hier? Ist das ein Kubaner?"

"Nee, eher Inder oder so was."

"Ich dachte, wir sind hier nur unter uns."

"Das habe ich auch nicht gewusst. Das ist ja wie bei den Weltfestpielen. Toll.", und bei den eben taxierten Balten und dem Pakistani blieb es nicht. Neben deutschen war eine bunte Mischung ausländischer Studenten mit ihnen immatrikuliert worden: Russen, Osteuropäer und Kaukasen, zierliche Asiaten, muskulöse Schwarzafrikaner, Araber, quirlige Mulatten aus der Karibik, hispanische Kreolen und gedrungene Indios aus Südamerika, sogar eine Griechin. Die beiden Jungs hatten bisher kaum Ausländer zu Gesicht bekommen. Und wenn nun einer von diesen Exoten hereinkam, betrachteten sie diesen neugierig, wie in einem Zoo - nur mit dem Unterschied, dass Hecki und Atsche diejenigen waren, die hier im Käfig saßen.

"Du meine Güte, wie sollen wir das in diesem Kerker nur so lange aushalten? Der einzige Trost ist, dass mein Rucksack voller Bier ist. Aber vom Bier muss man immer so viel pinkeln. Ein kleiner Schnaps wäre jetzt das Angemessene.", Atsche sagte dies in der Gewissheit, dass Herr Heckenbauer für derartige Bedürfnisse keinerlei Verständnis haben würde.

"Ein Wissenschaftler findet für jedes Problem eine Lösung."

"Das ist kein wissenschaftliches Problem, sondern ein ganz profanes, Herr Professor.", Hecki ließ sich von dem sarkastischen Unterton nicht beeindrucken. Er nahm seine dicke Aktentasche auf den Schoß und fing in aller Ruhe an, darin herumzuwühlen. Gleich würde dieser Brillen-Heini eines seiner fetten Fachbücher auspacken und darin nach einer Lösung suchen. Aber nein, die Tasche entpuppte sich als wahre Wundertüte. Erst landeten ein paar Strümpfe auf dem Tisch, dann eine Zahnbürste, ein Berg Tütensuppen und zu guter Letzt zog Hecki eine große Flasche mit einem glasklaren Inhalt hervor.

"Na, da ist er ja, mein Kleiner.", seine Augen leuchteten.

"Was ist das?"

"Blauer Würger."

"Was in aller Welt ist denn Blauer Würger?"

"Das ist der billigste Korn überhaupt. Mein Vater hatte ein paar Flaschen 'rumstehen. Und ich dachte mir, bevor er davon zum Säufer wird, nehme ich von dem Zeug was mit."

"Na dann wird das Gelumpe wohl auch nach billig schmecken."

"Schlimmer. Aber 'nem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, oder?", jetzt war alles klar, so klar wie der Fusel in der schmucklosen Flasche.

"Hecki, du mieser Hund! Du hast mich auf den Arm genommen."

"Und du bist darauf reingefallen! Huh, huh.", dieser Drahtwurm amüsierte sich köstlich und musste die Brille abnehmen, um sich die Augen zu wischen. Atsche war es mehr als recht, entpuppte sich Hecki letztlich doch als Mensch.

"Und was ist sonst noch in deiner Schatztasche?"

"Noch eine Flasche Blauer Würger und ein paar Kriminalromane. Das mit den Büchern war also nicht gelogen."

"Hecki, soll ich dir mal was sagen?"

"Sag es."

"Ich glaube, das ist der Beginn einer langen Freundschaft."

"Na dann. Prost Atsche."

"Prost Hecki."

Der Nachteil ihres Dienstes entpuppte sich langsam als Vorteil: Alle, die hier wohnen würden, mussten an ihnen vorbei, wobei das Interesse der Wachhabenden vorerst nur dem weiblichen Anteil der Karawane galt. Beide kamen frisch von der Armee und waren in einer bestimmten Beziehung verdammt ausgehungert. Und das Material, das sich hier präsentierte, gab ihrer Fantasie ausreichend Spielraum. Gerade kamen drei Mädels durch, von denen jeder von ihnen jede Einzelne sofort auf seine Favoritenliste setzte. Die Grazien grüßten freundlich und waren in aufgeräumter Stimmung.

"Ich werd' nicht wieder. Wenn das so weiter geht, krieg' ich'n Koller.", und es ging so weiter. Beide mussten sich Mühe geben, den Mund nicht offen zu behalten.

Aber was sie jetzt da draußen im Schein der Abendsonne in einem leichten Sommerkleid, bei jedem Schritt wippend, auf sich zukommen sahen, ließ sie vollends verstummen: ein Mädchen mit langen gewellten schwarzen Haaren, einem natürlich braunen Teint, feinen schwarzen Brauen, einem Profil wie eine Inka-Prinzessin und Augen wie ein Reh: eine Latina wie gemalt! So etwas kannte Atsche nur aus dem Fernsehen. Bisher hatte er stets auf einen festen, strukturierten Kussmund gestanden und daran würde sich auch nichts ändern. Allein bei diesem Mädchen revidierte er seine Meinung radikal und vollständig: Kein anderer Mund würde besser zu ihr passen als ihre weichen, konturlosen, rosafarbenen Lippen. Klack, klack, klack machten ihre Absätze auf dem Steinfußboden des Flurs, als sie an ihnen vorbeispazierte. Sie lächelte den beiden staunenden Gestalten hinter der albernen Pförtnerklappe zu, als würden sie sich schon lange kennen, winkte freundlich, sagte "Hola" und schon war sie an ihnen vorbei. Atsche hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Entgegen seiner angeborenen Scheu gegenüber dem anderen Geschlecht schnellte er hoch, riss die Tür ihres Verhaus auf und passte das Mädchen, Hecki im Nacken, gerade noch auf dem Flur ab.

"Hallo, wer bist du denn?"

"Ich heiße Rosana, ihr könnt auch Rosa zu mir sagen."

"Ich heiße Richard, aber alle nennen mich nur Atsche."

"Ja, das kann ich mir gut merken. Im Spanischen buchstabieren wir das 'H' wie 'atsche'.", Hecki drängte sich an Atsche vorbei.

"Hallo Rosa, ich bin Hecki. In welcher Seminargruppe bist du denn?"

"Ich bin in Seminargruppe 7."

"Na, wenn das kein gutes Zeichen ist. Dann sind wir drei in derselben Seminargruppe. Was machst du heute noch?", kam Hecki gleich zur Sache.

"Ich weiß nicht, ich kenne ja niemanden."

"Wenn du weiter nichts vorhast, kannst du uns ein bisschen Gesellschaft leisten. Wir müssen noch bis zehn hier sitzen.", Hecki hatte Atsche wohl doch einiges voraus.

"Ja, das wäre nett. Aber ich muss erstmal auf mein Zimmer, meine deutsche Zimmerkollegin kennenlernen. Vielleicht komme ich nachher bei euch vorbei. Also dann, chau.", sie winkte wie ein Schulkind und weg war sie. Die beiden Diensthabenden standen eine Weile wortlos nebeneinander und sahen auf die Ecke, hinter der Rosana eben verschwunden war, so als ob sie dort gleich wieder zum Vorschein kommen würde. Als Atsche wiedererwachte, fasste er Hecki bei beiden Schultern und schüttelte ihn:

"Mann, hast du das gesehen? Das ist doch der Hammer!"

"Die kommt heute nicht wieder."

"Sie hat doch 'vielleicht' gesagt."

"Dieses 'vielleicht' kenne ich. Mensch Junge, bleib ruhig. Wir sind in derselben Seminargruppe, die sehen wir jeden Tag."

"Sag mal Hecki. Ich habe da eine eher philosophische Frage."

"Oh fein. Ich gebe auch gern philosophische Antworten."

"Glaubst du, hier fällt auch für einen Trottel wie mich etwas ab?"

"Junge, bist du blind? Hast du nicht geschnallt, was hier vorbeigelaufen ist? Wir werden vögeln, was das Zeug hält."

"Meinst du echt?"

"Aber sicher. Und wir werden noch heute damit anfangen, gleich nach dem Dienst."

"Wie soll das denn gehen?"

"Ich habe für nachher eine Spontanfete auf meinem Zimmer organisiert."

"Ey, sauber. Das nenn' ich mal Mitdenken."

"Das sehe ich auch so. Na, ich denke, das ist ein würdiger Anlass, noch einen gehörigen Schluck zu nehmen.", der Würger wurde wieder hin- und hergereicht.

"Ähm, ... , da wir gerade beim Thema sind: Wann war denn dein erstes Mal?"

"Boah, das war überirdisch, mit vierzehn.", Hecki machte in der Erinnerung daran jetzt noch große Augen.

"Mit vierzehn? Das gibt es nicht! In dem Alter habe ich gerade mal angefangen, mir einen runterzuholen - in der Badewanne."

"Und wie lange ist es bei der Badewanne geblieben?"

"Bis ich achtzehn war. Aber erzähl mal, wie war das bei dir?"

"Im Ferienlager. Da war so'ne kleine süße Schnecke, weiß nicht, was die an mir gefressen hat. Jedenfalls waren nachmittags alle am Strand und wir beide hatten uns verabredet, Unwohlsein vorzutäuschen. Ich hätte im Leben nicht geglaubt, dass da wirklich was läuft, maximal ein bisschen küssen. Aber die Kleine war für ihr Alter schon, wie soll ich sagen, nicht unbeleckt. Lange Rede kurzer Sinn. Mit einem Mal lag ich drauf und die Post ging ab. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich weiß nur noch, dass ich von Anfang an geschwitzt habe wie ein Schwein. Das war klasse."

"Hast du ein Glück. Das hätte mir auch gefallen. Ich war einfach immer zu blöd."

"Wie war denn nun dein erstes Mal?"

"Wie gesagt, erst mit achtzehn. Feier im Internat. Die Feier war um halb zehn Schluss, Zapfenstreich war immer um zehn. Auf der Fete war eine Siebzehnjährige, die wollte angeblich noch was in Physik von mir erklärt haben, bevor Nachtruhe war. Wir beide auf mein Zimmer, da war nicht mehr viel mit Physik. Ich mache das Licht aus, da liegt sie schon im Bett. Ich rauf auf die Mutti, mir nur die Hose aufgeknöpft und ihr den Rock hochgeschoben. Da geht das Licht wieder an - Seppel, mein Mitbewohner kommt rein: 'Atsche, bist du verrückt. Die alte Hexe ist schon auf dem Flur'. Die 'Hexe' war die Internatsleiterin, die gleich alle Zimmer kontrollieren würde. Es wurde ein Wettlauf mit der Zeit. Seppel aufgepasst, wie weit die 'Hexe' ist, aus dem Zimmer rausgeguckt, reingeguckt: 'Beeil dich.', rausgeguckt, reingeguckt: 'Verdammt, nur noch zwei Zimmer.', ich rammele weiter, und das alles bei Festbeleuchtung. Dann ist mir endlich einer abgegangen. Wir beide sofort raus aus dem Bett, die Klamotten hochgezogen und gleich am Schreibtisch einen auf Physik lernen gespielt, total verschwitzt. Das war's, das war alles. Ich war dermaßen enttäuscht. Irgendwie hatte ich mir das epochaler vorgestellt. Dabei war es nicht viel anders als Wichsen, nur wärmer. Aber egal, jetzt war ich endlich ein Mann und konnte mitreden."

"Und danach? Wann war das nächste Mal?"

"In den Ferien habe ich gearbeitet."

"Aber an den Wochenenden."

"Habe ich meinen Jagdschein gemacht. Und dann kam die Armeezeit."

"Aber bis zum Studium war ein halbes Jahr Zeit."

"Habe ich wieder als Traktorist gearbeitet."

"Doch nicht die ganze Woche."

"In der Ernte wird auch an den Wochenenden gearbeitet, und wenn nicht ..., Mensch Hecki, ich wohne auf einem winzigen Dorf."

"Also danach war gar nix mehr?", Atsche sparte sich die Antwort. Eine Stunde mussten sie noch überstehen. Da klopfte es an der Budentür und ohne das "Herein" abzuwarten, lugte doch tatsächlich das neugierige Gesicht von Rosana hinter der Tür vor.

€8,99

Žanrid ja sildid

Vanusepiirang:
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392 lk 4 illustratsiooni
ISBN:
9783754926758
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