Einmal Heimat und zurück

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Sari: Lindemanns #263
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Der schlimmste Tag im Jahr war für die Familie der Heilige Abend. Otto weigerte sich, obwohl ihm Hanna um neun Uhr das Frühstück mundgerecht ans Bett brachte, an diesem Tag vor dem Mittagessen aufzustehen. Er wusste, was auf ihn zukam und konnte dem trotzdem nicht entrinnen.

Nach dem Mittagessen legte er sich wortlos auf die Couch im Wohnzimmer und Hanna wagte es nicht, vor vierzehn Uhr das Zimmer zu betreten. Punkt vierzehn Uhr stand er auf, ging ins Bad und rasierte sich sehr sorgfältig. Otto tat alles immer sehr sorgfältig und langsam. Zu mehr konnte er sich auch am Heiligen Abend nicht durchringen.

Den Nachmittagskaffee nahm er in der Küche ein. Dazu benutzte er eine große alte Tasse, in der man den brühheißen Kaffee durch Nachschütten entsprechender Milchmengen trinkbar machen konnte. Notfalls schüttete man ihn zur weiteren Abkühlung noch wechselweise von einer Tasse in die andere. Wenn sich Otto zu viel Milch ersparen wollte, kam er erst dann in die Küche, wenn der Kaffee schon eine halbe Stunde eingeschenkt auf dem Tisch gestanden hatte. Er hasste heißes Essen. Im Krieg hatte es selten eine warme Mahlzeit gegeben. Wenn Hanna ihn zum Essen rief, kam er grundsätzlich eine halbe Stunde später.

Weder Hanna noch Otto verloren ein Wort darüber. Otto zerriss das Stück Hefekuchen in kleine Stücke, tauchte sie mit dem Löffel in der Kaffeetasse unter und schlürfte sie mit viel Geräusch wieder bedächtig heraus. An Werktagen wurde der Hefekuchen durch mundgerechte Butterbrotstückchen ersetzt.

Otto tat alles sehr bedächtig. Nein, bedächtig war eigentlich nicht richtig. Er bedachte nicht, was er tat. Er tat es teilnahmslos und langsam. Wer ihm bei einer Arbeit oder beim Essen zusah, hatte immer das Gefühl, dass Otto einfach Angst davor hatte,

etwas Neues anfangen zu müssen.

Am Heiligen Abend trank er seinen Kaffe besonders langsam. Das Weihnachtsgebäck allerdings rührte er nicht an. Auch nicht den gekauften Weihnachtsstollen. Hanna kaufte ihn jedes Jahr, obwohl ihn keiner essen wollte. Eine gute Mutter hatte einen Weihnachtsstollen zu Hause. Nach Weihnachten schenkte sie ihn zwei alten Jungfern, die gegenüber wohnten und wie selbstverständlich am siebenundzwanzigsten Dezember den Stollen abholen kamen.

Gegen sechzehn Uhr zog Otto in den Krieg. Jedenfalls fühlte er sich so. Er kämpfte dabei gegen einen unsichtbaren Gegner. Ein Gegner, der mit ihm abends ins Bett ging und morgens mit ihm wieder aufstand. Er lauerte in Steckdosen, in Glühbirnen, im Ofen, an der Haustür, im Auto, in ihm.

Ehe er abends ins Bett ging, oder wenn er das Haus verlassen musste, zog er jeden Stecker aus der Steckdose. Dann schaltete er das Gerät ein, um sicher zu gehen, dass es nicht ohne Strom funktionierte.

Otto feuerte auch mit Öl. Zwei Ölofen spendeten Wärme im Flur und im Wohnzimmer. Allerdings nur am Tag. Jeden Abend ließ er die Öfen so rechtzeitig ausgehen, dass er sie bis zweiundzwanzig Uhr noch gründlich reinigen konnte. Mit einem extra dafür notdürftig reparierten Staubsauger entfernte er auch den letzten Krümel und die kleinsten Rußpartikel. Ein Mal in der Woche nahm er auch das Ofenrohr ab, um es von Rückständen zu säubern. Die Ölkanne stellte er über Nacht auf eine alte Steinplatte in den Keller, wobei er die Ausgießöffnung sorgfältig mit einem alten Lumpen verschloss. Egal wer es auch hätte tun können, er sollte keine Gelegenheit bekommen, den Ölofen zur Explosion zu bringen und seinen Zufluchtsort zu zerstören.

Bevor er die Haustür abschloss, ging er zu seinem Auto in der offenen Garage, schloss es auf, kuppelte aus, legte einen anderen Gang ein, löste die Handbremse, zog sie wieder an, bis das Bremsseil an seine Belastungsgrenze kam, und schloss das Auto wieder ab. Dann legte er noch einen großen Stein unter das rechte Hinterrad, obwohl der Boden völlig eben war. Nachdem er ein Mal um das Auto herumgegangen war, schloss er es wieder auf, dann

sofort wieder zu und rüttelte mehrmals an der Tür. Die Türgriffe damals hielten noch etwas aus. Dann schob er noch einen Stein unter das linke Vorderrad und ging zurück ins Haus, wobei er fühlte, wie seine Magenschmerzen langsam die Speiseröhre hoch krochen. Er schloss die Haustür von innen so lange zu, bis sich der Schlüssel auch mit Gewalt nicht mehr drehen ließ. Dann rüttelte er so kräftig an der Tür, dass es auch Hanna zu viel wurde. Sie hatte es sich abgewöhnt, irgendetwas zu fordern oder zu erwarten. Aber wenn er zum dritten Mal an die Tür ging um zu rütteln, rief sie aus dem Wohnzimmer: „Geh endlich ins Bett!“

Dann ging Otto wieder in die Küche, trank seinen Kaffee, der seit einer Stunde in der Tasse auf ihn gewartet hatte, mit viel Zucker und ging mit seiner Angst ins Bett.

Wenn er nachts aus einem unruhigen Schlaf aufwachte, kontrollierte er die Haustür und den Ölofen im Flur. Den Ölofen im Wohnzimmer wagte er nicht zu kontrollieren. Hannas Schnarchgeräusche wirkten wie eine unüberwindliche Schallmauer auf ihn.

Otto schlief schlecht in der Nacht. Deshalb verschlief er meist die Feiertage und die Sonntage. An diesen Tagen brachte ihm Hanna erst gegen Mittag den Kaffee ans Bett. So verhinderte sie, dass er vor dem Abendessen aufstand. Sie selbst hatte keine Schlafprobleme. Sie hatte ein reines Gewissen, denn sie war eine gute Mutter. An den Feiertagen und an den Sonntagen schlief sie mittags auf der Couch und problemlos die ganze Nacht, ohne ein Mal aufzuwachen. Klara schickte sie tagsüber mit Inge zu Verwandten. Klara flüchtete meist zu ihrer Oma.

4

Für den Heiligen Abend musste der Weihnachtsbaum aufgebaut werden. Eine gute Mutter hatte einen Weihnachtsbaum. Otto fürchtete sich vor diesem Baum. Er brachte Veränderung in die Streichholzschachtel und er beleidigte ihn mit seinen spitzen Nadeln.

Seit zwei Wochen stand der Baum draußen im Schuppen. Er schien jeden Tag größer und dichter zu werden. Wenn Otto nachts am Küchenfenster stand, konnte er ihn lachen hören und manchmal leuchtete der Schuppen in einem seltsamen roten Licht.

Von Weitem war Flakfeuer zu hören. Die Nacht schien mit Leuchtraketen, die wie Weihnachtsbäume am Himmel hingen, hell erleuchtet zu sein, und Otto spürte einen tiefen Schmerz in seiner rechten Brust.

Er wusste, er musste sich dem Feind stellen. Wenn er ihn nicht besiegte, würde er ihn um Haus und Hof bringen. Dann verlöre er sein Zuhause, in dem er sich vor der Welt verkriechen konnte. Er würde den einzigen Ort verlieren, wo er leben konnte, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Der einzige Ort, der ihm Lust und Last zugleich war. Lust empfand Otto durch die Abwesenheit des Juniorchefs und anderer Menschen, besonders durch die von Handwerkern. Lasten gab es unzählige.

Gegen sechzehn Uhr ging er in den Schuppen, um den Baum zu richten. Der Baum hatte beim Kauf eine Größe von über zwei Metern. Obwohl eine Fichte billiger gewesen wäre, nahm Otto lieber eine Blautanne. Sie nadelte nicht so schnell und geriet so weniger in Gefahr, sich selbst am Ölofen zu entzünden. Zunächst kürzte er mit der Säge mehrfach den Stamm des Baumes, bis die Größe erreicht war, welche problemlos ein Einstellen in den alten, eisernen Ständer erlaubte. Dann schnitt er alle Zweige ab, die sich näher als fünfzig Zentimeter standen. Wachskerzen waren unberechenbar, und eine gute Mutter hatte Wachskerzen am Baum. Es war ein stiller Kampf, den sie führten. Die Tanne wehrte sich mit allen Kräften. Sie wehrte sich gegen die rostigen Zähne der alten Handsäge und gegen die Axt, deren Eisenteil nur locker im Schaft steckte und bei jedem Schlag herauszufallen drohte. Und was Otto besonders wütend machte, ihre Zweige wuchsen ständig nach. Kaum hatte er einen entfernt, entdeckte er einen neuen, der sich in die magische Sperrzone von fünfzig Zentimetern geschlichen hatte. Mit dem Stamm war es ebenso. Kaum hatte er ihn abgesägt, verdickte sich das Ende so, dass es wieder nicht in den Ständer passte. Es war ein erbitterter Kampf, der Otto alle körperlichen Reserven abverlangte. Er schwitzte und fror zugleich. Sein graues, schütteres Haar klebte am Kopf fest, und sein Puls raste.

Er hörte das feindliche Flakfeuer und spürte den Schmerz, als er sich beim Aufprall auf dem felsigen Boden den Fuß so verstauchte, dass er zwei Wochen den Stiefel nicht mehr ausziehen konnte. Er hätte ihn wahrscheinlich schon ausziehen können, dann aber sicher nicht mehr an.

Obwohl er Handschuhe trug, stachen ihn die Nadeln, und seine Hornbrille lief an, so dass er nicht mehr genau sehen konnte, welche Zweige er noch entfernen musste. Der Kampf dauerte über eine Stunde. Dann hatte Otto seine ganze Angst an dem Baum ausgelebt. Am Ende des Zweikampfs hatte die Blautanne keine Chance mehr, als Weihnachtsbaum erkannt zu werden. Auch nicht mit den blauen Wachskerzen und den paar Kugeln, die er in der Stube am Baum anbrachte.

Die Kerzen brachte er nur dort an, wo zwischen dem Docht und dem Zweig darüber noch mindestens dreißig Zentimeter Luft war. Notfalls entfernte er noch mit einer alten Schere einige wenige Äste. Lametta lehnte er ab, da es eine Verbindung zwischen den Zweigen und den Wachskerzen hätte herstellen können.

Da der Baum jetzt nur noch neunzig Zentimeter hoch war, stellte ihn Otto auf ein kleines Tischchen. Darunter ließen sich auch bequem die wenigen Geschenke verteilen. Die Kerzen brannten nur so lange, wie er persönlich anwesend war. Über Nacht nahm er sie vom Baum. Er wollte dem Gegner keine Chance geben, sein bisschen Leben zu zerstören.

Die Stimmung am Heiligen Abend war entsprechend. Otto war wütend auf den Baum, und Hanna war wütend auf Otto. Dieser Baum konnte nicht einmal gegenüber den beiden Jungfrauen von gegenüber als Legitimation für eine glückliche Familie dienen. Dass sie ihren Mann nicht mehr vorzeigen konnte, empfand sie weniger als Schmach als die fehlende Repräsentationsmöglichkeit eines Kinder liebenden Weihnachtsbaums.

 

Nach der Bescherung schloss Otto die Stube ab und nahm den Schlüssel an sich. Er kontrollierte alle zwei Stunden die Stube, um sicher zu gehen, dass die Kerzen nicht dem Lockruf des Baums gefolgt waren, sich mit ihm zu entzünden. Danach legte er sich erschöpft ins Bett und stand erst wieder am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertags auf.

Hanna glich die Ärmlichkeit des Weihnachtsbaums mit ihrem Weihnachtsgebäck aus. Wenn die Verwandtschaft bei ihrem Pflichtbesuch nach dem Baum fragte, ignorierte sie die Frage und schickte Klara in den dunklen, feuchten Keller, neuen Wein zu holen. Klara weinte. Da Hanna mit einem weinenden Kind nichts anfangen konnte, schickte sie Klara mit Inge zur Oma. Klara liebte sie nicht dafür.

Nach den Weihnachtstagen verschloss Otto die Kerzen in einem Schrank im Schuppen. Der Baum interessierte ihn jetzt nicht mehr. Hanna stellte ihn irgendwann in den Schuppen, wo er stand, bis im nächsten Herbst das Spargelkraut verbrannt wurde. Otto warf ihn achtlos ins Feuer auf dem Spargelfeld. Die wenigen Nadeln knallten wie Maschinengewehrfeuer und flogen glühend aus dem Feuer heraus direkt auf ihn zu.

Er blieb beim Feuer, bis nur noch kalte Asche übrig war. Dann vergrub er die Asche in einem tiefen Loch. Wenigstens das war man dem besiegten Feind schuldig.

Otto war ein starker Raucher, obwohl er keinen Genuss dabei hatte. Wer ihm beim Rauchen zusah, hatte immer das Gefühl, es ginge ihm nur darum, die Zigarette zu vernichten.

Wenn er im Haus rauchte, stellte er in der Küche einen Aschenbecher vor sich auf den Tisch und legte das Feuerzeug daneben. Dann klopfte er rhythmisch an der Schachtel, bis die Zigarette herausfiel. Anschließend rollte er sie mit der flachen Hand mehrmals über den Tisch und stauchte sie mit dem offenen Ende so lange in den Aschenbecher, bis kein Krümel Tabak mehr aus dem offenen vorderen Ende herausragte.

Er fürchtet immer, beim Anzünden der Zigarette könne unkontrolliert vorn ein brennender Krümel Tabak herausfallen und das Haus in Flammen setzen. Deshalb klopfte er auch nach jedem Zug sorgfältig die Asche am Aschenbecher ab und legte die Zigarette erst aus der Hand, wenn er sie im Aschenbecher ausgedrückt hatte. Er drückte sie so fest aus, dass man befürchten musste, der Aschenbecher würde unter dem Druck zerspringen. Dann warf er die Kippe in ein mit Wasser gefülltes Glas und zündete sich die nächste Zigarette an.

Otto rauchte nicht, weil ihm die Zigarette schmeckte, sondern weil sie sich leicht beherrschen ließ. Man brauchte keine Säge und keine Axt dafür. Man musste nur die vorderen, losen Tabakkrümel herausschütteln, sie in einer Tüte sammeln und sie dann im Feuer des Holzofens in der Küche kontrolliert verbrennen.

Die Kippe war im Wasserglas keine Gefahr mehr. Es war schön, die Kippe im Wasserglas schwimmen zu sehen. Das Wasser war immer schmutzig, und wenn man oben hineinsah, konnte man nie den Boden des Glases erkennen. Klara hatte beim Essen immer das Wasserglas vor ihren Augen.

Otto rauchte gern. Manchmal huschte sogar ein Lächeln über sein Gesicht, wenn er am Automaten eine neue Schachtel Kurmark zog. Der Ausgang des Kampfes war vorhersehbar. Er würde ihn gewinnen. Das war es, was das Leben noch lebenswert machte.

Zuerst verspürte Otto nur ein leichtes Kribbeln in den Beinen. Es war unangenehm, aber es ließ sich aushalten. Von Ärzten hielt er nichts. Darüber war er sich mit dem Stammtisch einig, zu dem er in letzter Zeit ein Mal in der Woche zusammen mit Hanna ging. Der Wirt war auch im Krieg gewesen und hatte sich auf Bratwürste spezialisiert. Otto saß meist stumm dabei, rollte seine Zigaretten und staunte über die Dinge, welche das fachkundige Stammtischpersonal diskutierte.

Jeder hatte ein Leiden, an dessen Verschlimmerung der Arzt schuld war. Es wurden Geheimrezepte weitergegeben und die anwesenden Witwen darauf eingeschworen, ihr Haus nicht den Kindern zu überschreiben. Jedem war klar, dass das Pflegeheim Sicherheiten verlangen würde.

Seit seiner Heimkehr aus dem Krieg war Otto nie mehr bei einem Arzt gewesen. Auch bei keinem Zahnarzt. Seine Zähne putzte er nicht. Zähneputzen hätte von ihm eine Selbstdisziplin verlangt, die er nicht mehr aufbringen konnte. Für was sollten Zähne gut sein, wenn man das von der Rinde befreite Brot auch in die Kaffeetasse tunken konnte?

Seine Zähne hatten mit ihm eine stillschweigende Übereinkunft getroffen. Er brauchte sich nicht um sie zu kümmern, und sie würden schmerzlos das Feld räumen, wenn ihre Zeit gekommen war. Mit der Zeit verlor er immer mehr Zähne, ohne dabei Schmerzen zu verspüren oder dafür einen Zahnarzt aufsuchen zu müssen.

Otto war für Außenstehende ein Phänomen. Während normale Menschen beim kleinsten Loch im Zahn vor Schmerzen nicht mehr denken können, wurde Otto lächelnd zahnlos. Warum sich also beim Zahnarzt eine schmerzhafte Spritze geben lassen? Jeder ausgefallene Zahn war ein Sieg über sich selbst. Hanna schloss sich diesem Siegeszug an. Vielleicht war ja das die Basis ihrer Ehe. Schmerzen ignorieren, bis sie nicht mehr wahrgenommen wurden.

Nicht, dass Otto sich nicht auch mal krank gefühlt hätte. Sein Magen war ein ständiger Unruheherd, er schwitzte eigentlich immer und hätte schon lange eine schärfere Brille benötigt.

Er sammelte im Schuppen auch alte Brillen, aber vor allem alle Zeitschriften, derer er habhaft werden konnte. Riesige Stapel von Zeitschriften lagen sauber aufgeschichtet im größten Raum des Schuppens. Er sammelte sie jedoch nicht, um die Altpapiersammlungen des örtlichen Fußballvereins zu unterstützen. Er bewahrte darin einen geheimen Schatz auf, der ihn von Ärzten und ihren Spritzen unabhängig machte. Otto hatte Angst vor Spritzen.

In jeder Zeitschrift wurde für alle erdenklichen Krankheiten ein garantiert wirkendes Mittel empfohlen. Von Ärzten, denen Otto vertraute, weil er sie nicht kannte und weil er sie nicht aufsuchen musste. Er horchte in seinen Körper hinein und zog dann mit traumwandlerischer Sicherheit die Zeitschrift heraus, welche die Symptome beschrieb, die sein Körper auszusenden begann.

Der Apotheker an der Ecke, der mit ihm zur Schule gegangen war, fragte schon gar nicht mehr nach einem Rezept. Oft hatte er noch Pillen da, die an die Verfallsgrenze gerieten. Doch was sagte ein Datum? Sagte es der Pille, dass sie nicht mehr wirken durfte? Otto sah in dem Verfallsdatum einen reinen Willkürakt des Staates, der damit die Wirtschaft ankurbeln musste und den Kranken mit neuen Mitteln nur ihr hart verdientes Geld aus der Tasche ziehen wollte. Das Verfallsdatum hatte nichts mit der Wirksamkeit einer Tablette oder des Hustensaftes zu tun. Darüber war er sich mit dem Apotheker einig. Bestärkt wurde er in diesem Glauben dadurch, dass die meisten Pillen auch die gewünschte Wirkung erzielten. Otto war der ideale Kassenpatient.

Als das Kribbeln stärker wurde und die Pillen und Salben aus den Illustrierten nicht mehr ansprachen, massierte Otto seine Beine regelmäßig mit einer alten Pferdebürste, was auch kurzzeitig Linderung brachte. Der Stammtisch hatte es ihm bei seinem letzten Besuch empfohlen. Was für ein Pferd gut war, konnte einem Menschen nicht schaden.

Als die Bürste nicht mehr half, nahm er Schleifpapier. Davon hatte er mehr als genug in seinem Schuppen. Allerdings fiel es ihm immer schwerer, das Haus zu verlassen. Bestimmt hatte die Krankheit mit seiner neuen beruflichen Tätigkeit zu tun.

Otto arbeitete nicht mehr in der Möbelfabrik. Im neuen Konzept des Juniorchefs waren keine Entschuldigungen vorgesehen, und die Fabrik musste bald darauf konkurrenzlos schließen. Obwohl es Otto dem Juniorchef gönnte, war er beleidigt.

Eine Arbeit außerhalb seines Dorfes anzunehmen, mutete ihm nicht einmal Hanna zu. Sich in einer Bahn oder in einem Bus anderen Menschen auszuliefern, diesen Albtraum konnte sich Otto nicht einmal vorstellen. Dieses Bild existierte nicht in seiner Welt.

Zum Glück gab es am Ort noch eine Farbenfabrik. Und die Firma suchte Leute. Keine Spezialisten, keine jungen Männer, die Karriere machen wollten, und auch keine Schönlinge, die sich vor Schmutz fürchteten. Die Fabrik war für ihn in fünf Minuten mit dem alten, rostigen Fahrrad zu erreichen. Und sie eröffnete ihm ein neues Sammelfeld.

Zu seiner Tätigkeit gehörte es, abends die Farbmischer zu reinigen. Dabei fielen immer Farbreste an, die entsorgt werden mussten. Otto sammelte sie in alten, leeren Farbeimern und nahm sie mit nach Hause. Die Firma hatte nichts dagegen. Der schweigsame Arbeiter nahm ihr ein Entsorgungsproblem ab. Am Anfang fragte sich der Vorarbeiter, für was Otto die verschiedenen Farbreste verwendete. Hundertwasser war ja schwer im Kommen. Als er zufällig Ottos Haus gesehen hatte, verwarf er diesen Gedanken wieder. Ein halbes Jahr später hätte er sich gewundert, wenn Otto ohne Farbeimer am Lenkrad vom Fabrikgelände gefahren wäre.

Da der Schuppen mit seiner Aufnahmefähigkeit an die Grenze gelangt war, lagerte Otto die Eimer im Keller. Er stapelte sie sorgfältig neben dem alten Küchenschrank, in welchem Hanna ihr eingemachtes Obst aufbewahrte. Sie selbst machte nie ein Glas davon auf, obwohl hier Vorräte von über zwanzig Jahren lagerten. Am liebsten machte sie Äpfel, Birnen, Kirschen und Spargel ein. Spargel waren ihre Spezialität.

Otto und Hanna besaßen drei Spargeläcker, die jährlich für sechs Wochen gestochen werden mussten. Ein befreundeter Bauer pflügte ihnen mit seinem Pferd die Äcker und errichtete die Dämme. Die Spargel mussten nur noch von ihnen geerntet werden. Hanna freute sich auf die Spargelzeit. Bedeutete es doch, dass sie nach der Arbeit im Geschäft nicht zu kochen brauchte, weil sie mit Otto auf den Spargelacker musste.

Klara hatte klare Anweisungen, welche Arbeiten zu erledigen waren. Außerdem war Klara dafür verantwortlich, dass Inge ihre Schularbeiten gemacht hatte, wenn Hanna mit ihrem Mann vom Acker zurückkam.

Da Inges Verstand mit Zahlen nichts anfangen konnte und sie sofort zu weinen anfing, wenn sie das Rechenbuch aufschlagen musste, hatte Otto ein Verfahren eingeführt, das auch Klara half und für alle das Leben erträglicher machte. Er schrieb die Lösungen für Inges Rechenaufgaben selbst ins Heft und Inge bewunderte ihn dafür. Sie zahlte es ihm mit grenzenloser Hingabe zurück.

Inge war ein seltsames Kind. Alleine konnte sie nichts mit sich anfangen, unter anderen Kindern fühlte sie sich allein gelassen. Sie hatte Angst vor der Welt außerhalb ihres Elternhauses und beschloss, auch keinen Arzt aufzusuchen und sich nie die Zähne zu putzen. Das war die Garantie, nie krank zu werden. Sie hatte Angst vor den Ärzten und Angst vor Uniformen. Otto las in ihrer Seele wie in einem offenen Buch. Wenn er ihre Rechenaufgaben löste, hörte das Kribbeln in seinen Beinen auf.

Jeder Acker bestand aus drei langen zu Dämmen aufgeschichteten Spargelreihen. Es war eine sehr mühsame Arbeit, den Spargel auszugraben, abzustechen und das Loch wieder sorgfältig zu schließen.

Hanna grub den Spargel bis zur Hälfte auf, stach mit dem Stecher in den weichen Boden darunter, zog den Spargel heraus und legte ihn in einen Korb, dessen Boden kleine Löcher aufwies, durch das die schnell trocknende Resterde am Spargel herausfallen konnte. Mit einer Schippe – genannt „Schpargelbatscher“ –schloss sie das Loch, glättete grob die Oberfläche und suchte den Damm nach dem nächsten Spargel ab.

Wenn man den Spargel schnell ausgrub oder nicht sorgfältig abstach, konnte es leicht geschehen, dass der Spargel kurz unterhalb der Kopfhöhe abbrach. Ärgerlich zwar, aber man konnte ihn ja noch für eine eigene Mahlzeit verwenden. Sonntags kochte Hanna sechs Wochen lang Pfannkuchen mit Spargelgemüse.

Otto grub jeden Spargel sehr langsam aus. Dabei fühlte er dessen Umgebung vorsichtig mit den Fingern ab, um nachwachsende Spargel nicht zu verletzen. Wo ein Spargel durch eine leichte Wölbung an der Dammoberseite seinen Standort anzeigte, wuchsen meist noch andere nach. Er grub sich grundsätzlich bis zur Wurzel des Spargels nach unten, um beim Abstechen keinen Nachbarspargel zu beschädigen. Vorsichtig handhabte er den Stecher und legte den Spargel sorgfältig in den Korb, nachdem er ihn vom Sand befreit hatte. Anschließend schloss er das Loch und glättete so lange die Oberfläche, bis sie wie unberührt aussah. Dann vergewisserte er sich nochmals, dass er keinen Spargel in der Nachbarschaft vergessen hatte und wischte sich den Schweiß mit einem kleinen Handtuch, das er immer in der Jackentasche mitführte, sorgfältig vom Gesicht. Anschließend ging er drei Schritte zurück, um sicher zu sein, dass er keinen Spargel übersehen hatte, ehe er sich wieder nach vorn bewegte.

 

Wenn Hanna zwei Reihen gestochen hatte, half sie Otto, mit der dritten fertig zu werden. Dann verluden sie die gefüllten Körbe in den alten DKW, dessen wichtigste Aufgabe in seinem Erdendasein war, von Spargelacker zu Spargelacker zu fahren. Er tat dies zuverlässig und ohne innere Regung. Wenn er hätte sprechen können, hätte er Otto gefragt, warum er vor jeder Fahrt drei Mal den Ölstand kontrollierte, das Batteriewasser, das Licht und die Hupe überprüfte, eine riesige Kiste mit Ersatzteilen mitführte und täglich Kühlwasser nachgoss, obwohl nur ein Schnapsglas voll fehlte.

Das Geld, das Otto und Hanna mit dem Spargelanbau verdienten, brachte Otto zur Sparkasse. Der örtliche Mitarbeiter der Sparkasse hatte ihm geraten, das Geld krisensicher auf ein Sparbuch zu legen. Damit sei es kurzzeitig verfügbar, wenn es mal wieder zu einem Krieg kommen würde. Das Argument hatte Otto überzeugt. Er vertraute dem Mitarbeiter der Kasse mehr als jedem anderen Menschen in seiner Umgebung. Als dieser kein Problem sah, Ottos Namen für ein Bankkonto herzugeben, um für einen Verwandten die Möglichkeit zu schaffen, ein weiteres vom Staat gefördertes Sparprogramm in Anspruch nehmen zu können, hatte Otto auch keine Probleme damit. Vielleicht konnte man damit einen Krieg verhindern.

Hanna sonderte die abgebrochenen und dünnen Spargel aus, schälte sie, legte sie mit Gurkenessig in Gläser ein und verschenkte sie an die Nachbarschaft. Einige stellte sie zu den anderen Gläsern in den Schrank im Keller. Jeder konnte auch in dem trüben Licht des Kellers sehen, dass sie eine gute Mutter war.

Hanna sagte nichts, wenn Otto seine Beine bürstete und mit Schleifpapier bearbeitete. Ohne Worte zu verlieren, wechselten sie die Schlafstätten. Otto schlief jetzt auf der Couch, und sie legte sich ins Schlafzimmer. Als Frührentner war er nicht mehr gezwungen, das Haus zu verlassen. Der Krieg fand nur noch im Wohnzimmer statt.

Die Spargeläcker wurden verpachtet, und Hanna tauschte gekauften Wein, Cognac, Sekt und Schnaps gegen Spargel ein, den sie dann einmachte und in den Keller stellte.

Früher hatte Otto selten Alkohol getrunken. Zum Essen mal ein Bier oder eine Weinschorle. Jetzt benötigte er tagsüber eine Flasche Schnaps, um gegen das Flakfeuer in seinen Beinen anzukämpfen.

Die Tabletten, die Hanna auf Empfehlung von Gesundheitsratgebern aus den Zeitschriften beim Apotheker holen musste, wurden immer bunter und immer mehr. Der Apotheker machte sich jetzt ernsthaft Sorgen und gab ihr mehrere Probepackungen neuer Medikamente gratis mit. Otto schluckte sie in der Erwartung, dass das Sperrfeuer über Kreta mit einem Schlag aufhören würde. Doch weder die Mischung aus Wein und Schnaps noch das Geheimrezept der beiden Jungfrauen von gegenüber erzielten die gewünschte Wirkung. Otto spürte, dass die Schlacht in die entscheidende Phase ging. Doch er sagte nichts. Er hatte Angst und vernichtete seine Zigaretten. Hanna saß in der Küche und machte ein. Sie hatte auch Angst. Doch sie war nicht in der Lage, etwas daran zu ändern.

Als sie Otto irgendwann mal den rechten Socken auszog, weil er glaubte, das Schicksal habe sich zu seinen Gunsten gewendet, da er in seinem kleinen Zeh keine Schmerzen mehr verspürte, ahnte sie plötzlich das Ausmaß des Kriegsschauplatzes. Der kleine Zeh war gefallen und begraben. Es gab ihn nicht mehr.

Unfähig, sich Otto zu einem Zweikampf zu stellen, suchte Hanna nach Verbündeten. Sie hatte ja das Kämpfen inzwischen verlernt. Zwischen ihnen hatte ein permanenter Nichtangriffspakt geherrscht, um ein Leben in einem Haus zu ermöglichen, über das sich langsam ein Grabhügel türmte. Plötzlich erkannte sie die Gefahr, alleine in diesem Grab weiterleben zu müssen. Geschockt von dieser Vorstellung, wandte sie sich an Klara und bat diese um Hilfe. Otto musste ins Krankenhaus. Und das bedeutete Krieg.

5

Das Lazarett, in das sie Otto brachten, lag zwanzig Kilometer hinter der Front. Otto hatte nur kurz einen Schmerz in seiner rechten Brust gespürt und verwundert zum Himmel gesehen, als erwarte er von dort die Antwort auf seine Frage: „Warum?“ Plötzlich hatte er das Gefühl, als liefe er und käme doch nicht von der Stelle.

Otto war nicht auf die Welt gekommen, um Krieg zu führen. Gewalt war etwas, was er nicht einmal fühlen konnte. Gewalt anzuwenden war für ihn so unmöglich wie zwei und zwei fünf sein konnte. Er war mathematisch nicht begabt, aber das wusste er.

Als die Propaganda von ihm verlangte, in den Krieg zu ziehen, weil er für den Endsieg dringend benötigt werde, hatte er damit nicht die Anwendung von Gewalt verbunden. Er hatte überhaupt keine Vorstellung vom Krieg.

Was hatte er mit Krieg zu tun? Er war neunzehn Jahre alt und hatte sein Dorf nie verlassen. Im Dorf gab es keinen Krieg. Es gab ein paar Leute, die „Heil Hitler“ riefen. Aber das waren bekannte Männer aus dem Dorf. Diesen traute er keine Gewalt zu.

Er meldete sich zu den Fallschirmjägern, weil er glaubte, im Flugzeug sei man vor dem Krieg sicher. Der Krieg war für ihn etwas, was sich im Dunkeln auf dem Boden in irgendeinem Hinterhof abspielte. Mit einem Flugzeug konnte man einfach darüber hinwegfliegen. Wenn man hoch genug flog, sah und hörte man nichts vom Krieg.

Otto sah noch wie sein bester und einziger Freund neben ihm blutüberströmt zusammenbrach, dann wurde er ohnmächtig. Es war das letzte Mal, dass er Hans gesehen hatte.

Hans hatte ihn immer wieder davon zu überzeugen versucht, dass nach dem Krieg alles besser werden würde und dass es sich lohnte, dafür zu kämpfen. Otto fragte sich, ob durch Krieg irgendetwas besser werden würde. Ein tief verwurzelter Instinkt sagte ihm, dass das nicht möglich sein konnte. Kein Krieg führte zu einem besseren Leben. Weil Hans aber so überzeugt davon war, wollte es Otto schließlich auch glauben.

Außerdem stand es in allen Zeitungen, die er zu lesen bekam. Und der Führer versprach den Endsieg. Otto war verwirrt. War der Sieg das Ende oder gab es am Ende einen Sieg? Sieg für was und für wen? Und warum musste man einen Krieg führen um zu siegen?

Da er niemanden danach fragen wollte, glaubte er den Zeitungen. Zeitungen wurden von wichtigen Leuten gemacht. Was darin stand, musste wahr sein. Zeitungen halfen ihm, informiert weiterzuleben.

In dem Augenblick als er ohnmächtig wurde, geschah etwas, womit er gerade jetzt nicht gerechnet hatte. Er flog dem Krieg davon. Er flog immer weiter nach oben. Er flog ohne Flugzeug und ohne Angst. Und er hatte nie das Gefühl, dass ihn der Krieg wieder nach unten ziehen könne. Er war frei.

Er war frei von seinem schmerzgeplagten Körper, frei vom Leben. Otto fühlte sich sprichwörtlich vom Leben befreit. Es war ein Gefühl, in das er sich hineinversinken ließ, und er beschloss spontan, künftig ohne Leben zu leben.

Plötzlich befand er sich in einem Haus, das nicht verputzt war und keinen festen Boden hatte. Vor ihm stand ein Mann, ungefähr so alt wie er, ungefähr so groß wie er, ungefähr so aussehend wie er, ungefähr so fühlend wie er. Ja, Otto konnte denken, was der andere dachte. Der andere war er.

Komisch! Er erschrak gar nicht darüber. Im Gegenteil! Er war froh, jemanden gefunden zu haben, der empfand wie er, der ihn liebte. Zum erstem Mal in seinem verlorenen Leben traf er einen Menschen, vor dem er keine Angst zu haben brauchte. Otto tat etwas, was er noch nie getan hatte. Er umarmte sich und weinte. Und als er ausgeweint hatte, hatte er alle Liebe in sich verloren.

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