Das Erbe von Samara und New York

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Das Erbe von Samara und New York
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Eriksson

Das Erbe von Samara und New York


Erik Eriksson

Das Erbe von Samara und New York

Meine Familiengeschichte

Übersetzt aus dem Schwedischen

von Else Ebel


© 2013 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Originaltitel: Vårt hjärta dog i New York

Satz: Henrike Knopp

Umschlag: Lena Hericks

unter Verwendung von Fotos von vlad_g/fotolia.com, Rhoberazzi/istockphoto.com und Sean Gladwell/fotolia.com Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-944369-09-9

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Hedvig, die Mutter meines Vaters

Es gibt mehr Sterne, als ich je gesehen habe

Der Entschluss zu reisen, ohne jemandem etwas zu sagen

Vielleicht hatte Hedvig gerade an diesem Nachmittag ihren Entschluss gefasst. Sie hatte lange darüber nachgedacht, sich gefragt, wie es sein würde. Ob es wirklich so etwas Besonderes sein könne. Aber es waren meistens Träumereien gewesen.

Sie ging über den Steg unten am Rande des Feldes, sie sah die Umrisse der Hütte, die Apfelbäume standen in Blüte, es war Anfang Juni. Sie hatte auf dem Rückweg von Södra Gården Schwalben gesehen, es war gegen neun Uhr abends.

An all das dachte sie später, als sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie es früher gewesen war.

An jenem Morgen hatte sie den Brief ihrer Tante Clara gelesen. Darin stand, dass die jungen Leute herüberkommen und ihr Glück versuchen sollten; diejenigen, die arbeiten wollten und kräftig genug waren, würden ihren Weg schon machen. Es gab genug Arbeit, gute Verdienstmöglichkeiten, wohnen konnte man in der ersten Zeit bei Clara. Sie habe eine eigene Bäckerei eröffnet, die Geschäfte liefen ausgezeichnet. Das schrieb sie. Ja, sie betonte, dass es ihr außerordentlich gut gehe.

Als Hedvig fünf Jahre alt war, war Clara nach Kanada gefahren; jetzt war Hedvig vierzehn. Die Tante hatte also neun Jahre gebraucht, um in Amerika Erfolg zu haben. Es handelte sich zwar um Kanada, um die Stadt Montreal, in der Clara ihre Bäckerei eröffnet hatte, wenn Hedvig jedoch an die Größe und Weite dort drüben dachte, dann war es Amerika.

Als Hedvig auf den Hof zurückkam, vor die Kate, hatte sie sich wohl entschlossen. Das glaubte sie jedenfalls, ja sie hatte sich entschlossen. Aber sie sagte nichts. Weder zu ihrer Mutter noch zu ihrer Zwillingsschwester Hulda. Die beiden teilten sich das niedrige Dachstübchen der Kate. Die übrigen fünf Geschwister lebten zusammen mit den Eltern unten in der Küche und im Wohnzimmer. Der ältere Bruder Carl war ebenfalls ausgewandert, im April war er weggefahren. Ein Brief war gekommen, aber Carl hatte nicht sehr viel geschrieben, nur dass es ihm gut gehe und dass er gesund sei. Der Brief war in Boston abgeschickt worden. Hedvig wusste nicht, wo dieser Ort lag.

Hedvigs Zuhause, eine rote Kate, befand sich in der Nähe eines Gehölzes im Dorf Råberga in der Gemeinde Täby in Närke. Auf der einen Seite des Gehölzes breitete sich die Ebene aus. In der anderen Richtung lag der Hof Södra Gården, zu dem das Land im gesamten Umkreis gehörte, auch die Hütte, in der Hedvig lebte. Sie arbeitete in diesem Sommer auf dem großen Hof.

Hedvig Eriksson hatte braune Augen, ausgeprägte Wangenknochen, dunkles Haar. Sie war klein und zartgliedrig, aber ungewöhnlich kräftig für ihr Alter. Vor allem verfügte sie über eine erstaunliche Ausdauer. Sie stand jeden Morgen um fünf Uhr auf, außer an den Sonntagen. Sie ging zu dem großen Hof hinüber, nahm etwas zu essen mit, und ihre Arbeit bestand darin, Unkraut zu jäten, Hackfrüchte zu lesen, manchmal blieb sie auch abends einige Stunden länger, um bei den Knechten sauber zu machen.

Etwas von ihrem Verdienst lieferte sie zuhause ab. Den Rest verwahrte sie in einer Blechdose unter einem losen Brett in einer Ecke des Dachbodens. Manchmal stieß Hedvig mit dem Fuß leicht gegen das Brett und horchte auf das schwache Knarren, das dadurch entstand. Dieses Geräusch würde sie niemals vergessen. Es gehörte auf eine eigenartige Weise zu einem Gefühl von Sehnsucht. Und jetzt wusste sie, wonach sie sich sehnte.

Im Sommer 1889 las Hedvig immer wieder die Briefe aus Amerika. Vielleicht könnte auch sie ihr Glück dort drüben finden? Sie hoffte es. Und abends, wenn sie mit geschlossenen Augen im Bett lag und noch nicht einschlafen konnte, sah sie seltsame Bilder, ein Blumenmeer, wogende Gärten mit bunten Früchten, Gesichter, Muster, die sich veränderten, auflösten, mit dem Himmel und dem Meer zusammenflossen. Hedvig fragte Hulda einmal, ob sie auch Bilder sehe, ehe der Schlaf kam. Hulda verstand sie nicht. Hedvig fragte niemanden mehr. Aber ihr ganzes Leben lang sollte sie Bilder sehen, ehe sie einschlief. In diesem Sommer und Herbst glaubte Hedvig, dass die Bilder aus Amerika kamen. Sie war schon unterwegs.

Es würde jedoch noch einige Jahre dauern. Auch das wusste Hedvig. Im November hatte sie vier Kronen und zwanzig Öre zusammengespart.

Der Winter kam zeitig. Im Januar wurde ihr Vater krank.

Noch wird es einige Jahre dauern

Es schneite den ganzen Januar über. Die Schneewehen türmten sich an der Nordseite der Kate, deckten das kleine Fenster zu. Hedvigs Vater war einige Male draußen gewesen, um den Schnee wegzuschaufeln, aber er hatte es nicht geschafft, alles frei zu bekommen. Er war bleich, kam in die Küche, um sich auszuruhen, und blieb dort sitzen. Hedvig und Hulda übernahmen die Arbeit und wechselten sich mit der Holzschaufel ab.

Der Vater der Mädchen hieß Erik Larsson. Er war groß und blond, der Bart ging ins Rötliche über, das Haar begann grau zu werden. Erik war Kätner und Zimmermann. Als Pacht für die Kate fällte er Holz für das Gut Södra Gården, beteiligte sich am Zurechtschneiden von Brettern und Bauholz. Für sich selbst nutzte er einige kleine Ackerstücke zwischen dem Weg und dem Moor. Dort war der Boden schlecht, fast nur Sumpfland, er hatte versucht, Entwässerungsgräben anzulegen, aber das Wasser wollte nicht abfließen.

Erik Larsson war, als er krank wurde, gerade fünfzig Jahre alt. Es begann mit Schmerzen in der Seite, Husten, dann kam der Schwindel. Er arbeitete, solange es ging, er glaubte, die Krankheit würde sich geben. Er hatte einige Male Blut gespuckt, jedoch nichts gesagt. Er wollte seine Frau nicht beunruhigen, die Mutter der Mädchen, Matilda Nilsdotter. Sie redeten nicht gerne über Dinge, die beunruhigen konnten.

Matilda war klein und dunkel. In ihrer Familie gab es wallonische Schmiede, die vor langer Zeit eingewandert waren. Jetzt arbeiteten deren Nachkommen in Fabriken und Werkstätten. Sie waren häufig kleinwüchsig und dunkelhaarig, hatten hohe Wangenknochen, die Augen waren braun und lagen etwas tiefer in den Höhlen.

Matilda war ein schwedisches Wallonenmädchen. Hedvig hatte das Aussehen ihrer Mutter geerbt. Die beiden waren einander sehr ähnlich. Auch vom Naturell her glich Hedvig ihrer Mutter. Keine der beiden redete viel, aber sie lasen alles nur Erreichbare. Wenn nötig, waren sie scharfzüngig. Und beide hatten mit der Zeit gelernt, sich durchzusetzen. Sie waren stolz geworden und stark und manchmal unnahbar.

Hedvig hatte Achtung vor ihrer Mutter, sie sah ja, dass sie einander ähnelten, und hörte, dass auch andere dies hervorhoben. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass sie sich von ihrer Mutter zurückzog. Hedvig war der Meinung, dass die Schwestern besser dran waren. Sie waren blond, sommersprossig, kamen auf den Vater. Sogar die Zwillingsschwester Hulda war blond.

Fühlte sich Hedvig von ihren Geschwistern ausgeschlossen, wurde sie von ihren Schulkameraden als anders angesehen? Auf jeden Fall wurde sie sehr früh selbständig, lernte auch, Abstand zu halten von allem Gefühlsmäßigen, von aller Hätschelei.

Als Erik Larsson krank wurde, redete man zuhause nicht darüber. Die Kinder hatten es auch so verstanden. Sie hatten die Eltern niemals über Probleme reden hören. Aber sie hatten begriffen, dass etwas Ernstes bevorstand.

Einmal fragte der jüngste Bruder Gustaf, ob Hedvig glaube, dass der Vater sterben müsse.

»Was redest du da«, antwortete Hedvig, »woher hast du das denn?«

»Ich habe gesehen, dass er zu Gott gebetet hat«, erwiderte Gustaf.

»Davon kann man wohl nicht sterben.«

»Sonst betet er doch nie.«

»Was meinst du denn?«

»Er hat zu Gott gebetet, als Großvater gestorben ist.«

»Großvater war alt.«

»Sofia ist doch gestorben, als sie erst einen Monat alt war.«

»Ja, aber Papa wird nicht sterben.«

Gustaf war sechs Jahre alt. Es war das einzige Mal, dass Hedvig mit jemandem über die Krankheit des Vaters sprach.

Erik Larsson versuchte, nach dem Dreikönigstag wieder arbeiten zu gehen, aber er fiel um, wurde von einigen Sägewerkarbeitern nach Hause gebracht. Es war ein kalter Tag, die jungen Männer, die den Zimmermann stützten, hatten rote Wangen, Erik war bleich.

Maria lud die Burschen ein, hereinzukommen und sich einen Moment auszuruhen, aber sie machten eine Verbeugung und sagten, dass sie zurück müssten. Sie hatten die Erlaubnis erhalten, sich von der Arbeit zu entfernen, aber sie wollten nicht, dass es hieß, sie würden die Gelegenheit wahrnehmen, um zu faulenzen.

 

Nachdem sie gegangen waren, blieb Erik auf einem Schemel in der Küche sitzen. Er hustete, Matilda fragte, ob er etwas Warmes haben wolle, sie könne etwas Suppe aufwärmen, die sie für das Mittagessen zubereitet hatte. Aber Erik lehnte ab, er wollte sich nur hinlegen, er war so schrecklich müde.

Sobald er im Bett lag, schlief er ein. Er schlief in der Küche, auf einer Bettcouch. Die Katze sprang auf das Bett und rollte sich in der Kuhle hinter Eriks angezogenen Knien zusammen.

Es war eine silbergraue Katze, sie hieß Siliam. Hedvig hatte sie so genannt. Wie sie auf diesen Namen gekommen war, wusste niemand. Hedvig hatte Phantasie, vielleicht hatte sie den Namen irgendwo gelesen. Niemand fragte sie danach. Hätte es jemand getan, so hätte Hedvig vielleicht mit den Schultern gezuckt, wie sie es zu tun pflegte, und geantwortet, das könne sie wohl nicht wissen. Vielleicht hätte sie auch gemurmelt:

»Siliam, wie Siams Lamm, wie seidener Bettstaub, dort am Ende des Weges, wohin die Sonne Strahlen sandte, wohin die Wasserkatze sich wandte.«

»Was?«

»Ach, nichts.«

»Aber du hast etwas von Siams Staub gesagt?«

»Das war nur etwas, was ich gelesen habe.«

Vielleicht hatte sie es in einer Zeitung gelesen, in der sie auf dem Gut Södra Gården hatte blättern dürfen, oder in einem Buch, das ihr die Schullehrerin geliehen hatte. Vielleicht hatte sie die Wörter und Reime auch erfunden. Es ging ihr hier vielleicht genauso wie mit den seltsamen Bildern, die sie vor dem Einschlafen sah.

Sie kamen einfach zu ihr.

Ende Februar wurde das Wetter etwas milder. Gleichzeitig fühlte sich Erik Larsson ein wenig besser. Er war aufgestanden, saß mit am Tisch und aß, hustete nicht mehr ganz so lange und anhaltend. Vielleicht ließ die Krankheit nach?

Hedvig hatte gehört, dass man in einer Fabrik in Eskilstuna Arbeiter suchte. Ein Vorarbeiter auf dem Hof Södra Gården hatte in der Pause laut vorgelesen: »Geschickte Arbeiter und Arbeiterinnen können für kürzere oder längere Dauer eingestellt werden bei Hadar Hallströms Messerfabrik AG.«

Am Abend redete Hedvig mit Hulda. Sie sollten sich vielleicht in Eskilstuna bewerben, sie konnten sicher bei dem jüngsten Bruder ihres Vaters wohnen, der dort am Rande der Stadt eine Kate hatte. Direkt neben der Kate standen eine Scheune und Ställe, dort konnten sie sicher vorübergehend unterkommen.

»Können wir Mutter mit den Kleinen allein lassen?«, überlegte Hulda.

»Vater geht es jetzt besser«, antwortete Hedvig, »wir können Ende des Sommers zurückkommen und mithelfen, wenn es nötig sein sollte.«

»Ja, Vater wird sicher bald wieder arbeiten können.«

»Wir reden morgen mit Mutter.«

Es war ihre Mutter Matilda, die zuhause das Sagen hatte, sie mussten die Mädchen um Erlaubnis fragen. Auch als der Vater noch gesund gewesen war, hatten sie nichts Wichtiges unternehmen können, ohne vorher Matilda zu fragen.

Es war Hedvig, die fragte.

Matilda antwortete nicht, sie nickte nur, so wie sie es immer tat, wenn sie über etwas nachdenken wollte. Es bedeutete, dass sie es gehört und verstanden hatte und dass bald ein Bescheid kommen würde.

Am nächsten Tag sprach Matilda mit den Mädchen. Sie konnten fahren, sie sollten selbst für ihre Unterkunft sorgen, sie waren ja jetzt fünfzehn Jahre alt.

Sie warteten, die Kälte hielt sich bis in den März hinein. Der Frühling brach auch in diesem Jahr plötzlich herein. Anfang April begann es zu tauen, das Eis brach zu Ostern auf. Da verließen Hedvig und Hulda ihr Elternhaus. Sie gaben Vater und Mutter die Hand, machten einen Knicks und sagten Auf Wiedersehen. Der jüngste Bruder Oskar Natanael war drei Monate alt. Hedvig streichelte ihm die Wange, ehe sie ging. Dies war der einzige Ausbruch von Zärtlichkeit, der beim Abschied vorkam.

Die Schwestern gingen zu Fuß nach Örebro, blieben über Nacht bei Verwandten. Am nächsten Tag machten sie sich wieder auf die achtzig Kilometer lange Wanderung nach Eskilstuna. Sie schafften es bis Arboga, suchten Unterschlupf in einer Scheune, saßen dort zusammengekauert und froren die ganze Nacht, schliefen ein, erwachten von der Kälte, gingen weiter, ehe es richtig hell wurde.

Hedvig und Hulda wurden in der Messerfabrik angestellt. Ihre Arbeit begann an einem Montag. Sie schliffen Scheren von sieben Uhr früh bis sechs Uhr abends. Ihr Tagesverdienst überstieg selten fünfzig Öre.

Die Mädchen standen nebeneinander an der langen Arbeitsbank, wo Schleifscheiben mit Hilfe von Lederriemen von einer mächtigen rotierenden Welle angetrieben wurden. Man konnte sich nicht unterhalten, die Funken sprühten von den Stahlscheren, der Schleifstaub machte das Atmen schwer, der Lärm war durchdringend und betäubend.

Etwas weiter entfernt an der Bank stand ein junger Bursche. Er war in Hedvigs Alter. Sie hatten einander schon einige Male gegrüßt.

Der Junge hieß Karl Gustaf Eriksson.

Er und Hedvig trugen denselben Nachnamen. Das sollte in Zukunft sowohl zu einer Verwirrung als auch zu einer Vereinfachung führen.

Sie waren immer noch Brüder und Schwestern

Der Sommer wurde feucht und warm. Nachts regnete es, am Tage schien die Sonne, die Natur nahm alles in sich auf, gab zurück wie selten zuvor. Der Saft lief aus den Birken, die Grabenränder waren voll von Walderdbeeren, die Weidenzweige berührten das Wasser an den Ufern des Eskilstuna-Flusses zwischen Entenküken und schaukelnden Schwanenfedern.

Hedvig und Hulda gingen oft am Fluss entlang, der außerhalb der Stadt an der Kate des Onkels vorbeifloss. Sie wohnten über dem Stall, er hatte ihnen geholfen, Schlafstellen auf dem Heuboden einzurichten. Sie schliefen eingerollt in ihre Decken.

Es waren diese Spaziergänge zwischen ihrem derzeitigen Zuhause und der Fabrik, die das Beste von allem waren. Es gab so viel Neues zu betrachten, Villen, in denen die Beamten wohnten, riesige Fabrikhallen, hohe Schornsteine mit qualmendem Rauch und dampfende Schmelzöfen, wo die Mädchen aus sicherer Entfernung sehen konnten, wie sich das flüssige Eisen wie zischende Schlangen im grauen Sand hervorschlängelte.

Das hier war Schwedens Schmiede. Hedvig hatte die Leute zuhause Eskilstuna so nennen hören, sie hatte ein wenig über die Geschichte der Stadt gelesen, sie wusste, wer Rademacher war, sie würde gerne mehr darüber erfahren, wenn sie nur an Bücher käme.

Eines Sonntags gingen die Mädchen zusammen mit Karl Gustaf und dessen jüngerem Bruder Fredrik, der auch begonnen hatte, in der Messerfabrik zu arbeiten, spazieren. Fredrik war erst dreizehn Jahre alt, aber er war derjenige, der am meisten redete. Er fragte, wollte wissen, wie Hedvig die Arbeit gefiel, die Menschen, denen sie begegneten, deren Kleidung. Glaubte Hedvig an Gott? Niemand hatte das bisher gefragt. Aber natürlich glaubte man wohl an Gott? War das so selbstverständlich? Hedvig wollte auf Fredriks Frage nicht antworten. Sie hatte ein wenig darüber nachgedacht, es gab so viel, was nicht stimmte. Warum ließ der gute Gott Menschen leiden, wenn er so allmächtig war? Später sollte sie lesen, dass Gelehrte diese Frage gestellt hatten, dass Gottes Existenz von anderer Seite, als sie selbst gedacht hatte, angezweifelt werden könne. Das bestärkte sie in ihrer Überzeugung, dass sie Recht hatte. Aber jetzt war sie erst fünfzehn Jahre alt und ging an einem schönen Sommerabend zusammen mit ihrer Schwester und zwei netten Jungen am Eskilstuna-Fluss spazieren.

Sie setzten sich auf den Boden, um auszuruhen. Karl Gustaf setzte sich direkt neben Hedvig. Sie spürte seine Hand im Gras. Er berührte ihre Hand ganz leicht. Als sie aufstanden, um weiterzugehen, hielt Karl Gustaf Hedvigs Hand fest. Aber er sagte nichts.

Den ganzen Sommer über hielten sie an ihren Spaziergängen fest. Meist an Sonntagen, aber auch an warmen Wochentagen. Manchmal kühlten sie ihre Füße im Fluss, ehe sie wieder weitergingen. An ihrem Weg lag ein Café, aber sie konnten es sich nicht leisten, dort einzukehren. Sie gingen vorbei, betrachteten die Paare, die dort mit ihren Kaffeetassen und ihrem Kuchen saßen, meist fein angezogene Damen und Herren, aber auch der ein oder andere Arbeiter.

Im Mai und im Juni machten sie alle vier ihre Spaziergänge gemeinsam. Im August gingen Hedvig und Karl Gustaf meist alleine.

Eines Abends legte Karl Gustaf seinen Arm um Hedvigs Schulter. Ihr gefiel es.

Ende des Monats schrieb Hedvig einen Brief nach Hause an ihre Mutter in Råberga. Sie berichtete, dass es ihr und der Schwester gut gehe, dass sie etwas besser als zuhause verdienten, dass aber trotzdem nicht viel übrig blieb, nachdem sie bei ihrem Onkel für Kost und Logis bezahlt hatten. Wie ging es der Familie? Waren alle gesund? Hatte man etwas von ihrem Bruder Carl aus Amerika gehört?

Der Brief war nicht lang geworden. Hedvig schrieb hauptsächlich aus Pflichtgefühl. Sie hatte nicht oft an ihre Familie gedacht, das Neue war so anders, füllte sie aus. Und dann dachte sie ständig an Amerika. Sie hatte eine Anzeige in einem Schaufenster gesehen. Die billigste Fahrkarte kostete fünfundsiebzig Kronen.

Wie sollte sie diese enorme Summe jemals zusammenbekommen?

Eines Abends sprach sie mit Karl Gustaf über Amerika. Hatte er nicht auch einmal daran gedacht hinüberzufahren? Hier zuhause konnte man ja nichts verdienen, man bekam gerade genug Geld für das Essen zusammen, darüber hinaus blieb nichts übrig. Aber in Amerika würde man sich genug zusammensparen können für ein Haus und eine gesicherte Zukunft.

Karl Gustaf hatte wohl auch darüber nachgedacht, aber er war nicht bereit, sich festzulegen. Wollte er denn arm bleiben, niemals irgendetwas erreichen?

»Ich weiß es noch nicht genau«, antwortete er.

»Ich selbst habe mich entschlossen«, sagte Hedvig.

»Aber da drüben kann es wohl gefährlich werden.«

»Ja, aber es kann auch richtig gut werden.«

»Ja, sicher.«

Mehr wurde nicht gesagt. Hedvig fand, dass Karl Gustaf ziemlich ängstlich war. Er war sicherlich ein guter Kamerad, ein netter und anständiger Junge. Sie mochte ihn wirklich, aber es wäre schön gewesen, wenn er auch ihre Sehnsucht nach Abenteuer verspürt hätte.

Fredrik verstand sie besser. Er konnte über die große neue Welt phantasieren. Er war neugierig auf das Unbekannte, er war mehr wie Hedvig.

Aber sie hatte sich nun einmal mit Karl Gustaf zusammengetan. Es wurde ein milder Herbst. Selten hatte man in Eskilstuna so viele Äpfel gesehen. Gärten und Wiesen waren gelb und rot von den verschiedenen Apfelsorten. Die reifen Früchte drückten die Äste nieder, lagen zuhauf auf dem Boden oder warteten darauf, gepflückt zu werden. Hedvig und Hulda aßen viele, alle schenkten ihnen Äpfel, die Preise auf dem Markt waren niedrig wie selten zuvor. Aber warum sollte man kaufen, wenn man sie umsonst bekommen konnte? Im Oktober regnete es häufig, aber das milde Wetter hielt an. Die Leute hatten fast vergessen, was Kälte bedeutete. Das war der Apfelherbst nach dem warmen Sommer.

Hedvig erhielt einen Brief von zuhause. Er war kurz. Ihre Mutter berichtete, dass Carl geschrieben habe, aber sie schrieb nichts darüber, was in seinem Brief stand. Sie schrieb auch nichts über Vaters Krankheit.

Hedvig dachte, dass das vielleicht bedeuten könne, dass es dem Vater besser ging. Sie wusste jedoch auch, dass es das Gegenteil bedeuten konnte.

»Wenn wir nur Geld hätten, könnten wir ihnen etwas schicken«, sagte Hedvig.

»Wie schickt man Geld?«, fragte Hulda.

»Im Brief, glaube ich.«

»Aber wenn es unterwegs wegkommt?«

»Wir haben ja doch nichts, was wir schicken könnten.«

»Aber wenn wir es hätten.«

Sie redeten nicht über die Krankheit ihres Vaters. Sie waren beunruhigt, wollten jedoch nichts sagen. Sie sprachen stattdessen darüber, dass sie Geld schicken könnten, Geld, das sie nicht besaßen.

In der ersten Novemberwoche schrieb Hedvig ihrem Bruder nach Boston. Sie berichtete, dass sie in Eskilstuna arbeite und dass sie sich nun entschlossen habe, nach Amerika zu fahren. Wenn sie mehr Geld zusammengespart habe, würde sie es ihren Bruder wissen lassen. Sie bat ihn, die Angelegenheit ihren Eltern gegenüber nicht zu erwähnen, wenn er schrieb. Sie wollte es ihnen selbst sagen. Als sie den Brief abgeschickt hatte, erzählte sie es Hulda.

»Ich fahre, sobald ich kann«, sagte sie, »aber das kann noch lange dauern, ich habe ja das Geld für die Fahrkarte nicht.«

 

»Bist du sicher, dass du das Richtige tust?«

»Ich werde es nicht bereuen, wie immer es auch ausgehen mag.«

»Wie kannst du so sicher sein?«

»Es ist in mir gereift, jetzt weiß ich, dass es gehen wird, das ist wie eine große Gewissheit.«

»Hast du das Karl Gustaf erzählt?«

»Nein, noch nicht, aber ich werde es ihm sagen.«

»Glaubst du, dass er mitkommen will?«

»Ich hoffe es, aber er muss diesen Entschluss selbst fassen.«

Karl Gustaf wurde an einem Sonntag sechzehn Jahre alt. Hedvig hatte eine hübsche Karte mit einem bunten Blumenboot gekauft. Sie schrieb einen Glückwunsch auf die Rückseite, band eine rote Schleife um die Karte und überreichte sie Karl Gustaf, als sie wie üblich an diesem Sonntagnachmittag spazieren gingen. Weil es ein Festtag war, gingen sie in das Café, tranken Kaffee und aßen je ein Stück Zuckerkuchen. Sie hielten einander unter dem Tisch an den Händen. Danach gingen sie noch ein Stück am Fluss entlang, wo die Weiden vor Feuchtigkeit trieften und kahl dastanden. Hedvig erzählte von ihren Amerikaplänen. Karl Gustaf sagte, er wolle noch warten, bis er sich endgültig entschließen könne.

»Aber ich möchte, dass wir uns als verlobt betrachten«, sagte er.

Sie standen ganz dicht beieinander, blickten einander in die Augen, ohne zunächst etwas zu sagen.

»Als Verlobte?«, fragte Hedvig.

»Ja, dass wir zusammengehören.«

»Das möchte ich gerne.«

Karl Gustaf ergriff wieder Hedvigs Hand. Sie gingen schweigend weiter.