Loe raamatut: «Emma Roth und die fremde Hand»
ERIKA URBAN
INHALT
Cover
Titel
Prolog auf dem Brunnenmarkt
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Einen Monat später
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Impressum
PROLOG AUF DEM BRUNNENMARKT
Die Sonnenstrahlen stachen wie Dolchstöße auf die Köpfe der hechelnden, überstressten Menschen ein, die sich an diesem glühend heißen Samstagmorgen im August über den überfüllten Brunnenmarkt schoben, stets eingezwängt zwischen schwitzenden, stinkenden Körpern, die sich aneinander rieben und stießen wie in einem bizarren Liebesakt. Es sollte einer der heißesten Tage dieses Sommers werden, hatte morgens eine gut gelaunte Radiostimme verkündet und auf die zahlreichen Freibäder verwiesen.
Carla Wolf strich sich eine feuchte blonde Strähne aus dem Gesicht und rempelte eine ältere Dame an, die im Weg stand. Gerne wäre sie jetzt an der Donau gesessen, die akkurat pedikürten Füße ins Wasser gestreckt und einen Cocktail in der Hand haltend. Alles wäre besser, als über diesen grauenhaften Markt zu hetzen. Sie war definitiv die falsche Frau für diesen Ort. Bei Meinl Südfrüchte kaufen, im Sacher Pralinen verkosten oder sogar am Naschmarkt ein Gläschen Weißen zu einem halben Dutzend Austern genießen – das war ihre Welt. Nicht dieser stinkende Bazar in Ottakring mit all seinen abgeschabten Ständen und den aufdringlichen Marktschreiern, wo man alle naselang auf alten Tomaten ausrutschte oder den Blicken irgendwelcher vulgären Männer ausgesetzt war. Wahrscheinlich hatte Peter ihr genau deshalb den Brunnenmarkt im 16. Bezirk als Treffpunkt vorgeschlagen: um sie zu ärgern, zu demütigen. Bereits zwei Jahre lag die Scheidung von Peter Lehmann nun zurück und immer noch setzte er alles daran, sie zu beleidigen, ihre Würde zu verletzen. Nur weil er selber ein Verlierer auf ganzer Linie war.
Marie zerrte an ihrer Hand. „Wann sind wir endlich beim Papa?“
Carla Wolf bedachte ihre Tochter mit einem entnervten Blick. Maries feuchte Hand umklammerte die ihre. Die Kleine quengelte. Sie hatte Durst. Es war zu heiß. Sie wollte nach Hause. Warum konnte der kleine Quälgeist nicht einfach still sein? Die ganze Situation war unangenehm genug. Gereizt herrschte sie ihre Tochter an, endlich zu schweigen, und schlängelte sich weiter durch die Menschenmassen. Bald hätten sie es geschafft. „Mama, schau mal. Schau doch mal!“, sagte Marie plötzlich. Carla verspürte ein Ziehen an ihrer Hand. Unwirsch zog sie die Kleine näher zu sich, blickte sie kurz strafend an, ohne dabei mit den Augen dem ausgestreckten feingliedrigen Zeigefinger zu folgen, und konzentrierte sich dann wieder auf den Weg.
„Aber, Mama, schau doch nur, da vorne“, vernahm sie wieder die zarte Stimme.
Ihre Hand war schweißnass. Für einen kurzen Moment ließ sie los und wischte sie sich an ihrem weißen Leinenkostüm ab. Dann ergriff sie schnell wieder die Kinderhand und zog sie weiter die schier endlos lange Straße entlang. Endlich teilte sich der Menschenstrom, in dem sie die ganze Zeit mitgeschwommen waren. Sie hatten die Kreuzung erreicht. Ein frischer Lufthauch kam von irgendwoher und sie sog ihn gierig ein. Ihre Hand, die immer noch Maries fest umfasst hielt, lockerte sich.
Mit einem Seufzer sagte Carla Wolf: „So, Marie, jetzt sind wir gleich beim Papa“, wandte sich ihrer Tochter zu und erstarrte. Die kleine Mädchenhand, die sie hielt, war braun und irgendwie fleckig verdreckt. Das dazugehörige Kind hatte große dunkle Augen und schwarze, verfilzte Locken. Sein Gesicht war so dunkel und verschmutzt wie seine Hände. Als es grinste, entblößte es eine Reihe brauner Zähne, die unter den trockenen, rissigen Lippen schief hervorstanden. Carla Wolf starrte das fremde Kind fassungslos an. Das war nicht Marie.
Ihre Marie war blond, zart und vor allem sauber, trug ein rosa kariertes Sommerkleidchen sowie helle Sandalen. Ihre Marie hatte weiße, gerade Milchzähnchen und kleine braune Sommersprossen um ihr blasses Näschen. Genau das waren Carla Wolfs Gedanken in dem Moment, als das Kind sich losriss, sich umdrehte und wegrannte. Nur Sekunden vergingen, dann hatten es die Menschenmassen verschluckt.
Entgeistert starrte Carla auf ihre Hand. Ein Schrei formte sich in ihrer Kehle, drang nach oben und entlud sich schließlich mit aller Kraft über den Brunnenmarkt.
SEIT 48 STUNDEN VERMISST
Emma Roth saß auf ihrem Klo und drückte so stark, dass ihr Gesicht rot anlief. Die Oberschenkel rutschten über die glatte Keramikoberfläche der WC-Brille. Die Waden drückte sie gegen die kühle Kloschüssel, auf der sie in gekrümmter, mitleiderregender Haltung hockte.
Ja, sie hatte gestern wieder übertrieben. Es hatte so harmlos angefangen. Ein kleiner Absacker nach einer anstrengenden Wochenendschicht. Allein versteht sich, denn mit ihren Kollegen verband sie wenig – und vor allem nicht die Lust an hochprozentigen Getränken, französischen Zigaretten und dunklen Bars. Dann war da dieser Kerl gewesen, Mitte vierzig, Typ Banker, aber ganz attraktiv. Zusammen waren sie in einer düsteren Kneipe gelandet, wo sie sich völlig in Zeit und Raum verloren hatten. Der Rest war Dunkelheit.
Mit einem unterdrückten Grunzen spürte sie, wie ihr Darm sich bereit machte, alle Sünden der letzten Nacht hinauszuspülen. Gleichzeitig stieg ihr ein bitterer Schuss Magenflüssigkeit nach oben und überschwemmte die Mundhöhle wie ein Tsunami. Jetzt meldeten sich beide Organe gleichzeitig zu Wort, tanzten einen wilden Tango in ihrem Bauch, vor und zurück, eine schnelle Drehung – sie würgte und schaffte es gerade noch, den blauen Putzeimer zu packen, der, seit seinem Kauf vor einem Jahr unbenutzt, neben der Toilette vor sich hin vegetierte. Sie atmete tief durch, riss ein Stück Klopapier von der Rolle und wischte sich damit über den Mund. Es ging ihr besser. Der drückende Schmerz in Magen und Darm war weg. Jetzt noch zwei Tabletten gegen das hartnäckige Pochen hinter den Schläfen und die körperlichen Folgen ihres nächtlichen Exzesses hätte sie damit im Griff!
Sie erhob sich, schob das Höschen hoch und spülte den Mund aus. Ein Blick in den Spiegel ließ sie zurückschrecken: Sie sah so furchtbar aus, wie sie sich fühlte. Ihre Augen lagen in tiefen Höhlen, die markanten Wangenknochen traten aus ihrem bleichen, übernächtigten Antlitz hervor, als ob sie schwer krank wäre.
„Reiß dich zusammen, Emma Roth!“, schalt sie ihr Spiegelbild mit erhobenem Zeigefinger.
Sie wusste, dass es so nicht weiterging. Noch lief alles reibungslos, noch funktionierte ihr Leben ohne größere Patzer und Aussetzer, aber irgendwann würden die nächtlichen Eskapaden Konsequenzen nach sich ziehen. Und gerade jetzt musste sie in der Arbeit einen Gang zulegen. Ihr Vorgesetzter hatte sie auf dem Kieker, ihr Assistent hatte seine eigene kleine Revolte gegen sie losgetreten und so musste sie sich tagtäglich als Abteilungsleiterin beweisen.
Die nächste Tat des noch jungen Tages würde es sein, den namenlosen Mann aus ihrem Bett und aus der Wohnung zu befördern. Höflich, aber bestimmt. Darin war sie geübt! Entschlossen marschierte sie auf die Schlafzimmertür zu, doch bevor sie diese erreicht hatte, pochte der schrille Klingelton ihres Handys gegen ihr alkoholgeschwächtes Gehirn wie ein Presslufthammer. Automatisch riss sie die Hände hoch und bedeckte die Ohren. Dann besann sie sich. Wo hatte sie gestern nur ihre Handtasche hingeworfen? Sie folgte dem Geräusch bis in die gemütliche Wohnküche, wo sie ihre Wildledertasche schließlich inmitten von Essensresten und leeren Weinflaschen auf dem Küchentisch fand.
„Roth“, nuschelte sie mit schwerer Zunge.
„Rotten hier“, vernahm sie die aufgeregte Stimme ihres Assistenten. „Du musst sofort kommen. Der Chef hat eine Sondersitzung einberufen. Schon in einer halben Stunde. Irgendeine Geschichte in Ottakring.“
Emma gähnte und blickte auf die Wanduhr. Es war halb acht. Unter normalen Umständen wäre sie jetzt in ihr warmes Bett zurückgekrochen, sobald sie sich des smarten Bankers entledigt hatte, hätte dann noch gedöst, um gegen neun gut gelaunt und einigermaßen nüchtern ins Büro zu laufen. Damit war es jetzt vorbei. Sie stieß einen Seufzer aus, legte ohne ein Abschiedswort auf, ließ ihre Espressomaschine warmlaufen, schluckte zwei Aspirin und startete viel zu früh in diesen Tag, der schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt schien.
****
Vierzig Minuten später stürzte sie außer Atem in ihr Büro im zweiten Stock eines grauen, unfreundlichen Neubaus. Hier hauste sie mit ihrem Team, seit das alte Büro am Schottenring hatte geräumt werden müssen, wegen einer Weltkriegsbombe, die sich angeblich unter dem Gebäude befand. Emma hasste die neue Zentrale, aber die Wiener Bürokratie ging ihren gewöhnlich langsamen Lauf und es würde wohl noch dauern, bis das Team in das alte Gebäude zurückziehen würde können.
Karl Rotten betrachtete Emma aus dem Augenwinkel, als sie die Tür zum Vorzimmer aufstieß und dabei ihre Handtasche fallen ließ, deren Inhalt sich über den braunen Teppichboden ergoss. Er hatte seine Chefin bereits oft in einem desolaten Zustand erlebt, doch so kaputt wie heute hatte er sie schon lange nicht mehr gesehen. Die langen roten Locken waren mit einem breiten Haarband nur notdürftig gebändigt und die Krater und Schatten in ihrem Gesicht erzählten Geschichten von einer langen, alkoholschweren Nacht. Nicht einmal die Silberkreolen an ihren Ohren und der dunkelrote Lippenstift konnten dieses Bild der Zerstörung korrigieren. Auch die Garderobe ließ zu wünschen übrig und würde ihr mit Sicherheit einen Rüffel von Heiko Tomschak, ihrem Vorgesetzten, einbringen. Die engen Bluejeans waren an den Innenseiten der Oberschenkel aufgerieben und es fehlte nur noch ein winziges Stück Stoff, um den Blick auf ihre nackte Haut freizugeben. Das bunte Batikhemd hätte vielleicht auf eine Strandparty in Thailand gepasst, aber sicherlich nicht in das Büro einer Wiener Polizeimajorin. Da konnte auch das schwarze, eigentlich schicke Jackett nicht helfen, das sie sich übergeworfen hatte. Ihre gesamte Aufmachung wirkte geradezu grotesk in dieser biederen Beamtenwelt.
Roth musste seinen abschätzigen Blick bemerkt haben, denn augenblicklich reckte sie kampfeslustig das Kinn nach vorne, warf den Kopf zurück und konterte seine unausgesprochene Kritik mit den Worten: „Wenigstens habe ich ein Privatleben und vegetiere nicht so langweilig dahin wie du, Rotten!“
Ohne eine Antwort abzuwarten, schnappte sie sich ihr iPad und marschierte zum Konferenzraum. Dort hatte sich bereits ihr kleines Team versammelt. Emma nickte kurz in die Runde und setzte sich auf einen der ungemütlichen Plastikstühle. Links neben ihr nestelte die Sekretärin Malin Meyer nervös in irgendwelchen Unterlagen herum. Eigentlich war sie promovierte Germanistin und daher gnadenlos überqualifiziert, aber da die Arbeitsmarktlage für Geisteswissenschaftler eher schlecht war und Malin alleine ein Kind zu versorgen hatte, war sie dankbar für ihren zuverlässigen Job im Vorzimmer von Emmas Abteilung. Sie kam morgens pünktlich um acht, aß um ein Uhr in der Kantine einen schlappen Salat zu Mittag und verließ exakt um vier Uhr ihren penibel aufgeräumten Schreibtisch. Sie war eine hübsche junge Frau mit blonden, langen Haaren und einem üppigen, kurvenreichen Körper, der, neben ihrem Namen, eine skandinavische Herkunft vermuten ließ.
Von links warf ihr Felix Musch verstohlen bewundernde Blicke zu. Der hagere junge Mann mit der großen Nase und dem fliehenden Kinn war der Inbegriff eines Nerd. Seine blonden, dünnen Haare waren meist fettig zurückgekämmt und legten Geheimratsecken frei, die Albert Einstein zur Ehre gereicht hätten. Emma hatte sich schon oft gefragt, ob sie jemals zuvor einen so unattraktiven Menschen gesehen hatte. Im Haus machte man seine Witze über den armen Kerl, der niemals über Privates sprach. „Rumpelstilzchen“ und Felix „Muschi“ waren nur eine schmeichelhafte Auswahl der vielen verletzenden Namen, die kursierten. Eine Freundin schien er nicht zu haben. Er war immer verfügbar, rückte zu jeder Tages- und Nachtzeit an, wenn es nötig war, und trank Unmengen an schwarzem, starkem Kaffee. Das war das Einzige, was ihn mit seiner Vorgesetzten Roth verband. Doch etwas konnte Felix Musch besser als jeder andere: Er war ein Genie am Computer, konnte sämtliche Netzwerke hacken und jedes beliebige Passwort knacken. Somit war er für ihr Team unverzichtbar. Emma lächelte ihm aufmunternd zu, doch Musch verzog keine Miene. Er war kein Freund von Gefühlen und hielt Empathie und Nächstenliebe für reine Störfaktoren in seiner digitalen Traumwelt.
Mit einem geschäftigen „Guten Morgen, alle miteinander“ setzte sich Karl Rotten rechts neben seine verkaterte Chefin und vervollständigte das Team. Eigentlich war er Abteilungsinspektor mit der Ambition, noch weit aufzusteigen, aber Emma bezeichnete ihn stets als ihren Assistenten. Das trug wenig dazu bei, ihr ohnehin kompliziertes Verhältnis zu verbessern. Karl und Emma kannten sich seit Jugendjahren, hatten gemeinsam die Schulbank gedrückt und schließlich dieselbe Karriere eingeschlagen. Karl war ehrgeizig und arbeitete zielstrebig auf einen hohen Posten hin, während Emma jeden Abend ausging, zu viel trank und regelmäßig die Polizeischule schwänzte. Trotzdem erzielte sie immer hervorragende Leistungen, während Karl sich abmühte und wochenlang auf Prüfungen lernte. Umsonst! Irgendwann hatte Emma ihren Weggefährten an Dienstgraden überholt und war zu seiner Vorgesetzten aufgestiegen. Das hatte Karl Rotten nie verwunden. All sein Hecheln und Schleimen, die schicken Designeranzüge, die er jeden Tag im Büro trug, und seine Disziplin hatten ihm nichts gebracht. Er war überholt worden – von einer Frau! Noch dazu von einer, die die Sozis wählte, filterlose Zigaretten rauchte, unmäßig trank und, wie Rotten vermutete, wechselnde Sexualkontakte hatte. Das Leben war ungerecht. Umso mehr genoss er es, wenn Oberst Tomschak Emma zurechtwies und ermahnte. Und das geschah oft. Sie benahm sich schlecht, kleidete sich unpassend und wandte mitunter unangebrachte Methoden bei Ermittlungen an. Das verschaffte ihr einige Feinde. Es gab genügend Neider auf der Dienststelle, die jeden ihrer Fehltritte unverzüglich meldeten. Karl Rotten gehörte dazu.
Die Tür zum Konferenzraum öffnete sich und Heiko Tomschak wälzte sich in den Raum. Sein massiger Körper konnte locker mit dem eines Bud Spencer konkurrieren, während seine Gesichtsform und die Kopfbeharrung eher an Michail Gorbatschow erinnerten. Seine Nase, stets angeschwollen und rot, war in die Mitte einer feisten Visage platziert und von großporiger, ungepflegter Haut bedeckt. Er hätte besser als Darsteller in eine Geisterbahn im Prater gepasst als an den Kopf des schicken, ovalen Konferenztisches, an den er sich jetzt mit einem schweren Seufzer setzte. Doch Tomschak entstammte einer alteingesessenen Wiener Unternehmerfamilie, die sich vor allem durch zwei Dinge auszeichnete: jede Menge schlechten Geschmack und viel Geld. Nachdem er an einer angesehenen österreichischen Privatschule maturiert hatte und sich an einer ebenso privaten Uni durch alle Prüfungen in Jus gemogelt hatte, war er in Windeseile im Polizeikorps aufgestiegen und auf dem Chefsessel gelandet. Und von dort war er nicht mehr wegzubekommen. Dafür sorgte schon seine schmale Frau Gunilla, die einiges zu melden hatte. Emma hatte immer vermutet, dass Tomschak seine hübsche Gattin irgendwo im Osten eingekauft hatte, anders konnte sie sich nicht erklären, wie ein so charakterloser alter Fettsack eine so adrette Braut abstauben hatte können. Tatsächlich war die Dame mit dem altmodischen Namen aber ebenfalls eine „Eingeborene“, deren Familie seit Jahrhunderten in der Wiener Politikszene ihr Unwesen trieb. Und eben jene Gunilla Tomschak von Steigenberg stöckelte jetzt in einem hellrosa Chanel-Kostüm in den Besprechungssaal, warf einen gequälten Blick in die Runde, der eine missbilligende Note annahm, als er Emma streifte, und ließ sich dann lautlos neben ihrem korpulenten Gatten nieder.
„Was hat dieser adlige Hungerhaken hier zu suchen?“, flüsterte Malin ihrer Chefin zu, die nur verwundert den Kopf schüttelte. Einzig an Rottens dämlichem Grinsen konnte man erkennen, dass er bereits eingeweiht war.
Während Tomschaks Sekretärin geschmacklosen Filterkaffee für alle und Weißen Tee für die Chefgattin servierte, trafen die letzten beiden Teilnehmer ein: Dr. Jürgen Fred, der forensische Psychologe, der Emmas Abteilung bei schweren Fällen zur Seite gestellt wurde, und Dr. Alf Heine, der deutsche Gerichtsmediziner. Emma konnte sich keinen Reim darauf machen, warum diese beiden Herren zum Treffen berufen worden waren. Was war hier los?
Tomschak räusperte sich laut, hustete kurz und hohl und setzte dann zu einem seiner gefürchteten Monologe an. Nachdem seine Sekretärin auf ein Zeichen hin das Diktiergerät eingeschaltet hatte, begann er zuerst die Formalien herunterzuspulen: „Außerordentliches Treffen der Abteilung II am Montag, den 18. August 2014, um 9 : 30 Uhr. Anwesend sind … “, brabbelte er weiter, während Emma gegen eine Müdigkeit ankämpfte, die sie immer wieder übermannen wollte. Sie trank einen Schluck Kaffee und verzog angewidert den Mund. Die Verbreitung von italienischen Espressomaschinen war an ihrem Chef anscheinend spurlos vorbeigegangen. So spießig und schal wie er selbst war auch der Kaffee, den er offerierte. Inzwischen hatte die farblose Schreibkraft alle langweiligen Details dieser Unterredung aufgenommen und Tomschak setzte ein ernstes Gesicht auf.
„Ich weiß, dass Ihr Team“, dabei blickte er Rotten und dann erst Emma an, „derzeit an einem äußerst heiklen Fall arbeitet. Gibt es Neuigkeiten in der Handkiller-Sache?“
Rotten wollte gerade ansetzen, die neuesten Ermittlungsentwicklungen eifrig darzulegen, aber Emma unterbrach ihn barsch: „Leider keine wirklichen Ergebnisse bisher“, erläuterte sie knapp und stach mit einem Seitenblick auf Rotten ein. „Unser Täter hat inzwischen offensichtlich drei männlichen Opfern die Hände abgetrennt und diese an öffentlichen Plätzen abgelegt. Wir haben die Vermisstenanzeigen der letzten Wochen überprüft und festgestellt, dass drei Männer, zu denen die Hände passen könnten, als abgängig gemeldet wurden: ein englischer Student, der in einem Hostel am Naschmarkt registriert war, ein Deutscher, für eine Wiener Firma tätig, und ein Einheimischer, der in der Verwaltung des Bäderamtes arbeitete.“ Sie seufzte anhand der mageren Faktenlage.
Die Taten hatten die ganze Stadt erschüttert und die Medien hatten sich auf die sogenannten „Handkiller-Morde“ gestürzt wie Geier auf verwesendes Aas. Die Boulevardzeitungen hörten nicht auf, irrsinnige Thesen und Vermutungen zum mysteriösen Mister Manslaughter zu verbreiten. Tomschak hatte alle Hände voll damit zu tun, die Journalisten zu vertrösten, die inzwischen eine Standleitung zu seinem Büro eingerichtet zu haben schienen.
Deshalb lief er nach Emmas Ausführungen rot an und grunzte in die Runde: „Die Presse sitzt mir im Nacken. Lange kann ich sie nicht mehr hinhalten. Spätestens Anfang nächster Woche muss ich eine Pressekonferenz abhalten und Details bekannt geben. Strengt euch also an. Konnten irgendwelche Spuren an den Fundorten der Leichenteile entdeckt werden? Irgendwelche Hinweise auf die Tatorte? Was habt ihr eigentlich in den letzten Wochen getan?“
Rotten streckte gewichtig den Rücken durch, legte seinen Kopf schief und versuchte den Chef zu beruhigen: „Ich habe einige heiße Spuren, Chef. Ein Haar konnte von einer abgetrennten Hand separiert werden. Vielleicht ist das unser Ticket zum Täter!“ Überlegen schaute er in die Runde.
„Du hast gar nichts!“, schnauzte ihn Emma an und riss das Ruder wieder an sich. Das war ihr Fall und sie würde sicher nicht zulassen, dass ihn ein anzugtragender Abteilungsinspektor mit Profilneurose als seine persönliche Karriereleiter missbrauchte. „Einen Scheißdreck haben wir. Die Hände wurden unordentlich abgetrennt, geradezu dilettantisch. Das Haar, das mein werter Assistent erwähnte, muss nicht zwingend vom Täter stammen. Und wenn, ist das auch schon egal, weil wir seine DNA in keiner Datenbank gefunden haben. Zudem gibt es keine Zeugen und die mutmaßlichen Opfer haben augenscheinlich nichts miteinander zu tun.“
„Und was gedenken Sie zu tun?“
„Momentan sind wir wie festgefahren. Aber ich denke, wir müssen uns noch mehr auf die drei Abgängigen konzentrieren. Irgendwie hängen die zusammen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich denke, nächste Woche können wir schon etwas mehr sagen“, schob sie beruhigend hinterher.
Tomschak atmete schwer und war noch röter angelaufen. Gunilla tätschelte beruhigend die fette Pranke ihres Ehemannes und strich die fleischigen, behaarten Arme entlang. Es wirkte. Tomschak schien sich wieder zu fassen, denn er räusperte sich abermals, strich sich durch das schüttere Haar und fuhr fort: „Ich weiß, dass der Handkiller-Fall alle Kapazitäten Ihrer Abteilung in Anspruch nimmt. Aber ich werde in den kommenden Tagen Ihre Kräfte für einen weiteren Fall benötigen, der diesem gleichgestellt ist.“
Emma spitzte die Ohren. Was konnte so wichtig sein, dass es mit einem Psychopathen wie dem Handkiller konkurrieren konnte? „Die Ottakringer Kollegen haben sich heute Früh gemeldet. Am Brunnenmarkt ist am Samstagvormittag ein kleines Mädchen spurlos verschwunden. Wenn Kinder abhandenkommen, ist es immer schlimm, aber dieser Fall hat eine besondere Brisanz: Die Mutter der kleinen Marie, Carla Wolf, ist eine stadtbekannte Lokalpolitikerin und sehr gute Freundin unserer Familie. Sie hat sich bereits an die Presse gewandt und wir erwarten die erste Berichterstattung heute in den Abendblättern. Wir stehen also unter einem enormen Druck, diesen Fall schnell und sauber zu lösen. Roth“, er wandte sich Emma zu, „da Sie im vergangenen Jahr diese Geschichte mit den entführten Zwillingen recht souverän gelöst haben, möchte ich Ihrem Team den Entführungsfall Marie Wolf übertragen. Das bedeutet Doppelbelastung – Überstunden. Sie bekommen zwei Polizisten von der Streife als Unterstützung zur Verfügung gestellt und einen Praktikanten von der Polizeischule als Recherche- und Telefonkraft. Außerdem sollen Dr. Heine und Dr. Fred auf Stand-by stehen, falls wir ihre professionelle Meinung benötigen.“ Er blickte auf den Gerichtsmediziner und den braun gebrannten Psychologen. Dann schob er eine dünne Mappe über den Tisch zu Emma: „Hier ist die Akte!“
Seine dürre Gattin schnüffelte und hielt sich ein Spitzentaschentuch an ihr gepudertes Näschen. Deshalb ist die Schlange also mit hierhergekommen!, dachte Emma. Damit wir das Kind ihrer Parteifreundin wiederfinden. Sie ärgerte sich, dass Tomschak sie vor vollendete Tatsachen gestellt hatte, anstatt sie und ihr Team um Unterstützung zu bitten. Aber er war und blieb ein Arsch. Die schnelle Aufklärung des publicityträchtigen Falles von einem entführten Zwillingspärchen im letzten Sommer hatte Emma in alle Medien gebracht. Mit ihr als Ermittlungsleiterin konnte Tomschak jetzt der Öffentlichkeit zeigen, wie ernst er die Entführung des Mädchens nahm. Emma hatte gar keine Wahl. Sie konnte den Fall nicht ablehnen. Die Sitzung schien beendet.
Tomschak hatte sich bereits aus seinem Chefsessel erhoben, als Malin plötzlich fragte: „Wie wurde das kleine Mädchen denn entführt?“
Im Sitzungsraum wurde es augenblicklich wieder still. Gunilla verschränkte ihre perfekt manikürten Finger ineinander und setzte ein tragisches Gesicht auf. Dann ergriff sie das Wort: „Die Entführer haben einen ganz infamen Trick angewendet, um die kleine Marie ihrer Mutter zu entreißen. Im Trubel des Brunnenmarktes haben sie einfach das Kind an Carlas Hand ausgetauscht. Als meine liebe Freundin sich zu ihrer Tochter umdrehte, hatte sie ein völlig fremdes Kind an der Hand. Eine Zigeunerin, die sie auch noch diabolisch angegrinst hat und dann weggerannt ist.“ Gunilla sog theatralisch die Luft durch die Nase hoch und verzog ihr Gesicht zu einer Maske des Entsetzens.
„Heute heißt das Sinti und Roma“, warf Malin ein und fing sich dafür einen strafenden Blick des Chefs ein.
Im Raum schwebte ein Murmeln: „Ungewöhnliche Methode … “, „Riskante Entführung … “, „Die arme Kleine … “ Daher bemerkte zunächst niemand, dass Emma mit einem Mal jeder Tropfen Blut aus dem Kopf wich. Ihr Herz schien für einen kleinen Moment auszusetzen. Dann fiel sie in Ohnmacht.
****
Das Erste, was Emma wahrnahm, war ein Summen über ihrem Kopf, das ihr in den Ohren dröhnte. Langsam setzte sie weitere Sinne ein, öffnete mühsam die Augen und sah verschwommen verschiedene Köpfe, die sich in hektischer Bewegung befanden und aus deren Mündern anscheinend dieses Summen drang. Erneut schloss sie die Augen für einen kurzen Moment. Was war geschehen?
Plötzlich schwappte die Erinnerung über sie wie eine hohe Welle. Das Mädchen – die Entführung. Tomschak hatte ihr den Fall zugeteilt, die Erinnerung war mit einem Schlag schmerzlich wieder da gewesen, hatte sie wie eine Ohrfeige getroffen – und dann war sie einfach in Ohnmacht gefallen, hatte ihr ganzes System heruntergefahren, um diesen unerträglichen Schmerz nicht mehr fühlen zu müssen, den sie in jahrelanger mühsamer Arbeit vergraben hatte, irgendwo in den Tiefen ihres Bewusstseins.
„Wahrscheinlich hat sie gestern zu lange gefeiert und hat noch Restalkohol im Blut“, hörte sie Rotten gehässig sagen. „Sicherlich die Hitze“, fuhr Malin ihn daraufhin an.
„Oder sie ist schwanger. Gunilla, damals bist du doch auch immer in Ohnmacht gefallen, oder? Das können wir jetzt gar nicht gebrauchen! Frau Roth, können Sie mich hören?“ Das war Tomschaks Stimme, der jetzt mit seinen Wurstfingern an ihren Schultern rüttelte. Sie schüttelte den Kopf, hob die Lider an und blickte in das fleischige Antlitz ihres Vorgesetzten. Sah er am Ende ernsthaft besorgt aus? Besorgt um sie als Person oder nur um den Ausfall einer Arbeitskraft? Emma tippte auf Letzteres und versuchte sich aufzusetzen. Ihr war immer noch schwindlig und ihr Hinterkopf schmerzte von dem Aufprall, aber es ging schon etwas besser.
„Weder besoffen, noch schwanger“, brachte sie hervor. „Die Hitze!“ Und setzte, um alle weiteren männlichen Fragen im Vorhinein abzuwehren, hinzu: „Und starke Menstruation!“ Mit diesen Worten erhob sie sich und ergriff dankbar Malins hingestreckten Arm. Sie musste hier raus, bevor einer merkte, was wirklich mit ihr los war. Sie stand unter Schock, das war die korrekte Bezeichnung. Und gegen diesen Zustand brauchte sie als Allererstes einen starken Espresso und einen Ortswechsel. Mit einem Flehen im Blick sah sie Malin an, die sie sicher aus dem Polizeigebäude lotste.
Die Hitze draußen auf der Straße traf sie wie ein Prügel am Kopf. Es war noch nicht einmal Mittag und schon brannte die Sonne wie ein heißes Eisen auf der Haut.
„Zu einem Kaffeehaus“, murmelte sie Malin zu und ließ sich einfach führen. Das Café Reibach war in einem wunderschönen Jugendstilbau untergebracht, das Interieur brach jedoch völlig mit der eleganten Außenfassade. In verrauchten, dunklen Nischen saßen jene, die um zehn Uhr morgens ihr erstes Bier tranken, oder die, die noch schnell den letzten Schnaps vor dem Zubettgehen hinunterschütteten. Genau der richtige Ort für ihren momentanen Zustand, schoss es Emma durch den Kopf. Sie setzten sich an einen abgelegenen Nischenplatz und blickten eine Weile stumm aus dem Fenster. Die Hitze waberte in den Gassen und am Himmel braute sich ein Unwetter zusammen, das sich wohl am frühen Nachmittag über der Stadt entladen würde. Das Kaffeehaus war schlecht klimatisiert und die erhitzten und übel gelaunten Touristen, die Zuflucht vor der Sonne suchten, schimpften vor sich hin. Die Ober hatten ihre arroganten Gesichter aufgesetzt, weil Fremde das von ihnen erwarteten. Kitschige Klaviermusik drang aus den kleinen Lautsprechern, die in den Ecken des viereckigen Raumes hingen. Die drögen Melodien passten so gar nicht zu der gereizten Kaffeehausstimmung.
Emma seufzte. Sie wollte untertauchen in einer Masse von ichbezogenen Unbekannten, denen es völlig egal war, warum sie gerade nicht nur das Bewusstsein, sondern auch ihr Gesicht verloren hatte. Vor Rotten, dem arroganten Arschloch. Vor Tomschak und seiner spitznasigen Frau. Bei der Polizei musste man hart sein. Schwächen wurden nicht gerne gesehen. Und Emma hatte – wenn auch nur für einen winzigen Augenblick – die Kontrolle verloren. Das nagte an ihr.
Malin hatte unaufgefordert eine Runde Mokka und Grappa bestellt, die der alte, graue Ober nun vor ihnen abstellte. Emma griff sofort zum Hochprozentigen und spürte, wie mit dem Schnaps eine beruhigende Wärme ihre Kehle hinunterrann und sich im Bauch ausbreitete.
Sie schloss die Augen und dachte nach: Konnte sie Malin vertrauen? Die Antwort lautete eindeutig: Ja. Ihre Sekretärin hatte ihr schon mehr als einmal die Stange gehalten und sie aus prekären Situationen gerettet. Sie war ihr persönlicher Fels in der Brandung.
Emma verschlang nervös ihre Finger ineinander und blickte Malin ernst in die Augen. „Was ich dir jetzt erzähle, habe ich außerhalb meiner Familie noch niemandem erzählt, und ich bitte dich um Diskretion, bis ich weiß, wie ich damit in der Arbeit umgehen möchte.“
„Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst. Musch ist zu keinem zwischenmenschlichen Gespräch in der Lage und Rotten und Tomschak sind Riesenarschlöcher. Die erfahren sicher nichts von mir!“