Loe raamatut: «Marcel Proust»
Inhalt
[Cover]
Titel
Zitat
Lebensumriss
Die Aufgabe des Kritikers
Kunst und Erkenntnis
Die Musik
Intuition und Ausdruck
Vergänglichkeit und Erinnerung
Zeit und Raum
Kunst und Leben
Klassizismus und Ästhetizismus
Stilbetrachtung
Flieder-Studie
Städtenamen
Satzrhythmus
Präzision
Psychologie und Wirklichkeit
Wille
Sensibilität
Kontemplation
Soziologische Grundlagen
Die aristokratische Gesellschaft
Die menschliche Flora
Züchtung und Differenzierung
Die Nuancen der Sprache
Klassik und Unendlichkeit
Perspektive
Relativismus
Kritik des Lebens und der Liebe
Platonismus
Michael Kleeberg: Nachwort
Französische Originaltexte
Bildnachweise
Autorenporträt
Übersetzerporträt
Kurzbeschreibung
Impressum
Un cœur tendre qui hait le néant vaste et noir Du passé lumineux recueille tout vestige. Ein zartes Herz voll Abscheu vor dem schwarzen, immensen Nichts kleidet sich in das, was vom leuchtenden Gestern blieb.
Charles Baudelaire
Lebensumriss
Marcel Proust – der Name dieses Schriftstellers, der heute weltberühmt ist, war noch vor wenigen Jahren so gut wie unbekannt. Als Léon Daudet 1917 in seinem Memoirenbande Salons et Journaux von Proust sprach, musste er ihn seinen Lesern erst vorstellen. Prousts Erstlingswerk, eine Sammlung von Skizzen und Studien, die 1896 unter dem Titel Les Plaisirs et les Jours (dt. Freuden und Tage) erschienen war, eingeführt durch eine Vorrede von Anatole France, hatte die Aufmerksamkeit des Publikums nicht zu fesseln vermocht. Auch Du côté de chez Swann (1913) (dt. Unterwegs zu Swann) wurde wenig bemerkt. Léon Daudet nennt dieses Buch zwar »originell, oft verblüffend, verheißungsvoll«, aber als er in seinen Memoiren auf Proust zu sprechen kommt, schildert er ihn doch noch im Wesentlichen als Weltmann und funkelnden Causeur. Er spricht uns von einem Kreis von Künstlern und Schriftstellern, der sich in den Jahren 1900 bis 1905 im Restaurant Weber in der Rue Royale zusammenzufinden pflegte. Manchmal sah man gegen halb acht Uhr abends einen blassen jungen Mann eintreten, der in wollene Schals gehüllt war: »Er ließ sich eine Traube, ein Glas Wasser geben und erklärte, er sei soeben aufgestanden, er habe eine Grippe, er werde sich gleich wieder legen, der Lärm tue ihm weh; er warf unruhige, dann spöttische Blicke um sich, brach schließlich in ein entzücktes Lachen aus und blieb. Bald kamen in zögernd-eiligem Ton Bemerkungen voll überraschender Neuheit und Aperçus voll diabolischer Feinheit über seine Lippen.« Daudet macht den Charme dieses ungewöhnlichen Geistes fühlbar, der alle Gegensätze zu überbrücken wusste. »Auf dem Höhepunkt unserer innerpolitischen Kämpfe vor dem Kriege – es war 1901 – hatte er den Einfall, ungefähr sechzig Personen verschiedener Gesinnung zu sich zum Diner einzuladen. Das ganze Tafelgeschirr hätte in Stücke gehen können. Ich saß zur Seite einer entzückenden Person, die einem Porträt von Nattier oder Largillière glich und die, wie ich erfuhr, die Tochter eines sehr bekannten israelitischen Bankiers war. Am benachbarten Tisch präsidierte Anatole France. Die erbittertsten Feinde verzehrten, nur zwei Meter voneinander entfernt, ihr Geflügel. Aber das Fluidum von Verständnis und Wohlwollen, das von Marcel Proust ausstrahlt, breitete sich wirbel- und spiralförmig im Speisezimmer und in den Salons aus, und für zwei Stunden herrschte die aufrichtigste Herzlichkeit unter den Atriden. Ich glaube, dass niemand anders in Paris dieses Kunststück hätte vollbringen können.« Daudet spricht dann von Prousts erlesener literarischer Kultur, von seinem Humor, seinem psychologischen Spürsinn und schließt: »Wenn es ihm gelingt, sich eine Richtung zu geben, sich zusammenzuhalten und zu einer geordneten literarischen Form zu kommen, so wird er eines schönen Tages irgendetwas Erstaunliches schreiben, eine Randglosse zum Leben.« Das war 1917 geschrieben.
Fünf Jahre später nennt derselbe Léon Daudet Proust »einen der ersten Schriftsteller unserer Literatur«. Und Paul Valéry schreibt: »Auch wenn ich keine Zeile dieses umfassenden Werkes gelesen hätte, würde mir die Tatsache, dass zwei so unähnliche Geister wie Gide und Léon Daudet über seine Bedeutung einig sind, genügen, um mich gegen den Zweifel zu sichern; ein so seltenes Zusammentreffen kann nur in nächster Nähe der Gewissheit stattfinden. Wir dürfen ruhig sein: die Sonne scheint, wenn sie es gleichzeitig verkünden.«
1917 bis 1922 … in der kurzen Spanne dieser Jahre reifte für Marcel Proust das Schicksal: Ruhm, Tod, Vollendung.
Proust, der 1871 geboren war, hatte etwa bis zum fünfunddreißigsten Jahre das Leben des Weltmannes geführt. Dann zog er sich zurück, um sich ganz seinem Werk zu widmen. In jahre- und jahrzehntelanger Arbeit, gehemmt durch chronische Leiden, schuf er das Riesenwerk, das eine menschliche Komödie unserer Zeit sein wird. Der zweite Teil, À l’ombre des jeunes filles en fleurs (dt. Im Schatten junger Mädchenblüte), erhielt 1919 den Goncourt-Preis und machte den Verfasser mit einem Schlage berühmt. In schneller Folge erschienen die anderen Teile: Le Côté de Guermantes (1920/21) (dt. Guermantes), Sodome et Gomorrhe (1922) (dt. Sodom und Gomorrha), La Prisonnière (1923) (dt. Die Gefangene), alles in allem bis jetzt elf Bände1 – Fragmente eines einzigen großen Werkes, das den Gesamttitel trägt: À la recherche du temps perdu (dt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). Die Fortsetzung und der Abschluss des ganzen Zyklus sind von Proust noch kurz vor seinem Tode – er starb am 18. November 1922 – im Manuskript vollendet worden und sollen in mehreren Bänden demnächst erscheinen.
Wie lange hat ein Stendhal, ein Balzac, ein Flaubert auf das Verstehen warten müssen! Marcel Proust – und warum soll ich nicht gleich meine Überzeugung aussprechen, dass sein Name in Zukunft mit diesen drei großen Namen genannt werden wird? – hat ein besseres Schicksal gekannt. Der Ruhm, der helle, vielstimmige Ruhm hat ihn nach kurzer Frist gegrüßt, hat dem leidenden und sterbenden Manne noch den vollen, immer stärker anschwellenden Chor der Bewunderung, des Dankes, der Freude gesungen. Die Meister der Kunst haben ihm noch gehuldigt, und die Jugend hat ihm gedankt für die Schönheit, die er über ihr Leben gebreitet hatte. Ein erstes Denkmal ist ihm errichtet in der gehaltvollen Sondernummer der Nouvelle Revue française vom 1. Januar 1923, welche die Zeugnisse von Freunden und Bewunderern aus allen Ländern vereint.
Die Wirkung seines Geistes breitet sich täglich weiter aus. Im Herbst 1923 erschien der Sammelband Marcel Proust, an English Tribute2, in dem zwanzig englische Schriftsteller sich über Proust äußern. Und im November 1923 schrieb Jacques Rivière: »Ein Jahr ist schon vergangen, seitdem Marcel Proust uns verlassen hat. Sind wir getröstet? Das Wort hat einen grässlichen Klang für diejenigen, die mit diesem großen Geist, mit dieser wundervollen Seele in Freundschaft verbunden waren. Nein, wir können, wir wollen uns nie anders als untröstlich über seinen Verlust fühlen … Die Hoffnung, sich in seinem Werk zu überleben und in ihm wieder aufzuleben, die, bisweilen von Besorgnis gekreuzt, doch Marcel Proust unablässig nahe war, diese Hoffnung empfängt gegenwärtig die sichtbarste Bestätigung. Jeder Tag führt ihm neue Leser zu, und das heißt neue Freunde. Jeden Tag wird Proust von jemandem entdeckt, jeden Tag tritt jemand mit dem Gefühl beglückten Staunens in sein Buch ein …»
1 Dazu tritt der Band Pastiches et mélanges (1919) (dt. Nachgeahmtes und Vermischtes), eine Sammlung von Essays und Parodien, der zum Verständnis Prousts unentbehrlich ist. – Albertine disparue (dt. Die Flüchtige) ist 1925, Le temps retrouvé (dt. Die wiedergefundene Zeit) 1927 erschienen.
2 Herausgegeben von C.K. Scott Moncrieff, dem Verfasser der englischen Proust-Übersetzung, bei Chatto & Windus in London.
Marcel Proust 1895, fotografiert von Otto Wegener.
Die Aufgabe des Kritikers
Proust ganz zu würdigen wird erst möglich sein, wenn sein Werk abgeschlossen vor uns liegt. Erst dann wird sich die vielumstrittene Frage nach der Komposition seines Romans beantworten lassen. Erst dann werden wir die Entwicklung seiner Charaktere und die Schlussfolgerungen seiner Kunst überschauen. Aber schon heute hat sein Werk eine solche Ausdehnung und Fülle, ein solches Leben und eine solche Tiefe, dass es zur Betrachtung und Analyse drängt.
Der erste Eindruck beim Lesen ist ein seltsames Gemisch von Bezauberung und Verwirrung. Man fühlt sich überschüttet von einer scheinbar ungeordneten Fülle eindrängender Stoffmassen, befremdet durch einen umständlichen, verwickelten Stil, dessen Bewegungsrhythmus zunächst kein Gesetz erkennen lässt. Zugleich wird man gefesselt wie von den Klängen einer neuen Musik, deren Harmonik man noch nicht analysieren kann; hineingezogen in eine Erlebnisart von so eigentümlichem Reiz, dass man sich ihren Lockungen hingeben muss. Man wüsste nicht zu sagen, was es ist, das so sanft überredet und so magnetisch anzieht; man lässt sich treiben wie auf einem ruhigen mächtigen Strom, gewärtig aller Abenteuer, willig sich lösend vom hemmenden Automatismus der Gewohnheiten und der erstarrten Denkformen. Man stößt dann plötzlich auf einen Satz, der sich aus seiner Umgebung herauslöst und etwas Besonderes zu enthalten scheint: einen gleichsam transparenten Satz, der die Eigentümlichkeit des Autors ahnen, wenn auch noch nicht deutlich erfassen lässt. Und beim Fortschreiten der Lektüre trifft man auf einen zweiten und dritten Satz verwandter Natur. Man spürt in der Wiederkehr solcher Satzgebilde eine geheime Gesetzlichkeit. Verschieden nach Form und Inhalt, weisen sie doch auf ein Gemeinsames hin, aus dem sie stammen. Sie sind Erscheinungsweisen derselben seelischen Wirklichkeit. Indem sie sich gegenseitig ergänzen und erhellen, machen sie uns eine seelische Nuance, eine geistige Eigenart des Verfassers deutlich. Wir wissen jetzt, dass wir an einer wenn auch vielleicht peripheren Stelle das Geheimnis der schöpferischen Originalität berührt haben. Wie sich der sichtbar gewordene Einzelzug zum Ganzen verhält, bleibt zunächst noch ganz unbestimmbar. Aber ein Ansatzpunkt ist gewonnen. Nur aus der sorgsamen Sammlung und Vergleichung solcher Einzelzüge kann in immer erneuter und ausgeweiteter Betrachtung und Besinnung das Gesamtbild erarbeitet, kann die Intuition geklärt werden. Alle echte Kritik geht diesen Weg. Proust selbst beschreibt ihn in seinem Ruskin-Essay. Die erste Aufgabe jedes Kritikers, sagt er, müsste darin bestehen, dem Leser zu helfen, »diese besonderen Merkmale wahrzunehmen, ihm weitere ähnliche Merkmale vor Augen zu führen, die deutlich machen, dass es sich dabei um die charakteristischen Merkmale des persönlichen Wesens eines Schriftstellers handelt«. Wenn der Kritiker das verstanden hat, ist seine Aufgabe fast erfüllt. Wenn er es nicht verstanden, wenn er jene charakteristischen Einzelzüge nicht herausgefühlt hat, dann kann er zwar immer noch alle möglichen Bücher über Ruskin schreiben, »Ruskin als Mensch«, »als Schriftsteller«, »als Prophet«, »als Künstler«, aber alle diese Konstruktionen, so geistvoll sie durchgeführt sein mögen, werden Ruskins Wesen nicht treffen; sie können dem Kritiker Ruhm und Ehre eintragen – aber für das Verständnis von Ruskins Werk werden sie weit weniger nützen als die genaue Festlegung einer scheinbar noch so unwichtigen Nuance.
Wir dürfen uns die Darlegungen Prousts dahin deuten, dass alle wahre Kritik damit anhebt, die seelischen Formelemente eines Autors – nicht seine Meinungen, nicht seine Gefühle – zu ermitteln. Solche Kritik kann nicht erlernt werden. Denn jene Einzelzüge, auf die es ankommt, kann man nicht suchen – sie müssen einem aufleuchten. Kritische Begabung ist nichts anderes als die Fähigkeit, von solchen Einzelzügen frappiert zu werden. Wenn das Philosophieren im Staunen wurzelt, so ist es die Voraussetzung aller Kritik, dass dem Kritiker bestimmte Dinge auffallen. Beides vollzieht sich nur bei aufgeschlossener Hingabe an den Gegenstand. Die Ruhe und Passivität des reinen Aufnehmens muss die Grundhaltung des Kritikers sein. Rezeption ist die Vorbedingung der Perzeption, und diese führt zur Konzeption. Denn über die Wahrnehmung und Festlegung der Einzelzüge hinaus schreitet die Kritik in synthetischem Verfahren zur Rekonstruktion der geistigen Gesamthaltung des Autors fort. Oder, um Proust wieder das Wort zu geben: »Ich bin allerdings der Ansicht, dass der Kritiker daraufhin noch weiter gehen müsste. Er müsste versuchen zu rekonstruieren, wie das besondere geistige Leben eines Schriftstellers geartet sein könnte, den solch außergewöhnliche Realitäten umtreiben.«
Ich glaube, dass dieser letzte Satz die aufmerksamste Beachtung fordert; dass wir seiner Spur folgen müssen, um in das Innere von Prousts Werk zu gelangen. Er fixiert das Verhältnis von Kunst und Geist. Das Kunstwerk – dies müssen wir ihm entnehmen – hat den Sinn, uns eine neue geistige Lebenssphäre zu eröffnen; die charakteristischen Einzelzüge, die wir an ihm wahrnehmen, entsprechen bestimmten Elementen der geistigen Wirklichkeit, die für den Künstler einen besonderen Bedeutungsakzent tragen und die er sinnlich sichtbar macht. Was wir Talent nennen, ist die Fähigkeit, diese Anschauung wiederzugeben oder, anders gesagt, jene Momente des Seins im Werk neu zu gestalten. Phänomen und Begriff der Kunst wurzeln also letzten Endes in einem metaphysischen Grunde. Wie unsere Musik aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der Klänge nur einen begrenzten Ausschnitt kennt (eine Zone des Gestaltens, die von jedem schöpferischen Tondichter erweitert wird), so spiegeln sich in unserem seelischen Leben nur Bruchstücke des Gesamtseins wider. Der große Schriftsteller ist der, der neue Aspekte der Gesamtwirklichkeit erlebt und sie so zwingend und fordernd erlebt, dass sie für ihn einen Ewigkeitsgehalt annehmen. Sein Werk ist gleichsam ein Fenster, durch das uns eine neue Aussicht eröffnet wird: der Blick auf eine bisher unbekannte Landschaft. Der Künstler fühlt sich triebhaft genötigt, dem Drang des Schauens alle übrigen Lebensinhalte, ja unter Umständen das Leben selbst zu opfern. Für einen solchen Künstler bedeutet sein Leben schließlich nur mehr das unentbehrliche Organ der Anschauung: dasselbe, was dem Naturforscher seine Beobachtungsinstrumente sind. Dieses Opfer des eigenen Lebens im Dienste der Anschauung und der Gestaltung macht die Moralität des Künstlers aus.
Liste der weiteren geplanten Bände von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit mit groben Inhaltsangaben, die Marcel Proust im Zusammenhang mit der Verleihung des Prix Goncourt für Im Schatten junger Mädchenblüte 1919 an seinen Verleger Gaston Gallimard schickte.
Kunst und Erkenntnis
Wenn uns der erste Blick auf das Werk von Proust unvermerkt zu den Wesensfragen nach dem Sinn der Kunst und der Funktion des Künstlers führt, so ist es, weil diese Fragen selbst zu den bestimmenden Motiven von Prousts Denken und Schaffen gehören. Die Intellektualität ist der Nährboden des Lebens, das sich in dieser Kunst seinen Ausdruck schafft. Intellektualität im höchsten und umfassendsten Sinne, als ein Erstes und Letztes, das sich nicht erst als die Reaktion auf das Leben einstellt, sondern mit dem Lebensgefühl selbst da ist und mit ihm in unauflöslicher Einheit verbunden ist. Leben und Erkennen sind hier in der Wurzel eins. Erkennendes Leben, lebendes Erkennen tritt uns hier entgegen als ursprünglichste Spontaneität des Geistes, als farbigste und duftigste Blüte des vitalen Prozesses. Das intellektuelle Leben ist für Proust von all den parallelen Leben, die wir gleichzeitig leben, das spannungsreichste. So denkt auch Bergotte, der große Schriftsteller, wenn er einen Kranken zu trösten sucht: »Ich beklage Sie sehr«, sagt er ihm. »Und doch – ich beklage Sie nicht allzu sehr, weil ich wohl sehe, dass Sie über die Genüsse der Intelligenz verfügen und weil diese für Sie wie für alle, die sie kennen, wahrscheinlich das Wichtigste sind.«
Intelligenz in dem Sinne, den das Wort bei Proust hat, ist nichts inhaltlich Festgelegtes, auch keine durch Übung entwickelte Teilfunktion der Persönlichkeit, sondern der allumgreifende elementare Drang, sich die Wirklichkeit durch Erkenntnis zu erschließen. Intellektuelle Erkenntnis kann in vielen Formen auftreten: als Lebensklugheit, als Geschäftsverstand, als Rechtsprechung, als Wissenschaft, als Philosophie. Von all dem ist hier nicht die Rede. Jenseits all dieser Sonderformen und Spezialfunktionen gibt es ein Erkennen der Lebensgehalte, das weder praktischen Zwecken dient noch an die Systematik eines Sachgebietes gebunden und durch sie eingeschränkt ist. Diese Erkenntnis hat nur eine Ausdrucksform: die Kunst. Gestaltung ist die Sprache des künstlerischen Erkennens. Alle Kunst ist Erkenntnis. Wollte man Prousts Aussagen über ästhetische Probleme ordnen, so würde sich daraus eine noetische Kunsttheorie ergeben. Nicht Erhöhung des Lebens, nicht Darstellung einer geläuterten Natur oder eines adligeren Menschentums, aber auch nicht Formenspiel, nicht Bilden um des Bildens willen, nicht Verwirklichung von Schönheit ist für Proust der Sinn der Kunst. Weder Nietzsche’scher Vitalismus noch Formanbetung oder irgendeine Abwandlung des l’art pour l’art können in der geistigen Welt Prousts Geltung beanspruchen; erst recht nicht können sie ihr gerecht werden.
In seinen Ruskin-Studien hat Proust seine Kunstphilosophie gegeben. Es ist für ihn eine Wahrheit metaphysischer Ordnung, dass man die Kunst nicht in fruchtbarer Art lieben kann, wenn man sie nur um der Genüsse willen liebt, die sie gibt. Wer das Glück sucht, der findet es nicht. Man findet das Glück nur, wenn man anderes sucht. So ist es mit dem ästhetischen Genuss. Er wird uns zuteil als ein Überschuss, wenn wir die Schönheit um ihrer selbst willen lieben; als eine außer uns da seiende Wirklichkeit, die unendlich viel wichtiger ist als die Freude, die wir durch sie empfangen können. Diese Freude ist nur die Begleiterscheinung einer geistigen Lebensrichtung auf ein ewiges Sein. Darum aber ist auch jedes Schönheitserlebnis nicht nur eine Beglückung, eine Beflügelung unseres Gefühls, sondern darüber hinaus die Berührung mit einer Wahrheit und einer Wirklichkeit. Wo wir eine literarische Schönheit empfinden, da liegt ein Wert verborgen. Der künstlerische Enthusiasmus zeigt an, dass wir von einer Wahrheit berührt wurden. Ein starrer und ungebildeter Geist könnte hier einwenden, damit würde der subjektive Genuss des Lesers zum ästhetischen Wertmaßstab gemacht. Das wäre ein gröbliches Missverständnis. Eine nie ermattende intellektuelle Aufrichtigkeit ist ein Grundzug von Prousts Geistesart. Das zeigt sich gerade auch in seiner Stellung zu Ruskin. Ruskin ist für Proust »einer der größten Schriftsteller aller Zeiten und aller Länder«. Aber Proust scheut sich nicht, auch auf die Irrtümer Ruskins aufmerksam zu machen. »Hier habe ich mich gerade mit den mir liebsten ästhetischen Eindrücken auseinandersetzen wollen«, sagt er in diesem Zusammenhang, »und versucht, die intellektuelle Redlichkeit bis an ihre letzten und grausamsten Grenzen zu treiben.« Dennoch brauchen wir uns des Enthusiasmus nicht zu schämen, den wir bei Ruskins Irrtümern empfanden: denn auch seine irrigen Kunsturteile haben eine Schönheit eigener Geltung, die vom Wert des beurteilten Kunstwerks unabhängig ist, und sie entsprechen einer Wahrheit der Seele, die von allem Wechsel geschichtlicher Wertungen unberührt bleibt. Keine Schönheit kann uns je lügen: »Denn die ästhetische Beglückung ist genau die, welche die Entdeckung einer Wahrheit begleitet.« Von der Kunst des Malers Elstir sagt der Erzähler (so bezeichne ich das »Ich« der Proust’schen Romane), er habe sich von ihr »zum Verständnis von und zur Liebe zu Dingen führen lassen, die noch bedeutender waren als sie selbst: ein wirkliches Tauwetter, ein echter Platz in einem Provinzstädtchen, lebendige Frauen am Strand«.
Eine Landschaft oder eine Bewegung der Seele – alle Aspekte der Wirklichkeit sind der Kunst und ihrer eigentümlichen Erkenntnisweise zugänglich. Als Form universalen Weltbegreifens ist die Kunst der Philosophie verwandt. Dem Künstler drängt sich sein Gegenstand mit derselben Notwendigkeit auf wie dem Denker ein logisches Problem. Das Thema des Romanciers, die Vision des Dichters – sie treten dem Geist fordernd und wie von außen entgegen. Der Künstler wählt sich seinen Stoff nicht, er wird von ihm erwählt. Er muss ihn ausdrücken, und er muss ihn ganz und rein ausdrücken. Die Zeiten, die in der Kunst und Dichtung eine göttliche Eingebung verehrten und darum forderten, der Künstler dürfe dieser überirdischen Botschaft nichts Eigenes hinzufügen, waren im Rechten. Es ist für den Künstler wie für den Forscher und den Denker das oberste Gebot, sich der erschauten Wirklichkeit zu unterwerfen. Wie alles Erkennen, so ist auch das Schaffen des Künstlers ein Nachbilden, gebunden an eine Gegenständlichkeit, deren Wiedergabe die höchste Anspannung des Geistes, ja oft eine heroische Energie erfordert: »Jede geistige Handlung ist leicht, solange sie nicht an die Realität gebunden ist.«
Der Künstler erfindet nicht, er findet etwas vor. Kunst ist nicht Erfindung, sondern Auffindung.
Brief von Marcel Proust an Ernst Robert Curtius, gestempelt am 8. März 1922. Darin bedankt sich Proust bei Curtius für dessen lobenden, fünfzehn Seiten umfassenden Artikel über Prousts Werk, der kurz zuvor, in der Februarausgabe von Der neue Merkur, erschienen war und den Curtius an Proust schicken ließ. Proust spürte intuitiv, dass Curtius sein Werk kongenial analysiert hatte, war jedoch über seine mangelnden Deutschkenntnisse betrübt, die ihm ein genaues Verständnis des Artikels nicht erlaubten. Er bat seinen Verleger Gaston Gallimard um eine Übersetzung, die verloren ging. Erst im Juli veröffentlichte die Nouvelle Revue française Auszüge von Curtius’ Artikel auf Französisch.
Erster Brief von Marcel Proust an Ernst Robert Curtius in einer Abschrift von Ernst Robert Curtius, angefertigt auf Bitte der Herausgeber der Correspondance générale de Marcel Proust, Robert Proust und Paul Brach. Die Briefausgabe erschien in sechs Bänden bei Librairie Plon zwischen 1930 und 1936.