Nur Flausen im Kopf? - Jugendliche verstehen

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Nur Flausen im Kopf? - Jugendliche verstehen
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Diese Publikation erscheint im Rahmen der Lehre und Forschung von Mitarbeitenden der Abteilung Sekundarstufe II/Berufsbildung an der Pädagogischen Hochschule Zürich (PH Zürich). Sie setzt Schwerpunkte für die unterrichtliche Praxis in der Sekundarstufe II.

Esther Lauper, Michael De Boni

Nur Flausen im Kopf? –

Jugendliche verstehen

Was Lehrpersonen, Ausbildende und Eltern wissen sollten

ISBN Print: 978-3-03905-902-7

ISBN E-Book: 978-3-03905-903-4

2. Auflage 2013

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung

1 Besichtigung einer Großbaustelle

2 Gelingende Sozialisation von Jugendlichen

3 Die Bedeutung der Familie im Jugendalter

4 Übergänge und ­Veränderungen

5 Ablösung und Bindung – Isolation und Integration

6 Kummer, Nöte, Aggressionen

7 Verschiedene Perspektiven

8 Jugendliches Risikoverhalten

9 Halt und Orientierung

10 Wohlwollende Präsenz

11 Umgang mit Unterschieden im ­Klassenverband

12 Leistung und Motivation

13 Dialog mit Jugendlichen, ­Begleitung und Beratung

Literatur

Fußnoten

Checklisten, Fragebogen, Beobachtungsinstrumente*

Was hat mein Gehirn schon gelernt, was kann es schon leisten? – Checkliste zur Selbst- und Fremdeinschätzung

Wie hirngerecht ist mein Unterricht? – Checkliste für Lehrpersonen

Sozialisationsprozess – Beobachtungsinstrument

Sozialisation: Förderliche und hemmende Einflussfaktoren – ­Beobachtungsinstrument

Dialog zwischen Eltern und Jugendlichen – Fragebogen

Stärkende Ressourcen – Checkliste zur Selbst- und Fremdeinschätzung

Bewältigung von Übergängen – Beobachtungsinstrument

Krisenmerkmale – Checkliste zur Selbst- und Fremdeinschätzung

Integration in die Arbeitswelt – Beobachtungsinstrument

Auftrittskompetenz – Beobachtungsinstrument

Suchtmittelkonsum – Beobachtungsinstrument

Internetsucht – Beobachtungs- oder Befragungsinstrument

Risikoverhalten: Schutzfaktoren – Beobachtungsinstrument

Risikoverhalten: Risikofaktoren – Beobachtungsinstrument

Strukturierungsdiskrepanzen – Beobachtungsinstrument

Reifediskrepanzen – Beobachtungsinstrument

Integrationsdiskrepanzen – Beobachtungsinstrument

Kognitive Diskrepanzen – Beobachtungsinstrument

Leistungsfördernde Ressourcen – Beobachtungsinstrument

Emotionen der Erzieher/innen – Checkliste zur Selbsteinschätzung

Leistungserleichternde Ressourcen – Beobachtungsinstrument

Gespräch am runden Tisch – Ablaufschema

Standortgespräch – Ablaufschema

Lerncoaching – Ablaufschema

Beratungsgespräch – Ablaufschema

Korrekturgespräch – Ablaufschema

Konfliktgespräch – Ablaufschema

* Aus Gründen der (Sprach-)Ökonomie und zugunsten besserer Lesbarkeit wird in den Beobachtungsinstrumenten gegen unsere eigene Überzeugung fast durchgehend die Form »der Jugendliche« verwendet; gemeint sind immer jugendliche Menschen beider Geschlechter.

Zur Einführung

In die Jugendzeit fallen wichtige psychologische und soziale Entwicklungsphasen. Pubertät, Ende der obligatorischen Schulzeit, Eintritt ins Berufs­leben, beginnende Ablösung vom Elternhaus und »innere Neuorientierung« auf der Suche nach einer eigenen Identität – alle diese Herausforderungen sorgen für manche Reibungsfläche. Die Jugendzeit wird deshalb von allen Beteiligten – Eltern, Lehrpersonen, Ausbilder/innen, Trainer/innen und allen, die mit Jugendlichen arbeiten, aber auch von den Jugendlichen selbst – nicht immer als einfach, manchmal sogar als sehr belastend und überfordernd, dafür aber auch als intensiv und spannend erlebt.

Dieses Buch möchte zunächst bewusst machen, dass es völlig normal ist, wenn Eltern, Erzieher und auch die Jugendlichen an ihre Grenzen stoßen und manchmal überfordert sind. Es zeigt zugleich, dass es Wege gibt, solche Phasen auszuhalten und anzugehen – und dass es sich lohnt, die vorhandenen Ressourcen und Potenziale in den Jugendlichen zu entdecken und zu fördern; wir werden deshalb auch immer wieder auf eine förder- und unterstützungsorientierte Haltung hinweisen, die im klaren Gegensatz zu einer defizitorientierten Sichtweise steht.

Vor dem Hintergrund des gewaltigen Themenhorizontes der Adoleszenz galt es, eine Auswahl zu treffen und einige wenige Aspekte zu analysieren. Wir haben uns dabei von unserer Erfahrung aus eigener Lehrtätigkeit in der Sekundarstufe II und aus unzähligen Aus- und Weiterbildungsveranstaltungen, die wir durchgeführt haben, leiten lassen. Theorie und Praxis sollen sich, wenn immer möglich, verbinden; dabei können die angefügten Instrumente (Tabellen, Checklisten usw.) dienlich sein. So lässt sich die Publi­kation auch als Arbeitsbuch verwenden, das in der Aus- und Weiterbildung eingesetzt werden kann.

Große Aufmerksamkeit widmen wir der Hirnentwicklung während der Jugendphase und den neueren Erkenntnissen aus den kognitiven Neurowissenschaften. Tatsächlich sind wir überzeugt, dass die Ergebnisse der aktuellen Hirnforschung in der Diskussion um eine gelingende Erziehung neue Perspektiven eröffnen können. Vor allem der Zusammenhang zwischen Hirnentwicklung und bestimmten Verhaltensweisen von Jugendlichen, die für Erwachsene manchmal kaum nachvollziehbar sind, wird durch die Forschungserkenntnisse besser verständlich. Ebenso kann die Hirnforschung die starken Stimmungsschwankungen und das manchmal instabile Selbstbild und Selbstwerterleben besser erklären. Die hier dargelegten Zusammenhänge zwischen Hirnforschungsergebnissen und Adoleszenz werden aber nicht theoretisch abgehandelt, vielmehr sollen sie Eltern, Lehrpersonen und Ausbildern zusätzliche Informationen für den konkreten Umgang mit Jugendlichen in der Praxis vermitteln. Es geht uns also vor allem darum, Theoriewissen so aufzubereiten, dass Menschen im Umgang mit Jugendlichen in ihren erzieherischen Bemühungen unterstützt werden. Dies kommt unter anderem auch in Kapiteln wie »Wohlwollende Präsenz« oder »Halt und Orientierung« explizit zum Ausdruck.

 

Wir haben uns bemüht, uns möglichst auf die Phase der Adoleszenz zu konzentrieren, also etwa die Zeit vom 16. Altersjahr bis ins junge Erwachsenenalter. So kann das Buch Lehrpersonen und Eltern dienen, wenn sie sich über Jugendliche informieren wollen, die in einer Berufslehre oder in der Sekundarstufe sind. Damit grenzt es sich von Publikationen ab, die sich all­gemein mit der »Jugendzeit« oder mit der »Pubertät« beschäftigen. Im vorliegenden Werk wird zum Beispiel nur dann auf »pubertäre« Phänomene Bezug genommen, wenn sie sich auch noch in der Adoleszenz bemerkbar machen.

Das Buch ist so aufgebaut, dass man es als »Lesebuch« verwenden kann, indem man sich einen Überblick über aktuelle Themen der Adoleszenz verschafft. Es kann aber auch als Nachschlagewerk oder als Arbeitsbuch Verwendung finden. Inhaltlich richtet es sich nicht spezifisch an Fachleute; pädagogisches oder psychologisches Vorwissen wird also nicht vorausgesetzt. Wer sich mit einigen Schwerpunkten der Adoleszenz vertraut machen will, findet hier einen Einstieg in die Thematik.

Esther Lauper und Michael De Boni

Zürich, im Januar 2013

Zu den Bildern in diesem Buch

Die Fotos in diesem Band stammen von Clara Neugebauer. Die 17-jährige Zürcherin hat nach dem Abschluss der Sekundarschule den gestalterischen Vorkurs an der F+F Schule für Kunst und Mediendesign besucht. Sie hat 2012 eine Ausbildung als Grafikerin begonnen. Für dieses Buch hat sie Jugendliche bei Aktivitäten, die ihnen am Herzen liegen, begleitet und fotografiert und ihren Berichten zugehört. Das Coverfoto der jungen »Fotografin mit Hund.h.t Noëmi Roos aufgenommen.

1 Besichtigung einer Großbaustelle

Das jugendliche Gehirn

Bestimmte Denk- und Verhaltensmuster treten fast nur in der ­Jugendzeit auf. Sie stehen in einem engen Zusammenhang mit den massiven Veränderungsprozessen im Gehirn, die in dieser Lebensphase stattfinden. Die Neurowissenschaften decken solche Zusammenhänge auf und liefern damit auch neue Anstöße und Einsichten für Erziehung und Unterricht. Das ist der Grund, weshalb wir den ­Gehirnfunktionen und ihrer Entwicklung ein eigenes, ausführliches Kapitel widmen.

In diesen Abschnitten stehen die folgenden Fragen im Zentrum:

• Welche Teile des Gehirns und welche Aspekte der Gehirnentwicklung spielen während der Adoleszenz eine besonders wichtige Rolle?

• Was ist das »frontale Phänomen«, wie zeigt es sich, und welche Funktion hat dabei das limbische System?

• Wie wirken sich die neuronalen Veränderungen auf das Verhalten und das Selbstbild von Jugendlichen aus?

• Was bedeuten diese Erkenntnisse fürs Lernen, für die Erziehung und den Unterricht?

Wir deuten aus neuropsychologischer Sicht jugendliche Verhaltensweisen, die sich anders nur schwer erklären lassen, und zeigen, was Jugendliche von uns Erwachsenen brauchen, um mit den neurologischen Veränderungen dieser Lebensphase möglichst produktiv umzugehen. Letztlich geht es um die Frage, mit welchen Mitteln und Maßnahmen wir zur Stabilisierung des Jugendgehirns beitragen können, um den Lern- und Ausbildungserfolg zu unterstützen. Dass Jugendliche in instabilen Entwicklungsphasen einer Außenstabilisierung bedürfen, ist unbestritten – sie werden uns dafür dankbar sein, zumindest im Nachhinein. Auf der anderen Seite wären allzu viele Interventionen von Erwachsenen eher kontraproduktiv. Das Jugendgehirn muss letztlich selbst lernen, Stabilisierungskräfte zu mobilisieren.

Hirnforschung und kognitive Psychologie

Das Wissen der Hirnforschung wächst derzeit fast explosionsartig. Viele »neue« Erkenntnisse der kognitiven Neurowissenschaften sind aber nicht im eigentlichen Sinne neu, sondern bestätigen lediglich Erfahrungswerte der Erziehungswissenschaften und der Psychologie. Die neuen bildgebenden Verfahren (Computertomografie) erlauben Einblicke in funktionale Prozesse des Gehirns. Das lässt auf naturwissenschaftlicher Basis Grundlagenforschung zu, wie sie vorher nicht möglich war. Dabei ergänzen sich die kognitiven Neurowissenschaften und die traditionelle kognitive Psychologie nahezu ideal.

Dass wir den Ergebnissen der Hirnforschung einige Bedeutung beimessen, heißt nicht, dass wir uns den neuen »Neuro-Mythen« (Jäncke 2009) verschrieben hätten, die den Diskurs zwischen kognitiven Neurowissenschaften, kognitiver Psychologie und Erziehungswissenschaften oft prägen. Die kognitive Psychologie hat exzellentes Wissen über Lernen aufgebaut, das den Pädagog/innen seit Jahrzehnten zur Verfügung steht. Diese Ansicht vertreten auch Blakemore und Frith: »Der Dialog zwischen den Disziplinen bedarf eines Vermittlers, damit nicht eine Disziplin über die andere dominiert. Beim Dialog zwischen Hirnforschung und Erziehungswissenschaft ist der kognitiven Psychologie diese Rolle geradezu auf den Leib geschnitten. Wir meinen, dass die Hirnforschung am ehesten auf dem Weg über kognitive Psychologie Eingang in die Lehr-Lern-Forschung finden kann« (Blakemore/Frith 2006, S. 23).

Allerdings sind wir gleichzeitig überzeugt, dass dank neuem Wissen über die Plastizität des Gehirns – zum Beispiel über die Reifungsprozesse im Frontalcortex und die Umbauprozesse während der Phasen der jugendlichen Reife – das Verhalten Jugendlicher besser verständlich wird. Ähnliche Ansichten vertritt auch Jäncke (2009), wenn er darauf hinweist, dass aktuelle Befunde aus dem Umfeld der Neurowissenschaften für Lehrpersonen von Interesse sind und »neue Denkanstöße« für den Schulalltag liefern können.

Unser Augenmerk gilt nicht nur den »rein kognitiven« Lernprozessen, sondern vor allem auch den Hirnprozessen, die emotionales und soziales Verhalten beeinflussen. Hier kann die Neurowissenschaft sogar völlig neue Erkenntnisse bieten. Um den Rahmen nicht zu sprengen, werden im Folgenden nur ausgewählte Schwerpunkte aus der neueren Forschung berücksichtigt.

Gehirnentwicklung in der Adoleszenz

Jugendliche sind von der frühen Adoleszenz bis ins junge Erwachsenenalter (bis ca. 22 Jahre) dramatischen psychischen und physischen Veränderungen unterworfen. Neben der Geschlechtsreifung und dem Körperwachstum sind es vor allem zentrale Umstrukturierungsprozesse im Gehirn, die sich bemerkbar machen. Es findet ein massiver neuronaler Umbau statt – so massiv, dass Jugendliche in bestimmten Situationen nicht mehr wissen, wer sie sind und was sie tun. Innere Impulse führen zu Spontanhandlungen, deren Folgen nicht realisiert oder einkalkuliert werden. Das folgende Beispiel einer solch unkontrollierten Handlung hat uns ein Vater berichtet: Seine Tochter hatte seine neue Designerhose auf einem Wäschestapel gefunden. Sie nahm eine Schere und schnitt die Hosenbeine ab, weil sie die Hose mit dem neuen Zuschnitt einfach »so cool« fand. Selbstverständlich ging sie anschließend in der neu designten Hose auch zur Schule und erntete bei ihren Mitschülerinnen Komplimente.

Wie kann es zu solchen für Erwachsene nicht nachvollziehbaren Handlungen kommen? Die Antwort ist einfach: Das Gehirn selbst produziert in der Phase der Adoleszenz manchmal Kurzschlüsse. Um das zu verstehen, müssen wir einige wesentliche Entwicklungsprozesse kennen, die vor allem in der frühen Phase der Adoleszenz stattfinden, also kurz nach Beginn der Pubertät, und bis über das 20. Altersjahr hinaus wirksam sind. Betrachten wir zunächst die einzelnen Puzzleteile, damit wir am Schluss das ganz.B.ld zusammenstellen und die Zusammenhänge besser verstehen können.

Neuronale Veränderungen

Die Hirnregionen, die während der Jugendphase bis ins junge Erwachsenenalter einem dramatischen Umstrukturierungsprozess unterliegen, sind in den beiden folgenden Abbildungen kursiv gesetzt.



In den präfrontalen Regionen des Gehirns, den vorderen, stirnseitigen Bereichen der Großhirnrinde, und in den orbitofrontalen Regionen (orbito = Augenhöhle, also die über den Augen liegenden Regionen) befinden sich wesentliche Hirnbereiche, in denen sogenannte »Exekutivfunktionen« angesiedelt sind. Sie haben die Aufgabe, Handlungsentwürfe vorzubereiten und den Handlungsablauf genau zu planen, Impulse und Affekte zu unterdrücken, sich situationsgerecht zu verhalten, widersprüchliche Informationen gegeneinander abzuwägen und Entscheidungen zwischen mehreren Alternativen zu fällen. Zu diesen Funktionen gehören auch die Fähigkeiten, die Aufmerksamkeit gezielt auf etwas zu richten, sich auf eine wichtige Sache über längere Zeiträume zu konzentrieren, gleichzeitig mehrere Aufgaben zu überblicken und verschiedene Dinge gleichzeitig zu tun. Regionen in der Großhirnrinde im Bereich des Übergangs vom Frontal- zum Schläfenlappen sind ferner wichtig für die Selbstwahrnehmung und das Selbstgefühl.

In den frontalen Bereichen des Gehirns sind also wichtige Funktionen angesiedelt, die für die Affektkontrolle, die Selbststeuerung, Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein zuständig sind. Ausgerechnet das Frontalhirn ist nun die Gehirnregion, deren Entwicklung am spätesten abgeschlossen wird. Das ist der Grund, weshalb »das Betriebssystem« des neuronalen Netzwerks, das für die differenzierte Steuerung der emotionalen und sozialen Prozesse zuständig ist, während der gesamten Adoleszenz noch nicht verlässlich funktioniert.





Die Entwicklung des menschlichen Gehirns

Wie entwickelt sich das menschliche Gehirn von der Geburt bis zum Ende der Adoleszenz?

Schon seit Jahrzehnten ist bekannt, dass das Hirnwachstum, genauer die Vermehrung der Nervenzellen und ihrer Verbindungen, von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter nicht linear und gleichmäßig verläuft, sondern dass schubweise große Umstrukturierungsprozesse stattfinden.

• Im ersten Lebensjahr nach der Geburt bilden sich sehr viele Synapsen; das Gehirn produziert eine riesige Menge von Schaltstellen (erste Welle der Synapsenbildung, auch Synaptogenese genannt). Dieser Prozess erreicht seinen Höhepunkt am Ende des ersten Lebensjahres.

• Anschließend werden in den meisten Hirnregionen die Verbindungen optimiert. Die gebrauchten Verbindungen bilden ihre Synapsen aus; die ungebrauchten werden abgebaut. Diese Hirnbereiche verbessern dadurch ihre Funktionalität.

• Mit etwa sechs Jahren erreicht das Gehirn ca. 95 Prozent seiner Erwachsenengröße. In diesem Alter ist auch die absolute Masse der grauen Hirnsubstanz am größten.

• Die graue Substanz (Nervenzellen) erreicht die größte Dichte im Frontalcortex etwa mit 12 bis 14 Jahren. Es findet vor der Pubertät noch einmal eine rasche Vermehrung der Synapsen statt (zweite Welle der Synapsenbildung; Blakemore/Frith 2006).

• Nach Beginn der Pubertät nimmt die Synapsendichte langsam ab, und die weiße Substanz (Myelin) nimmt zu. Das Myelin ummantelt die Nervenfasern und macht sie leistungsfähiger. Das Volumen der frontalen Hirnregion bleibt dabei gleich. Dies bedeutet, dass in der Pubertät diese Region mit der Neu- und Umverdrahtung ihres Hirngewebes beginnt und dass die bereits erwähnten Exekutivfunktionen erst in dieser Phase optimiert werden. Dem jugendlichen Gehirn gelingt der Umgang mit sich selbst und mit der Welt immer besser.

Welchen Sinn hat der Abbau vieler Nervenfasern und Schaltstellen? Da nur die genutzten Verbindungen bestehen bleiben, wird die Hirnleistung effizienter. Die ungenutzten oder schlecht genutzten Verbindungen stören den Betrieb nicht mehr. Die Intelligenz einer Person hängt nicht von der absoluten Menge der aktivierten Hirnzellen ab. Hirnscans haben bestätigt, dass Menschen mit hoher und effizienter Hirnleistung beim Denken nicht unbedingt mehr Hirnregionen aktivieren, sondern eher weniger als Personen, die beim Problemlösen mehr Zeit brauchen. Das Prinzip heißt: »Weniger ist mehr«, es müssen aber die »richtigen« Verbindungen aktiviert werden. Eine effiziente »neuronale Verdrahtung« kommt offensichtlich mit weniger »Hardware« aus.

 

• Die Entwicklung des Feintunings der Synapsenbildung und der neuronalen Vernetzung dauert während der ganzen Adoleszenz an. Das Gehirn strukturiert sich aufgrund der täglichen Anforderungen immer besser. Die neuronale Struktur, also unser Gehirn, ist letztlich das Abbild der vielen Aufgaben, die es zu bewältigen galt und gilt. Man kann sich gut vorstellen, dass exzessiver Fernsehkonsum und übermäßiges »Gamen« in einer künstlichen, virtuellen Welt am Computer während der Kindheit und Jugendzeit das Gehirn anders »verdrahtet« als das Aufwachsen in einer natürlichen Umgebung, die das Spiel mit lebendigen Wesen ermöglicht. Dabei ist anzumerken, dass es nicht das Spielen oder der TV-Konsum an sich ist, was sich problematisch bemerkbar macht, sondern der Verlust einer natürlichen Umgebung, auf die unsere Sinne angelegt sind.

• Neue Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Zunahme der weißen Substanz bis weit ins Erwachsenenalter (etwa bis 30 Jahre) anhält. Die »Neu- und Umverdrahtung« oder Plastizität des Gehirns kann bis ins höhere Alter beobachtet werden. Lernen hält das Gehirn auch im Alter fit.