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Am Ende waren nur noch sie und der schmächtige Junge mit der Brille übrig. Das war gut, denn auch er war offenbar sehr wortkarg und sie hatte ohnehin keine Lust, mit besonders vielen Menschen zu reden. Am besten mit möglichst wenigen. Sie hatte ja schon mit Irla, Deor, Deas, Yewan, Wadne, Valria, Elly und … einer Menge anderen Menschen geredet. Da mussten es nicht zwingend noch mehr werden.

Die erste Übung war einfach und Neolyt verstand nicht, warum ausgerechnet sie damit anfangen sollten, bis er sich an der Übung versuchte.

„Es ist doch wirklich nicht schwierig, die Arme zu beugen und dann wieder zu strecken“, erklärte sie und sah ihm stirnrunzelnd dabei zu, wie er versuchte, sich vom Boden hochzustemmen.

„Ja, aber wenn da noch der ganze Körper mit daraufliegt, ist das deutlich schwieriger“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Das mag sein, aber es ist kein Grund, so zu tun, als sei man ein neugeborenes Rehkitz.“

„Wie bitte?“

„Ich habe gesagt, dass das sein kann, aber kein Grund dafür ist …“

„Ich meinte den Vergleich am Ende“, unterbrach er sie.

„Das Rehkitz? Ich finde das schon passend. Es sieht nämlich genauso aus, dich würde im Wald sicher kein Wolf anfallen.“ Sie hielt kurz inne. „Nein, sowieso nicht, du riechst ja nach Mensch.“

„Ich rieche nach Mensch? Natürlich rieche ich nach Mensch, ich bin ein Mensch, ebenso wie du.“ Die letzten Worte waren mehr Frage als Feststellung.

„Soll das heißen, du bist auch in Wirklichkeit ein Wolf?“, fragte Neolyt erfreut.

Der Junge setzte sich auf und sah sie interessiert an. „In Wirklichkeit ein Wolf?“

Neolyt lief rot an, als sie merkte, wie sehr sie sich verplappert hatte.

„Ich meine … Eigentlich … Jetzt mach schon die Liegestütze weiter.“

Doch der Junge rührte sich nicht.

„Unglaublich, eine äußerst interessante Genmutation. Ich bin übrigens Elnar.“ Er streckte ihr die Hand entgegen und sie nahm sie zögernd.

„Neolyt“, entgegnete sie. „Und jetzt versuch wenigstens eine Liegestütze.“

Mit Elnar war es tatsächlich zum Heulen. Und damit war der wasserreiche, emotionale Ausbruch unter Menschen gemeint und nicht das äußerst effiziente Verständigungssystem der Wölfe. Es war nämlich so, dass er, sobald er einen Liegestütz geschafft hatte, der Meinung war, das würde reichen und sich bei keiner anderen Übung mehr Mühe gab. So hatte Neolyt alle Hände voll zu tun, ihn immer und immer wieder anzuspornen, doch noch wenigstens einen einzigen Klimmzug zu machen.

Schließlich machte er ihr ein paar Tage später in einer Trinkpause ein Angebot. „Na schön, ich werde mich ab heute anstrengen.“

Sie zog überrascht die Augenbrauen hoch. „Na großartig. Hast du endlich eingesehen, dass du nicht besonders lange ohne Muskeln wirst überleben können?“

„Vielen Dank, sehr freundlich, ein paar Muskeln hab ich doch“, entgegnete er, worauf Neolyt ihn skeptisch ansah. „Ist schon gut. Nein, was mich eigentlich dazu bringen würde, wäre die Erfüllung zweier Bedingungen deinerseits.“

„Du weißt doch, dass ich mit den ganzen komischen Sätzen nicht klarkomme. Bitte sag es so, dass auch ein normaler Wol… Mensch es versteht.“

„Normale Menschen können gute Formulierungen verstehen. Aber gut: Wenn ich mich anstrengen soll, dann gibst du mir eine Probe deines Blutes, redest mehr mit anderen Menschen und lässt dich von mir in unserer Sprache unterrichten.“

„Drei Sachen? Wozu brauchst du mein Blut? Und warum sollte ich mehr mit anderen Menschen reden? Wenn sie reden wollen, können sie doch anfangen. Außerdem rede ich schon mit mehr Menschen als Wölfe in meinem Rudel waren, das reicht doch.“

„Dann ist es also in Ordnung, dass ich dir beibringe, facettenreicher zu sprechen?“

„Das machst du mit Absicht, stimmt’s?“

„Tut mir leid, ich konnte der Versuchung nicht wider­stehen.“

„Schon gut. Und nein, ich hab das nur nicht eingesehen, weil ja wohl schon zwei Sachen für eine Sache eine Sache zu viel sind und drei dann zwei zu viel wären.“

„Wenigstens rechnen kannst du“, murmelte Elnar. „Überleg doch mal. Du müsstest nur drei Bedingungen erfüllen, aber ich müsste die ganzen Übungen schaffen. Und das sind mehr als drei.“

Neolyt hatte das Gefühl, als hätte er sie gerade zu etwas überredet, was sie eigentlich nicht wollte, und das mit dem, was sie gesagt hatte. Verrückt.

„Ja, stimmt. Na schön. Aber nur, wenn du dir wirklich Mühe gibst.“

„Weiter geht’s, ihr habt jetzt genug gefaulenzt!“ Das Krafttraining wurde nicht mehr von Wadne beaufsichtigt, sondern von einem älteren Schüler, der es offensichtlich genoss, sie herumzukommandieren.

In der halben Stunde nach dem Krafttraining überredete Elnar sie, mit auf die Krankenstation zu kommen.

„Warum jetzt? Nach dem Mittagessen hätte es doch auch gegangen.“

„Wäre.“

„Was?“

„Wie bitte.“

„Ich habe Was? gesagt.“

„Das habe ich gehört, aber richtig heißt es Wie bitte. Und außerdem steht das Partizip zwei von gehen im Konjunktiv mit wäre und nicht mit hätte.“

„Was?“

Elnar blieb stehen, schloss kurz die Augen und drehte sich dann zu ihr um.

„Tu mir wenigstens den Gefallen und sag Wie bitte, wenn du etwas nicht verstanden hast.“

„Aber warum denn? Auf Was? kriegen ich und alle anderen auch immer eine Antwort.“

Elnar wandte sich wieder um und ging wortlos weiter. Neolyt war sich sicher, dass sie irgendetwas gesagt hatte, das ihn verärgert hatte.

Endlich kamen sie auf der verlassenen Krankenstation an.

„Bist du sicher, dass wir hier sein dürfen?“, flüsterte Neolyt. Ihr war der menschenleere Saal unheimlich.

„Natürlich, ich bin Aushilfspfleger, ich darf hier sein, wann immer ich will, bloß nicht nach Nachtruhe.“ Ziel­strebig schritt er auf ein kleines Schränkchen zu und kramte darin herum. „Setzt dich schon mal dahin.“

Da er auf nichts gezeigt hatte, nahm Neolyt kurzerhand auf dem ihm nächsten Bett Platz.

„Gut.“ Er kam mit einer Schlaufe und einem etwas kleineren gläsernen Behälter wieder. „Leg dir das mal um den Oberarm und zieh es ein bisschen fest.“

Es war nicht besonders angenehm, aber Neolyt tat, wie ihr geheißen. Währenddessen nahm Elnar ein Glasröhrchen und eine lange Nadel, die Neolyt misstrauisch beäugte.

„Hast du vor, mir damit in den Arm zu pieken?“

„Natürlich. Oder hast du gedacht, ich schlitze dir die Hauptschlagader auf?“ Er lachte, als wäre das eine unglaublich lächerliche Vorstellung.

„Die was?“, hakte Neolyt nach.

„Die Hauptschlagader. Glaub mir, das willst du nicht erleben.“

Neolyt glaubte ihm. Aber hauptsächlich, weil sie selbst nicht die geringste Ahnung davon hatte.

Es piekte etwas, als er die Nadel in die Haut steckte, und ein dünnes, rotes Rinnsal floss in das schmale Glasröhrchen.

„Gut, das war’s schon“, erklärte Elnar, zog die Nadel heraus und drückte ein Stück Stoff auf die Armbeuge. „Ich werde dir erzählen, was ich herausgefunden habe. Aber jetzt müssen wir uns beeilen.“

Im Gehen stopfte er das Glasröhrchen, das er mit einem Korken verschlossen hatte, in seine Tasche.

Mit nur wenigen Minuten Verspätung erreichte sie Deors Klassenzimmer.

Die Magie lief ausgesprochen gut. Auch in den anderen Fächern lernte sie schnell. Elnar gab sich in den Trainingsstunden tatsächlich ausgesprochene Mühe und Neolyt wich nicht mehr jedem Gespräch aus, auch wenn sie immer noch nicht verstand, was das bringen sollte. Zu ihrem Glück war Elnar noch nicht dazu gekommen, den angedrohten Sprachunterricht zu beginnen, doch wann immer er ihr über den Weg lief und ihr eine seiner Meinung nach sprachverunstaltende Redewendung entschlüpfte, korrigierte er sie und hängte gleich noch einen Vortrag über etwas, was er Grammatik nannte, dran. Doch alles in allem war er ein netter Kerl.

Vier Wochen später eröffnete Wadne ihnen nach einer besonders guten Trainingsstunde, dass sie von nun an auch mit dem Schwertkampf anfangen würden. „Aber glaubt bloß nicht, ihr wärt den Dolch für immer los.“ Mit einem Kopfnicken verabschiedete sie sie.

„Und ich dachte schon, jede Anstrengung sei umsonst“, meinte Elnar beim Hinausgehen. „Ich habe übrigens etwas äußerst Interessantes herausgefunden. Vielleicht kommst du heute Abend nach dem Abendbrot einmal mit Deor im Krankensaal vorbei.“

„Ich sag ihm Bescheid. Was hast du herausgefunden?“, hakte sie nach, doch Elnar lächelte nur geheimnisvoll und bog in den Gang der Bibliothek ab.

Neolyt hatte nicht den blassesten Schimmer, wo Deor zu dieser Tageszeit sein könnte, und ging daher erst einmal auf ihr Zimmer, um die Hausaufgaben zu erledigen, die sich inzwischen angesammelt hatten.

Als es Zeit für das Abendessen wurde, hatte Neolyt gerade die Hälfte der Hausaufgaben erledigt. Ihre langsame Handschrift war ihr noch immer hinderlich. Sie träumte noch davon, einmal so schnell wie Elly schreiben zu können, obwohl sie gesagt hatte, es wäre besser, langsam und inhaltsreich als schnell und inhaltslos zu schreiben. Vermutlich hatte sie recht, aber es kostete auch eine Menge Nerven, jeden Buchstaben einzeln malen zu müssen.

Zu ihrem Glück war Deor zur selben Zeit im Speisesaal wie sie. So konnte sie ihm gleich von Elnar erzählen.

„Du hast jemandem dein Blut gegeben?“

„Ja. Ist das schlecht?“, fragte sie, von seiner Miene verunsichert.

„Nun, wenn er es nicht allzu vielen Leuten erzählt hat, eher nicht.“

Auf dem Weg zum Krankensaal schwiegen sie beide. Deor wirkte angespannt und Neolyt hatte das Gefühl, einen unnötigen Fehler gemacht zu haben, und hielt lieber den Mund.

 

„Da seid ihr ja“, begrüßte Elnar sie. Er wirkte aufgeregt. „Guten Abend, Meister Deor.“

„Wie vielen Leuten hast du schon erzählt, was du herausgefunden hast?“, fragte Deor ohne Umschweife.

„Niemandem. Ich dachte mir, dass du es zuerst erfahren willst.“

„Sehr gut, das sollte am besten auch so bleiben. Dann zeig mal her.“

Elnar ging voraus und bedeutete ihnen, ihm bis zu einem merkwürdigen, kompliziert aussehenden Gerät aus Metall und Glas zu folgen.

„Was ist das?“, fragte Neolyt und betrachtete interessiert die vielen verschlungenen Metallröhren.

„Man nennt es Mikroskop. Damit kann man kleine Dinge bis auf das Hundertfache vergrößern. Ich habe damit und noch mit einigen anderen Geräten dein Blut untersucht, und was dabei herausgekommen ist, werdet ihr nicht glauben.“ Er hielt eine kleine Glasplatte hoch. „Hier sind ein paar Tropfen deines Blutes drauf, versetzt mit einer speziellen Lösung. Und jetzt schaut euch das einmal an.“ Er legte die Glasplatte in einen Schlitz des Gerätes ein, es surrte und summte einige Momente lang, dann trat Deor näher heran und sah in zwei der Röhren hinein.

„Womit hast du ihr Blut versetzt?“, wollte er wissen und sah Elnar an.

„Das ist Aleniktramenograpenolftan.“

„Aber im Blut ist nichts, was durch AMP grün gefärbt würde.“

„Das habe ich mir auch gedacht, deshalb habe ich etwas nachgeforscht. Und wenn man zu der Lösung hier noch passive Magie hinzufügt“, er nahm das Plättchen wieder heraus und tropfte eine farblose Flüssigkeit darauf, „und das erneut durch das Mikroskop betrachtet, kann man eine äußerst interessante Veränderung beobachten.“

Abermals sah Deor in die Röhren. Als er wieder aufsah, nickte er anerkennend. „Du bist noch Anfänger, oder? Wie kommt es, dass du so viel über solche Sachen weißt?“

„Mein Vater ist Heiler und berühmt für seine Forschungen. Außerdem ist Meisterin Karame meine Mentorin, so hatte ich von Beginn der Ausbildung an Zugang zu allen Instrumenten.“

„Ich hoffe doch, unter Aufsicht, nicht wahr?“, fragte Deor mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Nicht direkt. Ich habe einen Schlüssel zu den Räumen. Meisterin Karame meinte, man könne mir vertrauen.“

„Dann weiß sie von der Blutprobe?“

„Nein. Wie gesagt, ich hielt es für besser, zuerst dich und Neolyt von den Ergebnissen in Kenntnis zu setzen“, erklärte Elnar mit fester Stimme, doch in seinen Zügen spiegelte sich Unsicherheit. „Hätte ich es ihr erzählen sollen?“

„Ich werde das tun. Du wirst niemandem mehr ein Sterbens­wörtchen davon sagen, verstanden? Ich kann entscheiden, wer es erfährt, du behältst es einfach für dich.“

„Kein Problem“, entgegnete Elnar, doch sein Blick zeigte offene Neugier.

„Was ist denn mit meinem Blut?“, platzte Neolyt endlich heraus. Sie hielt ihre Unwissenheit nicht mehr aus.

„Du kannst aufgrund der besonderen Genkombination von Wolf und Mensch Magie spüren. Das ist eine äußerst ungewöhnliche und seltene Gabe, und damit niemand auf die Idee kommt, sie für seine Zwecke zu missbrauchen, halten wir es geheim.“

„Aha“, antwortete Neolyt, obwohl sie nicht alles verstanden hatte. „Ich habe aber noch nie Magie gespürt. Wieso wusste ich nicht, dass ich das kann?“

„Vermutlich, weil du bisher noch kaum mit Magie zu tun hattest und erst seit ein paar Monaten in der Lage bist, sie zu kontrollieren. Auf jeden Fall sollten wir die Ausbildung dieses Sinnes mit in unseren Unterricht einbinden.“

Bereits zwei Monate später gelangen die Konzentrations­übungen dazu immer besser. Neolyt hatte inzwischen ebenso wie viele der Anfänger die Grundprüfung im Schwertkampf bestanden, sogar Elnar hatte es mit Ach und Krach geschafft. Nun standen sie vor der Profilwahl.

„Du solltest das Profil Krieger wählen“, bekräftigte Yewan zum wiederholten Mal. Sie waren auf dem Weg in die Bibliothek, um ihre Hausaufgaben zu erledigen.

„Ja, du bist wirklich gut. Zumindest sagt das deine Prüfungsurkunde“, erklärte Elly und wedelte mit dem Pergament vor Neolyts Nase herum.

Diese schnappte es ihr aus den Fingern und betrachtete konzentriert die geschwungenen Buchstaben. Noch immer bereitete ihr das Lesen Schwierigkeiten, vor allem bei Handschriften, doch von Woche zu Woche ging es besser.

„Hab ich dir nicht erst letzte Woche gesagt, dass du nicht ständig an meinen Schreibtisch gehen sollst?“, fragte sie Elly.

„Ja, aber du sagtest, dein Ergebnis wäre in Ordnung, da wollte ich wissen, wie gut es wirklich war“, verteidigte die sich und grinste zwinkernd.

„Aber die Sterblichkeitsrate der Krieger ist um vierzig Prozent höher als die der Heiler. Das bedeutet, dass jeder neunzehnte Krieger eines unnatürlichen Todes stirbt“, gab Elnar zu bedenken

„Ach komm schon, Elnar“, widersprach ihm Yewan. „Die Statistiken sind immer noch vom Simeb-Krieg beeinflusst. Und es ist wirklich kein Wunder, schließlich kämpfen Heiler nicht.“ Die letzten Worte sprach er mit deutlicher Herablassung aus.

„Sie kämpfen oft gegen gefährlichere Gegner als die Krieger“, konterte Elnar. Für ihn war klar, er würde das Profil Heilung wählen, alles andere kam nicht in Frage.

„Ja, Schnupfen und Magenverstimmung“, spottete Yewan. Neolyt hatte das Gefühl, dass die beiden nicht besonders gut miteinander klarkamen. Sie war sich dabei jedoch nicht sicher, Menschen waren so viel undurch­schaubarer als Wölfe.

„Oder auch Cholera und Schnepfenpest“, entgegnete Elnar todernst.

Bei dem letzten Wort prustete Elly laut los. „Schnepfenpest?“

„Ganz richtig, das ist eine tödliche Krankheit, die durch Schnepfen übertragen wird und nur äußerst schwer heilbar ist.“

„Was sind Schnepfen?“, fragte Neolyt dazwischen.

Es war Yewan, der ihr antwortete: „Die gehören zur Familie der Gnomenfeen, fiese kleine Viecher.“

Sie hatten mittlerweile die Bibliothek erreicht und warteten am Eingang auf Deas, der gerade aus einem der Gänge kam, um sie ins Besucherbuch einzutragen.

„Na ja, solange du nicht zu den Räten gehst, hast du meine volle Unterstützung“, erklärte Yewan und lachte.

„Was du nur ständig gegen Ratssprecher hast“, bemerkte Neolyt verwirrt. „Sie haben dir doch gar nichts getan.“

„Nein, aber du wirst es spätestens dann verstehen, wenn in Geschichte der Aufstand der Piliar behandelt wird. Solche Ignoranz muss man erst einmal zustande bringen.“ Er schüttelte den Kopf.

Die Ratssprecher mussten damals etwas falsch gemacht haben, soviel verstand Neolyt, doch trotz Elnars ständigen Belehrungen gab es Fremdwörter, die sie nach wie vor nicht kannte. „Was bedeutet Ignoranz?“, fragte sie darum.

„So viel wie etwas nicht beachten“, erklärte Yewan und schlenderte, nachdem Deas sie eingetragen hatte, weiter bis zu seiner Stammecke, die inzwischen auch oft von Elnar, Neolyt und Elly in Beschlag genommen wurde.

Neolyt betrachtete versonnen einen singenden Kerzenhalter, während sie zwei kleine Lichtkugeln schweben ließ. Es fiel ihr inzwischen nicht mehr schwer, mit Magie etwas zu bewirken, weswegen Deor sie oft den Nachmittag über Übungen erledigen ließ, die er erst am nächsten Morgen kontrollierte. Er hatte Yewan beauftragt, sie dabei zu beaufsichtigen.

Mit einem Plopp verschwanden die Lichter und Neolyt sah auf ihren Zettel. Nur noch zwei Aufgaben, dann hatte sie ihre Freizeit. Nachdem sie einige Sekunden lang Yewans Feder fixiert hatte, nahm diese mit einem Puff und einer gewaltigen Rauchwolke die giftgrüne Färbung an, die Neolyt vorschwebte.

„Ohne Ton und Rauch ist es richtig. Und nimm ’ne andere Farbe.“ Yewan zuckte kurz mit der Feder, die wieder braun wurde.

Der Kerzenhalter trällerte noch immer vor sich hin, als Neolyt schließlich laut- und rauchlos die Feder blau färbte.

„Hübsch.“ Er musterte sie amüsiert. „Vielleicht lass ich das so.“ Er zwinkerte ihr zu.

Seufzend legte Elly ihre eigene Feder weg und schraubte das Tintenfass zu.

„Ich muss jetzt los, viel Spaß noch“, erklärte sie nach einem kurzen Blick auf das Gerät an ihrem Arm, dessen Name Neolyt ständig vergaß. Die anderen nickten ihr zu und vertieften sich wieder in ihre Aufgaben.

„Was heißt das hier?“, fragte Neolyt schließlich und streckte Elnar den Zettel hin.

„Da steht, du sollst …“ Er hielt inne und sah sie bedeutungsvoll an, doch sie verstand nicht.

„Was?“, hakte sie darum nach.

Bevor Elnar weitere Andeutungen machen konnte, hatte Yewan sich herübergebeugt und ihm den Zettel aus der Hand gerissen.

„Was heißt das, du sollst wieder üben, Magie zu spüren?“

Einen Moment lang sagte niemand etwas. Nur der Kerzenhalter schmetterte eine dramatisch laute Arie.

„Ich glaube, wir können es ihm sagen“, meinte Neolyt schließlich zu Elnar.

„Aber Deor hat ausdrücklich befohlen, dass das unter uns bleibt.“

„Worüber redet ihr?“, rief Yewan, bevor Neolyt etwas erwidern konnte.

„Ich kann spüren, wo Magie ist“, erklärte Neolyt. „Weil ich Mensch und Wolf bin und es etwas mit … Gähnen zu tun hat“, schloss sie unsicher.

„Mit deinen Genen“, berichtigte Elnar sie. „Die besondere Verteilung an Wolfs- und Menschengenen hat einen Stoff hervorgebracht, der auf Magie reagiert.“

„Und deswegen kannst du Magie spüren?“

„Noch nicht so richtig“, gestand sie, doch Yewan hatte wohl gar nicht zugehört.

„Das ist ja total irre! Und uns wird immer beigebracht, es wäre unmöglich, Magie irgendwie wahrzunehmen.“

„Hey!“, unterbrach Elnar ihn. „Halb so laut wäre auch ausreichend. Wir sind nicht schwerhörig und das muss auch nicht gleich jeder wissen. Besser gesagt, darf das absolut niemand wissen. Am besten erzählst du es auch nicht Deor. Er wird uns guillotinieren, wenn er erfährt, dass du es von uns weißt.“

„Keine Sorge, ich werde schweigen wie ein Grab“, versicherte Yewan, stand auf und versetzte dem Kerzenhalter einen Klaps, woraufhin dieser verstummte.

Gabe oder Fluch.

Wolf und Mensch

Schon zwei Wochen später bestätigten sich Neolyts Zweifel an Yewans Beteuerung, das Geheimnis für sich zu behalten. In einer Pause zwischen zwei Schwertkampfstunden betrat Deor die Halle und eilte auf sie zu.

„Ravela, Deor“, sprach sie die traditionelle Begrüßung der Reiter und stellte die Wasserflasche beiseite. Sie hatte sich trotz Elnars Bitten für die Kämpferausbildung entschieden und auch er hatte eingesehen, dass dies ihrer Natur und ihrem Talent entspräche, was sie nicht ganz verstanden hatte, aber sie war froh gewesen, dass er ihr nicht böse war. Denn inzwischen wurden ihr ihre Freunde unter den Menschen, Elly, Yewan, Elnar und auch Deor, tatsächlich wichtig. Mit anderen redete sie hingegen nach wie vor ungern. Womöglich war es freundlich gemeint, wenn Deas sie gelegentlich ansprach, doch sie fühlte sich stets in die Ecke gedrängt, bedroht.

Sofort erkannte sie, dass Deor nicht gut gelaunt war.

„Ravela, Neolyt“, antwortete er ihr und fuhr ohne Umschweife fort: „Was um alles in der Welt hat euch dazu getrieben, es Yewan zu verraten? Du kennst ihn doch! Du weißt, dass er gern die Ernsthaftigkeit einiger Tatsachen ignoriert.“

„Aber er wird es niemandem verraten“, sagte sie, obwohl sie sich da inzwischen nicht mehr sicher war.

Deors Antwort überraschte sie. „Ja, jetzt wird er kein Wort mehr darüber verlieren. Ich möchte nur, dass auch du und Elnar niemandem mehr davon erzählt.“

Unter seinem eindringlichen Blick kam sie sich noch kleiner vor. Und wieder in die Enge gedrängt. Beinahe automatisch ging sie zum Angriff über.

„Ich würde wirklich gerne wissen, was es mit diesem sechsten Sinn auf sich hat, dass er so geheim bleiben muss!“, brauste sie auf.

Kurz erschrocken, zuckte Deor zurück, dann sah er sie besorgt an. „Du fühlst dich noch immer von Menschen bedroht.“ Es war keine Frage und einen Moment lang schämte Neolyt sich dafür.

„Ich bin ein Wolf und der Mensch war mein ganzes Leben lang ein Feind.“ Ihre Verteidigung fiel nicht annähernd so selbstsicher aus, wie sie gehofft hatte.

„Vergiss nicht, dass du selbst auch ein Mensch bist“, erinnerte Deor sie und wandte sich zum Gehen.

Neolyt blieb allein zurück und betrachtete unsicher und sorgenvoll ihre menschlichen Hände.

Natürlich hatte Deor längst bemerkte, dass Neolyt etwas beschäftigte. Oft hatte sie während der Übungen die Konzentration verloren und zerstreut gewirkt, zweimal sogar hatte sie vergessen, einen Aufsatz für die Zauberwesen- und Pflanzenkunde zu schreiben. Doch immer, wenn er sie gefragt hatte, ob etwas nicht stimme, hatte sie geschwiegen und den Kopf geschüttelt.

 

Etwa drei Wochen später hatten die Schüler Ausgangstag. Natürlich war ihnen eingeschärft worden, auf keinen Fall Magie anzuwenden, doch da die Zeit kaum reichte, in das nächste Dorf zu gelangen, und die meisten Schüler daher im Wald blieben, hielt sich ohnehin niemand daran.

Gelangweilt schlenderte Yewan unter den kahlen Baumkronen dahin. Er hätte bleiben und seinen Streich weiterplanen sollen, anstatt sich hier draußen in der klirrenden Kälte den Hintern abzufrieren. Nicht mehr lange, dann würde es schneien. Trotzdem tat ihm ein bisschen ungefiltert frische Luft sicherlich gut. Noch maximal eine Stunde, dann würde er sich auf den Rückweg machen. Einer Eingebung folgend schlug er die Richtung zum See ein. Er mochte den Platz, es war ruhig und weit und man hatte endlich seinen Frieden. So gern er sich auch unter das Volk mischte und dort seine Späße trieb, manchmal brauchte er Zeit für sich. Als er zwischen den Bäumen hervor auf den Kiesstrand trat, sah er einen Wolf am Ufer stehen. Es dauerte einen Moment, bis ihm klar wurde, wer das war.

„Neolyt?“, fragte er leise und machte einen Schritt auf sie zu. Die Steine knirschten unglaublich laut unter seinen Füßen und das Geräusch hallte über den See.

Erschrocken fuhr Neolyt herum und nahm wieder ihre menschliche Gestalt an. Es war das erste Mal, dass Yewan sah, wie sie sich verwandelte, und er war schwer beeindruckt, wie schnell und scheinbar mühelos ihr das gelang.

Ein paar Schritte vor ihr blieb er stehen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie offenbar geweint hatte, glitzernde Tränenspuren zogen sich über ihre Wangen. Ihr war wohl sein Blick aufgefallen, denn sie drehte sich kurz weg und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht.

„Alles in Ordnung?“, fragte er und machte einen weiteren unsicheren Schritt auf sie zu.

Neolyt sah ihn an und wandte sich dann ab. Langsam schüttelte sie den Kopf.

„Was … ist denn los?“, fragte er weiter und kam sich dabei schrecklich unbeholfen vor.

Sie antwortete ihm nicht, sondern schaute auf den See hinaus. Er schimmerte silbern im Spiegelbild des wolkenverhangenen Himmels.

„Es regnet gleich“, flüsterte sie schließlich mit brüchiger Stimme.

„Neolyt, du solltest deine Sorgen nicht mit dir allein herumtragen. Das wird dich kaputt machen. Wenn du sie mir nicht erzählen willst, dann vielleicht Elly oder Deor.“

„Ich hab keine Sorgen“, fauchte sie und sah ihn wieder an.

„Deor hat erzählt, dass du oft die Konzentration verlierst und Hausaufgaben vergisst. Das passt nicht zu dir. Irgendwas stimmt nicht.“ Er sah sie eindringlich an und erkannte die plötzliche Angst in ihren Augen.

„Ich weiß nicht, wer ich bin!“, schrie sie ihn an und Tränen rollten ihr über die Wangen, während es mit einem Mal anfing, wie aus Kübeln zu regnen. Mit einer raschen Handbewegung errichtete Yewan einen Schild um sie, doch sie waren bereits bis auf die Haut durchweicht. Neolyt hielt die Arme krampfhaft vor dem Bauch verschränkt und blickte auf einen Punkt knapp über seiner linken Schulter.

„Was meinst du damit?“, fragte er vorsichtig.

„Ich bin Wolf und Mensch! Aber der Mensch ist der Feind des Wolfes! Wie kann ich zwei Gegensätze zugleich sein?“

Unbeholfen trat er noch einen Schritt näher.

„Das musst du nicht. Nicht alle Menschen sind gleich. Du bist ein guter Mensch und du bist mehr als nur eine Freundin der Wölfe. Lass dir von niemandem einreden, dich für eine deiner Seiten entscheiden zu müssen, sei einfach du selbst.“

Sie sah ihn schmerzhaft entgeistert an und im nächsten Moment umarmte sie ihn schluchzend. Unsicher legte er die Arme um sie und klopfte ihr vorsichtig auf den Rücken. Er hatte das Gefühl, etwas Starkes und doch sehr Zerbrechliches zu halten.

„Danke“, sagte sie schließlich und zog geräuschvoll die Nase hoch. Der Regen prasselte auf den Schild und den See, das Geräusch hatte etwas Beruhigendes. „Woher willst du wissen, dass ich ein guter Mensch bin? Ich weiß es selbst nicht einmal. Ich bin doch so selten Mensch.“

„Im Aussehen vielleicht, aber im Wesen bist du immer beides zugleich.“

„Kann man das mit Magie herausfinden?“

„Ich glaube schon, aber ich würde es mir nie erlauben, die Gedanken von jemandem zu lesen, der mir das nicht gestattet hat.“

„Und woher weißt du das dann?“, fragte sie drängender.

„Ich weiß es nicht“, gab er zu. „Aber wie sollte es anders sein? Du hast erzählt, du hättest deinen Bruder gerettet, obwohl es gegen die Gesetze des Rudels war. Und das ist etwas Gutes.“

„Ja“, sagte sie nur. Dann fuhr ein Lächeln über ihr Gesicht. „Danke.“

„Keine Ursache“, erklärte er und grinste.

„Was bist du für ein Mensch?“, fragte Neolyt.

„Das werde ich dir sicher nicht so leicht verraten“, antwortete er lachend.

„Aber du weißt, wer ich bin“, widersprach sie und zog die Stirn kraus.

„Das habe ich aber auch selbst herausgefunden“, meinte er, immer noch amüsiert grinsend.

„Aber ich kann das nicht! Ich habe vorher kaum Menschen getroffen und ich weiß nicht, wie man in euren, ich meine, in unseren Gesichtern lesen kann.“

„Das lernst du schon“, versicherte er ihr. „Lass uns ein Stück gehen, da hinten bei der Weide kann man sich gut hinsetzen.“

„In Ordnung.“ Sie sah ihn unsicher an. „Darf ich ein Wolf sein?“

„Du kannst deine Wolfsgestalt annehmen, wann immer du willst.“

Sie nickte dankbar, dann floss ihre menschliche Gestalt zurück in die einer Wölfin. Lächelnd sah Yewan ihr nach, wie sie aus dem Schild hinaus in den Regen lief und über die nassen Steine sprang. Etwas in ihm regte sich, wenn er sie so sah. Aber wusste nicht genau, was.

Sie braucht ihn, doch darf ihn nicht brauchen.