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Loe raamatut: «Die Träger des deutschen Idealismus»

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Meinen lieben Söhnen

Arnold und Walter,

die beide im Felde stehen


Zum Geleit

Dies Buch will kein Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung sein, es möchte allen Gliedern des deutschen Volkes dienen, welche die Erfahrungen unserer gewaltigen Zeit mit voller Seele teilen. Ungeheures geht bei uns vor, Ungeheures müssen wir wirken und leiden, Ungeheures fordert von uns die eherne Gegenwart. Um dem gewachsen zu sein, bedürfen wir nicht nur seelischer Kraft, sondern auch eines freudigen Vertrauens auf unser Volk, auf seine Tüchtigkeit und seine Größe. Kann nun überhaupt die Vergegenwärtigung dessen, was an Großem bei uns und von uns geschah, solches Vertrauen stärken, so gebührt dabei auch den Denkern ein Platz, welche wir als Träger des deutschen Idealismus verehren. In schweren Zeiten haben sie vom Grunde ihrer Seele her eine geistige Welt entwickelt, welche bei aller Sorge für die Menschheit an erster Stelle deutsche Überzeugung und deutsche Gesinnung bekundet, sie zeigen uns deutlich die Tiefe und den Reichtum des deutschen Wesens, sie zeigen nicht minder deutlich, daß es darauf gerichtet ist, das Ganze des menschlichen Lebens zu heben, mehr aus dem Menschen zu machen, ihn durch die Entfaltung einer Innenwelt auch dem All enger zu verbinden. Ihr nun, die ihr kämpft, und auch ihr, die ihr leidet, ihr sollt sehen und wissen, daß das, wofür ihr kämpft und leidet, etwas Großes, etwas Einzigartiges, etwas Unentbehrliches ist, ihr sollt das erkennen nicht aus lehrhaften Reden, sondern aus dem Bilde der Männer selbst, die ihr Leben an höchste Ziele setzten, die auf ihrem Gebiet ebenfalls tapfere Kämpfer waren, und denen das Streben nach Wahrheit eine viel zu ernste, viel zu aufregende Sache war, als daß Sorge und Schmerz sie hätten verschonen können. Möchte die Vergegenwärtigung ihrer Lebensarbeit euch in eurem Ringen wohltuend sein, möchte sie euch in dem Vertrauen bestärken, daß unsere deutsche Sache mit all dem Hohen und Heiligen, was sie enthält, zum Siege gelangen muß. Auch werdet ihr sehen, daß jene Männer den Kampf für das Vaterland vollauf zu würdigen wußten; ihr seid ihre Erben, ihr dürft euch ihnen innerlich nahe fühlen.

Dies unserer Arbeit gesteckte Ziel entscheidet auch über ihre Wege, es setzt der Erörterung bestimmte Grenzen sowohl in der Auswahl des Stoffes als in der Art der Behandlung. Über das Nähere dieser Abgrenzung läßt sich verschiedener Meinung sein, darüber streiten wir nicht, wir geben nichts anderes als unsere eigene Überzeugung von diesen Dingen, indem wir meinen, daß eine solche Schrift entweder persönlicher Art sein muß oder überhaupt keine Berechtigung hat. So sei denn dieses Bild der Hauptträger des deutschen Idealismus kämpfenden und suchenden Seelen zu freundlicher Betrachtung empfohlen.

Jena, im zweiten Jahre des großen Krieges.

Rudolf Eucken.

Von Meister Eckhart bis Kant

Den Ausgangspunkt unserer Untersuchung hat Kant zu bilden. Denn so viel Schätzbares schon vor ihm auch in der Philosophie geleistet war, es ist uns das heute mehr ein Gegenstand gelehrter Forschung als ein Quell ursprünglichen Lebens.

Meister Eckhart

Kant vornehmlich hat die geistige Atmosphäre geschaffen, innerhalb derer der deutsche Idealismus seine eigentümliche Gestalt und seine hinreißende Kraft gewonnen hat; alles Spätere hat sich an ihm und von ihm aus entwickelt. Immerhin bedarf es einiger Worte der Erinnerung daran, daß die Denkarbeit der Deutschen nicht eine Leistung von gestern auf heute ist, wie unsere Gegner oft sagen, daß sie vielmehr von der Höhe des Mittelalters her an der Kulturbewegung einen stattlichen Anteil genommen hat. Dabei ist namentlich wertvoll, daß sie auch auf das Ganze unseres Lebens von alters her erhöhend gewirkt hat. Es geschah das vornehmlich nach zwiefacher Richtung: in einer geistigen Durchleuchtung und seelischen Annäherung der Religion, und in einer hohen Fassung und Schätzung des Erkennens selbst; beides hängt eng miteinander zusammen und entspringt derselben Hochhaltung der Innerlichkeit als der Hauptstätte von Leben und Wirken. Eine Verinnerlichung der Religion war das leitende Ziel der Mystik, diese aber findet ihre Höhe in der philosophischen Arbeit Meister Eckharts († 1327). All sein Denken ist darauf gerichtet, die Seele Gott unmittelbar zu verbinden, sie ganz und gar auf ihren göttlichen Ursprung als auf ihr wahres Wesen zurückzuführen, ihr in Ablegung aller unterscheidenden Besonderheit eine unvergleichliche Größe und Seligkeit zu erringen. Dazu aber bedarf es energischer Erkenntnisarbeit. Denn wohl hängt unser Wesen daran, daß Gott uns nahe und gegenwärtig ist, aber zur vollen Einigung mit ihm bedarf es der Arbeit des Erkennens. »Nicht schon davon sind wir selig, daß Gott in uns ist, sondern daß wir ihn erfassen und erkennen, wie nahe er uns ist. Denn was hülfe es einem Menschen, wenn er König wäre und wüßte es nicht?« Die dazu nötige Umwälzung aber, die Eckhart mit gewaltiger Kraft und in wunderbarer, deutscher Sprache anregt, ist nicht möglich ohne eine mutige Losreißung von allem Äußeren und eine völlige Wendung des Lebens ins Innere. »Will die Seele Frieden und Freiheit des Herzens in einer stillen Ruhe finden, so muß sie wieder heimrufen allen ihren Kräften und sie sammeln von allen zerstreuten Dingen in ein inwendiges Wirken.« So hat denn auch das Wort »Gemüt« als Bezeichnung für das innerste Heiligtum der Seele, die Abgeschiedenheit von aller Außenwelt, das »Fünklein« Gottes in uns, den auszeichnenden Sinn erhalten, in dem Fichte die Deutschen das Volk des Gemütes genannt hat. Diese Innerlichkeit erhebt die Religion über alle äußeren Formen und Einrichtungen, aber sie soll diese nach Eckhart nicht zerstören, sie wirkt bei ihm innerhalb der kirchlichen Ordnung, nicht gegen sie; dabei aber bleibt es, daß alles Äußere nur als Gefäß des inneren Lebens irgendwelchen Wert besitzt, und daß bei ihm volle Freiheit der Gestaltung herrschen muß. Denn nicht allen Menschen ist derselbe Weg gewiesen, »was des einen Leben, das ist des anderen Tod«.

Die mystische Bewegung konnte unmöglich die Höhe Eckharts dauernd behaupten, aber sie hat als ein, wenn auch oft verborgener Nebenstrom das deutsche Leben durch die Jahrhunderte treu begleitet und durchgängig zur Freiheit und Verinnerlichung gewirkt, sie hat auch auf protestantischem Boden Wurzel geschlagen und hier die merkwürdige, ja rührende Gestalt Jakob Böhmes (1575–1624) hervorgebracht, der als schlichter Schuhmachermeister schwerste Probleme in einer Weise behandelt hat, die immer von neuem tiefsinnige Geister zu ihm zurückrief. Schwer ringen sich bei ihm die Gedanken zu voller Klarheit auf; wo das aber gelingt, da erscheint eine großartige Kraft und Einfalt. Sein philosophisches Hauptproblem ist der Ursprung des Bösen, und wenn ihn dies Problem zu höchst gewagten Spekulationen führt, so hat es ihn die Gegensätze der Welt vollauf würdigen und in großen Zügen schildern lassen. So heißt es z. B.: »Um die Morgenröte scheidet sich der Tag von der Nacht und wird ein jedes in seiner Art und Kraft erkannt. Denn ohne Gegensatz wird nichts offenbar, kein Bild erscheint im klaren Spiegel, so eine Seite nicht verfinstert wird. Wer weiß von Freuden zu sagen, der kein Leid empfunden, oder vom Frieden, der keinen Streit gesehen oder erfahren hat?«

Dieselbe Gesinnung aber, welche aus der Seele eines schlichten Mannes quillt, fand auf der Höhe der wissenschaftlichen Arbeit volle Schätzung. Wir denken hier vornehmlich an Leibniz. Er, der weltumspannende und weltdurchdringende Forscher, nähert sich in tiefster Seele der Mystik, wie das namentlich seine deutschen Schriften zeigen. Aus ihrer Denkweise stammen z. B. die Worte: »Gott ist das Leichteste und Schwerste, so zu erkennen, das Erste und Leichteste in dem Lichtweg, das Schwerste und Letzte in dem Weg des Schattens.«

Deutsche und englische Denkart

Es stellt sich aber die deutsche Philosophie über die Mystik hinaus eigentümlich zur Religion, wesentlich darin verschieden von der Philosophie benachbarter Völker. Die englische Philosophie neigt dahin, Religion und Wissenschaft voneinander gänzlich zu trennen, sie gestattet es, hier und dort grundverschiedene Richtungen einzuschlagen; die französische stellt beide Gebiete leicht in schroffsten Gegensatz und zwingt, zwischen ihnen zu wählen; die deutsche möchte jedem sein Recht zuerkennen, beide aber in eine innere Verbindung bringen und das eine durch das andere fördern. Diese Denkart mag manche Gefahren enthalten, aber sie wirkt dahin, die Religion ins Weite, Freie und Innerliche zu bilden, in die Philosophie aber die Sorge um die höchsten Wesens- und Lebensfragen der Menschheit einzuschließen.

In anderer Richtung wirkte die deutsche Denkarbeit zur Erhöhung des Lebens durch die Art, wie sie das Erkennen selbst verstand. Es gilt ihr nicht als ein Mittel für außer ihm liegende Zwecke, sondern als ein völliger Selbstzweck, es trägt reinste Freude und Befriedigung in sich selbst, es liegt nicht in einer Reihe mit anderen Tätigkeiten, sondern es bildet die beherrschende Höhe des ganzen Lebens, von der nach allen Seiten hin Erleuchtung und Kräftigung ausgeht. Hier erscheint ein starker Gegensatz deutscher und englischer Art. Die englischen Denker neigen dahin, das Wissen als bloßes Mittel und Werkzeug für das praktische Leben zu behandeln, es genügt ihnen ein Erkennen, das dem Handeln gangbare Wege zeigt, so fehlt ihnen auch ein Antrieb, es über diese Grenze hinaus zu verfolgen, sie haben eine starke Scheu vor aller Metaphysik. Das schützt sie vor manchen Gefahren, aber es raubt ihnen zugleich die Größe eines Denkens, das die Menschenseele mit dem Ganzen der Welt und seiner Unendlichkeit ringen läßt und sie in solchem Ringen über das bloße Alltagsleben hinaushebt. Die Deutschen dagegen sehen eben in dem, was die Engländer eine Überspannung menschlichen Vermögens schelten, die tiefste Seele der Forschung, sie können nicht ruhen und rasten, bevor sie einen inneren Zusammenhang des Menschen mit dem All ergründet haben; so ist der Deutsche von Haus aus Metaphysiker, und er bleibt es selbst da, wo er eine Kritik an der überkommenen Metaphysik übt, wie das vornehmlich bei Kant geschieht.

Nikolaus von Kues–Kepler

Diese deutsche Schätzung des Erkennens teilen alle Höhen philosophischer Arbeit. Gleich bei demjenigen deutschen Denker, der die Philosophie der Neuzeit überhaupt eröffnet, bei Nikolaus von Kues (1401–1464) erscheint sie in klaren Zügen. Hier heißt es: »Immer möchte der Mensch was er erkennt mehr erkennen und was er liebt mehr lieben, und die ganze Welt genügt ihm nicht, weil sie sein Erkenntnisverlangen nicht stillt.« Eine ähnliche Denkweise beherrscht Keplers Streben und läßt ihn seinem astronomischen System eine philosophische und künstlerische Grundlage geben; läßt sich endlich höher vom Erkennen denken, als es Leibniz tut, wenn er meint, »die ganze Erde könne unserer wahren Vollkommenheit nicht dienen, es sei denn, daß sie uns Gelegenheit gibt, ewige und allgemeine Wahrheiten zu finden, so in allen Weltkugeln, ja in allen Zeiten und mit einem Wort bei Gott selbst gelten müssen, von dem sie auch beständig herfließen«? So nur einige hervorragende Stimmen aus der Reihe der deutschen Denker.

Solcher Schätzung ist untrennbar verbunden eine eigentümliche Gestaltung der Erkenntnisarbeit. Sie wird nicht darauf beschränkt, die Eindrücke der Umgebung aufzunehmen, zu ordnen und aufzuschichten, sondern sie erzeugt eine Bewegung von innen heraus und besteht darauf, alle Wirklichkeit in diese Bewegung hineinzuziehen; so will sie die Dinge von innen her fassen und bis zum tiefsten Grunde durchleuchten; in solchem Streben schafft sie große Gedankenwelten, in denen die Bewegung vom Ganzen zum Einzelnen geht und eine durchgehende Entwicklung alle Mannigfaltigkeit zusammenhält. Ohne Zweifel liegen große Gefahren auf diesem Wege, aber es sind Gefahren der Größe, nicht der Kleinheit.

Leibniz

In einer Umgebung, die eine hohe Schätzung des Erkennens und einen festen Glauben an die Macht des Denkens in sich trug, ist Immanuel Kant (1724–1804) aufgewachsen. Es war der Geist Leibnizens, der, durch Wolff schulmäßig auf Flaschen gezogen und dabei vielfach verdünnt, die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrschte. Diese Philosophie bildet die wissenschaftliche Höhe der gesamten Aufklärungszeit. Sie teilt mit dieser Zeit das unbedingte Vertrauen auf das Vermögen der Vernunft, aber sie faßt die Vernunft möglichst weit, so daß nichts von ihr unberührt bleibt, und daß sich die schroffsten Gegensätze durch ihr ausgleichendes Wirken versöhnen. Leibniz ist ein Denker des Sowohl – als auch, nicht des Entweder–oder. Durch und durch moderner Mensch, möchte er zugleich allen früheren Epochen volle Gerechtigkeit widerfahren lassen, Vernunft und Geschichte verbleiben ihm nicht in vorgefundener Entzweiung, sondern der Gesamtbefund der Geschichte wird als ein Werk der Vernunft verstanden, auch Religion und Vernunft werden zu engem Bündnis verknüpft. Indem er den Kern der Wirklichkeit in das Innenleben setzt und geistige Macht die Welt beherrschen läßt, wahrt er zugleich vollauf die selbständige Art der Natur; die unendliche Vielheit der Welt entzückt und beschäftigt ihn, aber zugleich bleibt sein Streben fest auf eine allumfassende Einheit gerichtet; er deckt überall Leben und Bewegung auf, aber er sucht zugleich eine ewige Wahrheit, die alle Bewegung trägt und zusammenhält. Um das Denken der Überwindung so schroffer Gegensätze für fähig zu halten, muß er sein Vermögen aufs höchste schätzen; indem er die kühnste Behauptung nicht scheut, ja am Spiel der logischen Phantasie aufrichtige Freude hat, erscheint er als der Hauptdenker der Barockzeit, als ein Ausdruck ihres schrankenlosen Kraftgefühls, ihrer Lust an gewagten Konstruktionen, aber auch ihrer unbegrenzten Bewegungsfülle. Sein ganzes System läuft in eine künstliche Hypothese aus, in die Hypothese der prästabilierten Harmonie, wonach Gott die Welt so eingerichtet habe, daß jedes Wesen sich lediglich aus sich selbst entwickele, sein Vorstellungsreich aus sich selbst erzeuge, daß dieses Vorstellungsreich aber ganz und gar dem wirklichen Weltgeschehen und der Stellung des Einzelwesens in ihm entspreche. Solche Künstlichkeit hat Leibniz viel Widerspruch eingetragen und die Wirkung seiner Gedanken gehemmt, aber die künstlichen Bildungen waren hier oft Hebel großer und fruchtbarer Wahrheit. Hier nämlich entspringen die Grundgedanken, welche das Schaffen unserer großen Dichter tragen, von hier aus wirkt die Idee einer in sich selbst gegründeten und zugleich weltumspannenden Persönlichkeit als eines Ebenbildes Gottes, von hier aus die einer Entwicklung von innen heraus und eines stetigen Fortschritts ins Unendliche, von hier aus wirkt ein fester Glaube an die Vernunft der Wirklichkeit und zugleich ein freudiges Lebensgefühl, eine Lust am Wirken und Schaffen, die einen verklärenden Glanz auch auf die Welt um uns wirft und ihr Ganzes als die beste aller möglichen Welten erscheinen läßt. Der wissenschaftlichen Arbeit aber hat Leibniz zusammen mit dem Zuge ins Weite einen starken Antrieb zu gründlicher Klärung und eindringender Analyse gegeben, seine Forschung zuerst hat die Unendlichkeit des Kleinen zur Geltung gebracht. Es ist viel logische Zucht von ihm ausgegangen; wie diese Zucht das 18. Jahrhundert durchdrang, so ist auch Kant in ihr aufgewachsen und ohne sie nicht zu denken.

Kant

Vor einer Befassung mit Kants Gedankenwelt sei mit einigen Worten seines Lebenslaufes gedacht, steht er doch in enger Beziehung zum Charakter seiner Arbeit. Kant (1724–1804) hat sich aus schlichtbürgerlichen Verhältnissen unter mannigfachen Hemmungen langsam emporgearbeitet, er hat auch seine geistige Eigentümlichkeit weniger als ein Geschenk der Natur empfangen, als sie sich mühsam durch Zweifel und Kämpfe hindurch errungen; er entspricht insofern der gemeinsamen deutschen Art, deren Größe weniger in leichter und glatter Naturbegabung als in treuer Arbeit und in unermüdlichem Vordringen zu höchsten Höhen liegt. Auch Kants Leben war Arbeit, harte Arbeit, aber eine Arbeit, die in die letzten Tiefen zurückgriff und den Gesamtstand des Lebens verändert hat. Sein tägliches Leben verlief in streng geordneter und vorsichtig abgemessener Weise; so sehr er ein offenes Auge für alle Mitteilung der Zeit und Umgebung hatte, es trieb ihn nicht in die Weite, um neue Eindrücke aufzunehmen – er hat seine ostpreußische Heimat nie verlassen –, noch weniger trieb es ihn zum Eingreifen in das praktische Leben, sondern all sein Mühen ging in höchster Konzentration dahin, die große Umwälzung, die sich seinem Denken erschlossen hatte, zu voller Klarheit herauszuarbeiten und nach allen Hauptrichtungen durchzubilden. Mag vieles in der Einrichtung seines bürgerlichen und häuslichen Lebens dem ersten Anblick klein und pedantisch scheinen, es hebt sich durch die Erwägung, daß es pflichtgemäß einer großen Aufgabe diente, die unermeßliche Arbeit forderte. Beim Eintritt in sein achtzigstes Lebensjahr schrieb Kant in sein Tagebuch das Psalmwort: »Des Menschen Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre, und wenn es köstlich ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.«

Gewissenhaftigkeit der Arbeit, peinliche Sorgfalt im kleinen, das ist auch ein Hauptzug der Kantischen Philosophie. Der völlige Bruch mit der Vergangenheit und die Eröffnung neuer Bahnen legte die Versuchung nahe, lediglich weite Ausblicke zu entwerfen und sich mit flüchtig hingeworfenen Umrissen zu begnügen. Nichts liegt Kant ferner als das. Die neuen Gedanken werden nicht bloß skizziert, sondern aufs genaueste bis ins einzelne durchgearbeitet und damit zugleich geprüft, alles Schwelgen im Allgemeinen, alles prunkhafte Pathos ist Kant so zuwider wie nur möglich, mit großer Entschiedenheit verbittet er sich eine Bezeichnung seines Systems als eines »höheren« Idealismus. »Beileibe nicht der höhere. Hohe Türme und die ihnen ähnlichen metaphysisch großen Männer, um welche beide gemeiniglich viel Wind ist, sind nicht für mich. Mein Platz ist das fruchtbare Bathos (die fruchtbare Niederung) der Erfahrung.« In dem, was einfach scheint, ein schweres Problem zu entdecken und dem Schlichten eine Größe zu geben, das ist eine besondere Stärke Kants.

Der Pflichtgedanke

Wenn das deutsche Volk heute eines Kant gedenkt und sein Lebenswerk in höchsten Ehren hält, so hebt sich aus der Fülle seiner Leistung ein Gedanke mit überwältigender Kraft und Klarheit hervor, das ist der Gedanke der Pflicht: Kant ist dem deutschen Volke vor allem der Lehrer, der Prophet der Pflicht, es entspricht der allgemeinen Überzeugung, wenn auf seinem Grabe als bezeichnend für sein Leben und Werk die Worte angebracht sind: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.«

Aber war denn der Pflichtgedanke etwas so Großes und Neues, daß seine Verfechtung dem Denker eine so überragende Stellung geben und sein Wirken so eindringlich machen konnte? Der Gedanke der Pflicht ist von jeher tief in die menschliche Seele eingegraben, und weder an wissenschaftlicher Fassung noch an allgemeiner Anerkennung hatte es ihm bis dahin gefehlt. Schon vor Jahrtausenden haben die Stoiker den Begriff wissenschaftlich formuliert, die Aufklärungszeit hatte ihn neu in den Vordergrund gerückt, und eben der Staat, dem Kant angehörte, hatte den Pflichtgedanken durch Gesetz und Übung kräftig verkörpert. Kein Geringerer als Friedrich der Große hat gesagt, die Wissenschaften müßten als Mittel betrachtet werden, um uns fähiger zur Erfüllung unsrer Pflichten zu machen (les sciences doivent être considérées comme des moyens qui nous donnent plus de capacité pour remplir nos devoirs).

Wie kommt es nun, daß uns beim Pflichtgedanken vornehmlich Kant vor Augen tritt, und daß das deutsche Volk den Kern seines Wirkens in der Verfechtung dieses Gedankens findet?

Unsre Antwort darauf ist folgende: Kant hat zunächst den Begriff der Pflicht in vollster Schärfe erfaßt, er hat ferner ein schweres Problem in ihm entdeckt und es klar herausgestellt, er hat endlich dies Problem in durchgreifender Weise gelöst. Dies aber konnte er nicht, ohne ein Ganzes der Gedankenwelt auszubilden und die Pflichtidee als die Höhe einer das ganze Leben umfassenden Bewegung zu verstehen.

Pflicht und Neigung

Kant hat die Pflichtidee in denkbarster Schärfe gefaßt. Die Pflicht ist nur echt, wenn sie völliger Selbstzweck ist, wenn wir sie lediglich ihrer selbst wegen tun, sie darf sich nicht auf unsre Neigungen gründen, nicht als Mittel für unser Glück behandelt werden. Wo immer das geschieht, da ist der Begriff der Pflicht verfälscht, und das Handeln kann aus ihm keine Stärkung ziehen. »Die Ehrwürdigkeit der Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen; sie hat ihr eigentümliches Gesetz, auch ihr eigentümliches Gericht, und wenn man beide noch so sehr zusammenschütteln wollte, um sie vermischt, gleichsam als Arzeneimittel, der kranken Seele zuzureichen, so scheiden sie sich doch alsbald von selbst, und tun sie es nicht, so wirkt das erste gar nicht.« Deshalb brauchen wir nicht unsere Neigungen als schlecht zu verwerfen, aber aus ihnen kann nun und nimmer pflichtmäßiges Handeln entspringen, wir müssen auch direkt gegen unsere Neigungen handeln können und dürfen erst, wo das geschieht, vollauf der Pflichtmäßigkeit unseres Handelns gewiß sein. Die Pflicht muß direkt auf unseren Willen wirken, wir aber müssen zu ihr das Verhältnis der Achtung haben: »die einzig sittliche Triebfeder ist die Achtung für das Sittengesetz«.

Menschenwürde

Läßt sich das alles erwägen und in seiner vollen Stärke anerkennen, ohne daß ein schweres Problem darin erscheint? Kant selbst hat es in folgende Worte gefaßt.

»Pflicht! Du erhabener großer Name –, welches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findet man die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlaßliche Bedingung desjenigen Wertes ist, den sich Menschen allein selbst geben können?« Was bedeutet die Pflicht, die so gebieterisch zu uns spricht und so gänzliche Hingebung fordert, wie kann sie sich selbst rechtfertigen? Die Pflicht bringt an uns ein Gebot, das keinen Widerspruch duldet, aber dies Gebot kann unmöglich uns von draußen auferlegt sein, kann unmöglich einen Befehl einer außer uns befindlichen Macht bedeuten. Denn ein solcher Befehl könnte nur durch die Vorhaltung eines Lohnes oder die Androhung einer Strafe wirken; eine daraus entspringende Handlung würde aber lediglich durch den Gedanken an ihre Folgen bestimmt sein und damit ihren moralischen Charakter verlieren. Wer an Lohn denkt, der hat seinen Lohn dahin. So kann das verpflichtende Gesetz nur aus unsrem eignen Wesen stammen, wir selbst müssen die Gesetzgeber sein. Aber wenn das möglich sein soll, so müssen wir uns selbst völlig anders verstehen, als wir es bis dahin taten. Wir dürfen nicht bloß Naturwesen sein und den Verkettungen der Natur unterliegen, es muß in uns eine höhere Art, ein selbständiges Leben wirken, das sich selbst seine Gesetze gibt und in ihrer Durchführung das höchste der Ziele findet. Dies aber ist in der Tat der Fall, es erscheint in uns eine praktische Vernunft, nicht als etwas von draußen Herangebrachtes, sondern als die Tiefe unsres eignen Wesens, als unser wahres Wesen. In dieser Vernunft aber liegt die Forderung, daß das Handeln sich ganz unter die Form der Allgemeinheit stelle; das Pflichtgebot, nach Kants Ausdruck der kategorische Imperativ, lautet: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann,« oder auch in der Wendung zum Menschen: »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.« Der Mensch gewinnt dadurch nicht bloß einen Wert, sondern eine unvergleichliche Würde, daß er in freier Entscheidung jenes Gesetz der Vernunft als sein eignes ergreifen und ganz und gar als selbständiges Glied einer allgemeinen Ordnung handeln kann. Die Freiheit ist die unerläßliche Voraussetzung des Pflichtgebots und aller Moral, wir müssen können, wo wir sollen, »du kannst, denn du sollst«. Als eine Erweisung der Freiheit und als ein völliger Selbstzweck hebt sich damit das moralisch Gute über alle andern Güter unvergleichlich hinaus. Aus solcher Gesinnung fließen die Worte: »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden als allein ein guter Wille.« »Alles Gute, das nicht auf moralisch gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als Schein und schimmerndes Elend.«

Persönlichkeit

So ist es auch das Moralische, das allein den Menschen wesentlich mehr sein läßt als das Tier. Denn »über die bloße Tierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Tieren der Instinkt verrichtet«. Wie sich hier von der Moral und der ihr eignen Freiheit her das Gesamtbild des Lebens vertieft, das zeigen Begriffe wie Persönlichkeit und Charakter; sie verdanken die hohe Schätzung, die wir alle ihnen zollen, an erster Stelle Kant. Denn Persönlichkeit hatte im Mittelalter und bis in die Neuzeit hinein nur die allgemeinere Bedeutung eines vernünftigen Einzelwesens (rationalis naturae individua substantia), erst Leibniz suchte dem Begriff eine präzisere Fassung zu geben, er fand sie in dem Vermögen des Menschen, in den verschiedenen Zeitpunkten das Bewußtsein der Identität zu bewahren; nur das schien ihm eine moralische und eine juristische Verantwortlichkeit möglich zu machen, nur daraus schöpfte er die Überzeugung von einer persönlichen Unsterblichkeit. So stand hier beim Begriff der Persönlichkeit das Intellektuelle voran, erst Kant wendet ihn ins Moralische.

Persönlichkeit bedeutet ihm nämlich »Freiheit und Unabhängigkeit vom Mechanismus der ganzen Natur«, das, »was den Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann, und die zugleich die ganze Sinnenwelt, mit ihr das empirisch bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeit und das Ganze aller Zwecke, unter sich hat.« Ja, es wird wohl bei ihm von der Tierheit und Menschheit in uns noch die Persönlichkeit unterschieden; der Mensch ist zunächst ein lebendes, dann ein lebendes und zugleich vernünftiges, als Persönlichkeit endlich ein vernünftiges und zugleich der Zurechnung fähiges Wesen.

Eine ähnliche Verschiebung ins Moralische und zugleich ins Freitätige hat der Begriff des Charakters durch Kant erfahren. Im Anschluß an die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes bezeichnete vor ihm Charakter jede ausgeprägte seelische Beschaffenheit; es kann in diesem Sinne verschiedene Charaktere geben, gute sowohl als böse; keinen Charakter haben, das heißt, nicht scharf ausgeprägt sein. Der Charakter erschien hier vorwiegend als eine Gabe der Natur. Kant dagegen unterscheidet deutlich zwischen einem physischen und einem moralischen Charakter. Jener zeigt nach Kant an, was sich aus dem Menschen machen läßt, dieser dagegen, was er aus sich selbst zu machen bereit ist. »Einen Charakter schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft des Willens, nach welcher das Subjekt sich selbst an bestimmte praktische Prinzipien bindet, die es sich durch seine eigne Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat.« In diesem Sinne wollte Kant nicht sagen, der Mensch habe diesen oder jenen Charakter, sondern er habe überhaupt einen Charakter, »der nur ein einziger oder gar keiner sein kann«.

Schon allein durch diese Begriffe, die in aller Munde sind, ist Kant tief in das deutsche Leben eingedrungen.

Überall erscheint dabei die engste Verbindung von Freiheit und Gesetz, und zugleich erscheint Kant als ein Durchbildner und Vollender dessen, was im deutschen Wesen angelegt ist.

Freiheit ist uns nicht eine Abwerfung aller Bindung, ein Heraustreten aus allen Zusammenhängen, ein Gestalten des Lebens möglichst nach eignem Belieben, sondern sie ist ein Aufnehmen der Vernunftzwecke und der allgemeinen Ordnung in den eignen Willen, die freie Bindung an ein selbstgewolltes Gesetz; darin liegt eine Selbstverneinung, aber mehr doch eine Selbstbejahung. Der Gehorsam gegen ein solches selbstgewolltes Gesetz kann keinen Druck erzeugen, nicht einengend auf uns wirken, vielmehr wird er unser Wesen erweitern, uns fester auf uns selbst stehen lassen. Daß die Fremden das nicht verstehen und den Gehorsam des freien Mannes blinde Unterwürfigkeit schelten, das ist eine gröbliche Verkennung der Wahrheit, eine Verkennung, die ihrerseits eine klägliche Flachheit bekundet. Kant aber ist es, der den deutschen Begriff der Freiheit aus dem tiefsten Innern unsres Wesens begründet und ihn zum festen Grundstein des menschlichen Lebens gemacht hat.

Freiheit und Kausalgesetz

Aber alle Schätzung der Gesinnung, die in solchen Lehren hervortritt, enthebt uns nicht der Frage, wie es mit der Wirklichkeit der Freiheit steht, ob diese nicht auf den Widerspruch der ganzen Weltordnung stößt, da sie die in ihr waltende Gesetzlichkeit aufs schroffste zu durchbrechen scheint. Dies nun ist das Große an Kant, daß er der Freiheit einen sicheren Platz im Ganzen der Welt erstreitet, ja daß er sie zur Seele der ganzen Wirklichkeit macht. Das aber kann nicht geschehen ohne eine völlige Umwandlung ihres gewöhnlichen Bildes, das verlangt im besonderen eine gründliche Auseinandersetzung mit dem großartigen Bilde, das Spinoza entworfen hatte, und das eben um die Zeit Kants die Gemüter überwältigend fortriß. Bei Spinoza wird die Welt ein lückenloser Kausalzusammenhang, der einfachen und unwandelbaren Gesetzen folgt, jeder einzelne ist hier in seinem Tun und Lassen ganz und gar durch seine Stellung im Ganzen bestimmt, der Mensch ist ebensowenig frei, wie es ein geworfener Stein sein würde, wenn er während des Fliegens ein Bewußtsein erhielte. Wird das konsequent durchgedacht, so verschwindet alles Gut und Böse, so bleibt nur Notwendigkeit; alles Urteilen hat dann einem bloßen Feststellen der Tatsächlichkeit zu weichen. Diese Lehre ist aber nicht private Meinung eines einzelnen Denkers, sie ist die volle Durchbildung einer Überzeugung, die namentlich von der mechanisch-mathematischen Naturwissenschaft vertreten wurde und dadurch zu großem Einfluß in der Neuzeit gelangt war; das Kausalgesetz, das jene beherrscht, ward bei Spinoza zum Weltgesetz erhoben. Nun aber hatte eben an diesem Punkt Kant aus rein wissenschaftlichen Erwägungen eine Gegenbewegung aufgenommen, die der schottische Philosoph Hume (1711–1776) begonnen hatte, die freilich nicht gegen das Kausalitätsgesetz selbst, wohl aber gegen seine Gültigkeit als ein den Dingen innewohnendes und den Weltlauf beherrschendes Gesetz gerichtet war.

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01 august 2017
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