Loe raamatut: «Tod und Nachtigallen (Steidl Pocket)», lehekülg 2

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Bin ich wach, oder schlafe ich, oder wache ich gerade auf? Wahrscheinlich wache ich gerade auf, ja; Licht. Beths Geburtstag. War sie eben erst hier im Raum, oder ist es schon länger her? Mädchenduft, Klematis. Frauenduft, fünfundzwanzig. Geburtstage; Todestage. Wann ist meiner? Wo? Bett? Auf einem Schiff? Stuhl? Stall? Feld? Kirche? Steinbruch? Unwichtig … aber wie? Langsam? Todesqualen, eine plötzliche Darmentleerung und Schrecken, o Jesu Gnade, vergib, vergib, vergib einem elenden Sünder, immerwährender Jesus! Plötzlich auf einer Landstraße oder einem Feldweg, auf einem Pferdemarkt oder meinem Hof, William Hudson Winters, mein Name in einer Spalte, Sterberegister, verschieden. Wie ein Schuss; bumm! schwarzes Ende, futsch, vorbei. Ewigkeit…

Alle toten Winters liegen hier in der kalten nördlichen Erde der Provinz Ulster begraben.

Alle Frauen der toten Winters liegen hier in der kalten nördlichen Erde der Provinz Ulster begraben.

Alle Säuglinge und Kinder aller toten Winters liegen hier in der kalten nördlichen Erde der Provinz Ulster begraben. Er wartet.

Die arme Mama mit ihrem albernen Liedchen.

»I’ll tell you a story

bout Billy MacClory.

Will I begin it?

That’s all that’s in it!«

Das ist alles? Punktum?

Oder fahren wir auf zum Hause Gottes, Morgenstern, Haus aus Gold… Das meines Großvaters. Ist es sicher in dem alten Safe? Wirklich? Wer klopft da? Ja? Erneutes Klopfen. Ja! Lauteres Klopfen.

»Ja?«, sagte Billy Winters und stützte sich, jäh erwachend, auf die Ellbogen.

»Ich hab ’ne Nachricht, Sörr, und Ihr heißes Wasser.«

»Moment, Mercy … eine Nachricht … von wem?«

»Kanonikus McManus sein Diener ist vorbeigekommen.«

»Was? Warte!«

Billy Winters rollte sich aus dem Bett und schwang die Beine auf ein Stück verblichenen indischen Teppichs. Er fuhr in seinen Morgenmantel und tappte über die Kieferndielen zur Schlafzimmertür.

»Wann … wer, hast du gesagt?«

»Gerade eben, Sörr, Peter Reilly, der Mann vom Kanonikus. Er sagt, der Kanonikus wird auf dem Rückweg von der Messe vorsprechen.«

»Das wäre jetzt.«

»Jawohl, Sörr.«

Ihr Beichtvater, Kanonikus Leo McManus. Was erzählt sie ihm?

Mercy wandte sich um und ging bis zum Treppenabsatz. Hinter ihr, draußen vor dem Dielenfenster und jenseits davon, erstreckte sich die Hauswiese nordwärts bis zu dem erhöhten Ringfort, das auf den Lower Lough hinabblickte.

Lieber Gott, wie schön und staunenswert sind doch Licht und Wasser, sind Feld, Baum und Himmel… Der Mai, welch ein Monat, um am Leben zu sein, und ich bin mit einem Traum vom Tod erwacht!

Unten hörte er Kuhketten und Eimer und sanftes Muhen. Er rief:

»Mercy.«

»Sörr?«

»Wo ist Miss Beth gerade?«

»Sie wird in der Küche oder in der Milchkammer sein.«

»Du weißt, welcher Tag heute ist?«

Mercy lächelte durch ihre schiefen Zähne.

»Meine Mutter hat extra ’nen Kuchen gebacken, und ich hab auch was für sie.«

»Du bist ein feines Mädel, Mercy. Ich bin gleich unten.« Und das war sie: umsichtig, arbeitsam, ergeben.

Mercy hatte die weiße Emaillekanne mit heißem Wasser auf einen Tisch im oberen Korridor gestellt. Er trug sie zum Waschstand, goss das Wasser in eine Schüssel und bereitete alles für seine Rasur vor. Im Erker eines Südfensters stand ein Schiffsteleskop neben einem dreibeinigen Rasierspiegel mit Kerzenhaltern. Ein Nordfenster zwischen Waschstand und Kleiderschrank blickte hinab auf den Hof mit seinen beiden Torbögen, auf schiefergedeckte Wirtschaftsgebäude, den Garten, die Obstplantage und die Koppeln, die an den Feimenhof grenzten. Im Hof nahe dem Kuhstall sprudelte, vom Brunnenhügel kommend, ein kleiner Bach mit Quellwasser in ein steinverkleidetes Becken. Unaufhörlich. Er versiegte weder bei Trockenheit, noch fror er im bittersten Winter ein. Jetzt wirbelte er um zwei Kupferkannen und sorgte dafür, dass Milch und Sahne bis zum nächsten Buttern süß blieben. Uraltes Verfahren: glasierte irdene Töpfe, das Knarren von Ochsenkarren auf den Straßen Jerusalems, den Plätzen Roms. Springbrunnen, Zisternen, Quellen, Aquädukte, die Heere Konstantins, die Europa für Christus kreuzigten, Kreuzritter, die in Kleinasien für die Christenheit metzelten und plünderten.

Bin selbst ein Christenmensch, meine Art ist nicht weniger grausam als jeder Türke, unmenschliche Menschheit, jawohl, vom Weibsvolk ausgetragen und gesäugt. Cathy, meine tote Liebe, Mutter Elizabeths, Vater unbekannt. »Einer von zweien«, hat sie mal höhnisch entgegnet… Quell alten Kummers… Heute ist ihr Geburtstag.

Als er blinzelnd den Rasierspiegel zum Licht hin bewegte, nahm er unten im Hof eine Bewegung wahr; eine Shorthorn-Kuh, die, gefolgt von Jim Ruttledge, über das Kopfsteinpflaster auf einen steinernen Klauenstand zutrottete. Als die Kuh in den Stand trat, blitzte neben ihrem Hüftknochen etwas auf… etwa eine Kanüle? Blähungen?

Jim hatte das schmale eiserne Gatter hinter der Kuh geschlossen und entfernte eben die Kanüle, als Billy Winters das Fenster öffnete und hinunterrief:

»Hat sie Blähungen, Jim?«

»Ja.«

Jim Ruttledge blickte nicht auf. Er wusste, wo Billy war, denn er, der mit seinen weit über siebzig Jahren kräftiger war als die meisten Männer mit fünfzig, hatte bereits vor Billys Geburt auf dem Anwesen gearbeitet.

»Schlimm?«

»Sie wird’s überleben.«

»Ein Glück, dass du rechtzeitig da warst.«

»’s war Miss Beth, die zu ihr raus is’; die hat das Gebrüll schon vor ’ner ganzen Weile gehört.«

Also hatte ein Tier geschrien, es war kein Traum gewesen. Wie viele Frauen, Mädchen würden sich im Dunkeln auf die Wiese hinauswagen, um eine Kanüle in ein aufgeblähtes, krepierendes Vieh zu rammen? Ihr Geburtstag, der schlimmste Tag meines Lebens. Heute wird sie fünfundzwanzig, wieder ein Jahr vorbei. Jahrestag. Wann ist der Todestag der armen Mama? Brombeerzeit. Ende September. Blätterfall. Wie ergreifend sie vor langer, langer Zeit, als ich jung war, gespielt und gesungen hat, so selbstverständlich wie andere atmen: von der Liebe und dem entschwundenen Liebestraum. Und dann so voller Würde und Heiterkeit in den Tod zu gehen… Verschenke dies und das und jenes; verbrenne dies und das und jenes … und wenn du mit alledem fertig bist … dann wirf mich fort.

Während er sich rasierte, begann Billy Winters leise eine Melodie von Thomas Moore zu summen und hielt inne, als er von der Auffahrt her das feine Knirschen von Hufen auf Kies vernahm. Er blickte aus der Seite des Erkerfensters. Ja, da war er, mit Zylinder und Gehrock, rittlings auf einem Grauschimmel, eine silberverzierte Reitgerte schwingend: Kanonikus Leo McManus in voller kanonischer Pracht. Während Billy ein kragenloses Hemd, respektierliche graue Hosen und eine Weste überzog, hörte er sich leise singen:

»Rule Romania, Romania rules the taigs,

Poor Rosie’s childer ever, ever shall be slaves.«

3

Für Kanonikus Leo McManus bestand der beste Teil seines Pfarramtes darin, hoch zu Ross die Feldwege, Höfe, Dörfer und Gemarkungen von Upper Fermanagh zu bereisen. An den Esszimmerwänden seines Pfarrhauses in Dromcoo hatte er Landkarten der Bodenkommission mit Bleistiftmarkierungen versehen und konnte auf einen Blick Namen, Status und Religion der Besitzer bestimmen. Über Emigranten führte er ein eigenes Verzeichnis, korrespondierte mit jenen, die es zu Wohlstand gebracht hatten, und versuchte, wo immer möglich, sie zum Rückkauf all dessen zu bewegen, was er in seinem Rundbrief »das anheimgefallene oder gestohlene Erbe unserer Vorfahren« nannte. Zu seiner Enttäuschung hatte er weder von Con Cunningham aus Los Angeles noch von Barney Hughes aus London eine Antwort erhalten, obgleich diese beiden allein die gesamte Grafschaft hätten aufkaufen können. Viele andere jedoch meldeten sich und leisteten wertvolle Beiträge. Die Grafschaft gehörte Katholiken und Protestanten zu gleichen Teilen; so Gott wollte, würden Zeit und Entschlossenheit dies ändern.

Am gestrigen Abend hatte er Mervyn Knights jüngste Publikation studiert, erschienen bei Longmans of London und betitelt: Höfe, Familien und Wohnstätten in Fermanagh. Er hatte sehr genau gelesen, was dort über die Familie und die Wohnstätte stand, denen er sich jetzt näherte.

CLONOULA Irisch: Apfelwiese

ZUGEHÖRIGE FAMILIEN Eine: Winters

STANDORT Baronie Clanawley; Enniskillen sechs Meilen, Tully Castle drei Meilen, Dublin achtzig Meilen.

LAGE Bergflanke 225 Meter über dem Meeresspiegel. Weiter Blick von Osten auf Upper Lough Erne. £487.00

GESCHICHTE Ehemals im Besitztum des Stammesführers Brian Maguire (aufständisch), 1610 der Krone anheimgefallen. Ursprüngliches Haus erbaut von Thomas Winters unter der Pacht von Sir John Hume auf Tully Castle. Während des Aufstands von 1641 niedergebrannt. Von Clement Winters 1660 wiedererbaut. 1793 von Kapitän zur See William Hudson Winters erweitert. Tore, Innenhof, Pförtnerhaus sowie der Weiler Clonoula etc.

GEGENWÄRTIGER ZUSTAND Gut. Bewohnt. Besitzer: William Winters, Wohlgeboren.

BESONDERE MERKMALE Großes Haus im Cottage-Stil, zentrale Schornsteine, Giebelerker. Alle Fenster haben aus Stein gehauene »Brauen«. Mittiger Eingang mit Ziergiebel und Oberlicht, durch Glasvorbau verschandelt.

EINRICHTUNG Ein Kamin im Adams-Stil, einfache, niedrige Decken, Pechkiefer im ganzen Haus. Ansonsten wenig bemerkenswert.

AUSSENBEREICH Abgesenkter Pflasterhof, ummauerter Garten und Apfelspeicher (reetgedeckt), alles aus beliebigem Bruchstein errichtet. Es gibt eine Kalkbrennerei, eine Leinmühle (in Gebrauch), eine unbedachte Getreidemühle. Originale Eckpfeiler mit Kugelornament in gutem Zustand. Bewohntes Pförtnerhaus in gutem Zustand. Der Weiler Clonoula besteht aus vier reetgedeckten Cottages, wovon eines zugleich als Poststelle und Gastwirtschaft dient. Auf dem Anwesen befinden sich zwei weitere Cottages.

ZUGEHÖRIGE PÄCHTER-FAMILIEN

Ruttledge, Ward, Blessing, McManus, Boyle, McCafferty.

ZUGEHÖRIGE GEMARKUNGEN

Ardnagashel… Irisch: befestigte Anhöhe Brackagh… Irisch: Brachland Garvarry… Irisch: raues Land Dacklin… Irisch: schwarze Wiese

GELÄNDE Guter Bestand von ausgewachsenen Buchen und Eichen. Zwanzig Morgen Obstplantagen, angeblich die ältesten in Ulster. Länge der Auffahrt tausend Meter, zur Landstraße hin steil abfallend. Diese wild bewachsene Steilfläche von dreißig oder mehr Morgen besteht aus Laubbäumen, Nadelbäumen und Rhododendren.

An einer Lichtung dieses bewaldeten Areals hielt der Kanonikus jetzt an. Über die Rhododendrenpracht hinweg konnte er in der Ferne die glitzernde Fläche des Lower Lough Erne und die Umrisse seiner Inseln erkennen und direkt unter ihm die Gemarkungen Brackagh, Garvarry und Dacklin, die schwere, schwarze Landschaft der Enteigneten. Hungrige Aussicht und saures Land können das beste Volk der Welt missmutig und gefährlich stimmen. Mein Volk. In Mister Knights Buch konnte nicht Erwähnung finden, dass Clonoula unter allen Besitztümern Fermanaghs eine Kuriosität darstellte. Es widmete sich einzig den kleinen protestantischen Gutsbesitzern, den Angehörigen des Schein- oder Niederadels. Das Buch konnte nicht aussprechen, dass Billy Winters von Jimmy Donnelly, dem derzeitigen katholischen Bischof von Clogher, getraut worden war, der damals als junger Hilfsgeistlicher in einer Landgemeinde nahe Enniskillen gedient hatte. Wie fast jeder andere wusste er, dass Billy Winters vor fünfundzwanzig Jahren für längere Zeit Tag und Nacht trinken gegangen war. Während seiner trübseligen Zecherei hatte er einem betrunkenen Kumpanen oder vielleicht auch nur sich selbst irgendwann anvertraut: »Fahr nie für ’ne Frau über den See. Meine war schon bedient, als ich sie abkriegte – im dritten Monat schwanger.« Und so verbreitete sich in Fermanagh und den benachbarten Grafschaften das Gerücht, dass der erste Mann, der eine geteerte Straße zu seinem Kalksteinwerk gebaut hatte, ein Mann, der mit Bischöfen und Pferdehändlern umzugehen wusste und Gaunern Gaunertricks beibringen konnte, kurz: dass einer der gerissensten Burschen Ulsters selbst übertölpelt und beschämt worden war, und zwar von einer Frau, schlimmer noch: von einer Papistin.

Nach der Geburt hatte Cathy Winters weiter mit ihm in dem geräumigen Bauernhaus von Clonoula gelebt. Während der folgenden zwölf Jahre hieß es hin und wieder: »Billys Frau hat ein blaues Auge« oder »Die Frau ist ganz schön gealtert«, und einige sagten: »Wer will’s dem Mann verdenken?« Andere bemerkten: »Er ist ein Wüstling, dieser Billy, ein mieser Kerl, der sie mit Tritten und Hieben durchs Haus scheucht; mir tut’s um Klein-Beth leid, das arme Krümelchen.« Und als Cathy Winters im Hof von Clonoula ein so jähes und furchtbares Ende gefunden hatte, stand Billy, den Arm um Beth geschlungen, schluchzend an ihrem Grab, was jenen, die es beobachteten, so ungewöhnlich vorkam, dass sie bemerkten: »Er muss sie wirklich geliebt haben.« Seine eigenen Glaubensbrüder waren da misstrauischer: »Das war doch nicht ihretwegen, sondern weil er mit den Papisten Geschäfte macht. Der Mann hat kein Schamgefühl.« Unmöglich zu wissen, wie viel davon wahr, falsch oder reine Häme war. Aber ob wahr oder falsch, Allgemeingut war es auf jeden Fall.

Eigenartigerweise war es bei seinen Besuchen im Lauf der Jahre immer wieder Beth, das Mädchen mit dem feierlich starren Blick, jetzt eine Frau, die in Gegenwart eines Priesters wachsam und distanziert wirkte. Billys Auftreten dagegen war leutselig, aufgeschlossen, onkelhaft, gastfreundlich und, zumindest an der Oberfläche, zivilisiert. Und da stand er auch schon wieder lächelnd im Vorbau, beide Arme einen Moment lang zum Willkommensgruß ausgestreckt. Am Vorabend hatte der Bischof über ihn gesagt: »Ich denke nicht, dass Billy Winters an etwas anderes als Geld und Malt Whiskey glaubt, aber er ist gradheraus, was man von vielen unserer Leute nicht unbedingt behaupten kann.«

Billy führte die gefleckte graue Stute des Kanonikus neben den Vorbau und band sie an einem Wisteriageäst fest. Der Kanonikus stieg mit den Worten ab:

»Ich habe einen Brief für dich, vom Bischof James von Clogher.«

»Gute oder schlechte Nachrichten, Leo?«

»Keine Ahnung, aber es muss dringend sein.«

Sie schüttelten einander die Hand.

»Du bleibst doch zum Frühstück?«

»Nein, danke, aber ich setz mich kurz zu dir. Was für ein Morgen… Gott sei’s gedankt.«

»Es ist der Zaubermonat«, sagte Billy.

»Es hat mehr mit der Örtlichkeit zu tun«, sagte der Kanonikus, »hier oben bist du auf halbem Weg zum Himmel!«

Aus den Rhododendren kam eine Irish-Setter-Hündin und setzte sich mit hechelnder Zunge auf das Kiesrechteck vor dem Haus. Ihr kupferrotes Fell leuchtete in der Sonne.

»Ist die neu, Leo?«

»Ja.«

»Taugt sie was?«

»Das kann man noch nicht mit Gewissheit sagen, aber sie hat eine gute Nase und ist gehorsam.«

»So müssen sie sein.«

Der Kanonikus ließ sich im Vorbau auf einer Bank nieder und legte die Reitgerte auf die Knie. Dann holte er aus der Innentasche seines Gehrocks einen Umschlag und überreichte ihn Billy, der ihm gegenübersaß. Billy legte den Brief hinter sich auf die Fensterbank.

Es wäre liebenswürdiger gewesen, fand der Kanonikus, wenn Billy Winters den Brief geöffnet, kurz überflogen und mit einem beiläufigen Kommentar beiseitegelegt hätte. Andererseits, warum hätte er das tun sollen? Womöglich wäre eine unbehagliche Situation entstanden, wenn er ihn geöffnet hätte. Könnte von mir handeln oder weiß Gott wovon. Bischöfe stehen mit den seltsamsten Informanten in Verbindung.

Billy Winters kam es vor, als blicke der Gemeindepfarrer in Gedanken an etwas Unerfreuliches finster auf den gekachelten Fußboden. Die lasierten Fliesen zeigten einen Biber auf einem Baumstamm mitten im Fluss, darunter in römischen Buchstaben drei Wörter in einem Halbkreis: I SEQUERE FLUMEN – folge dem Fluss. Billy wartete darauf, dass er sprach. Als das Schweigen anhielt, sagte er:

»Nichts Außergewöhnliches, Leo.«

»Ja und nein… Der Depp MacGonnell ist wieder unterwegs, gestern war er bei uns.«

»Er ist ein harmloses Geschöpf«, sagte Billy.

»Sie hätten ihn im Irrenhaus von Monaghan lassen sollen.« Der Kanonikus hielt inne und sagte dann mit Nachdruck: »Eins ist sicher, er war es nicht, der mein neues Gewächshaus zertrümmert hat.«

»Um Gottes willen! Wann war das?«

»Letzten Dienstag, gegen Mitternacht.«

»Und wo warst du?«

»Drüben in der Wildnis bei Brackagh Cross und Dacklin, hab versucht, den wilden Zechern und Teufelstänzern Anstand beizubringen.«

»Ist es dir gelungen?«

»Oh, ich hab sie auseinandergebracht.« Er hob seine Reitgerte. »Hiermit.«

Der Löwe von Dacklin. Gut gemacht, Leo. Der Reitstock für verstockte Aufrührer. Kein Wunder, dass sie in hellen Scharen nach Amerika, Australien, sonst wohin abhauen … dreschen auf alles ein, was sie selbst nicht haben können … oder haben sollten… Besser, ich sag was.

»Die Tänze kommen aus Amerika«, bemerkte Billy.

»Der Schnaps kommt von hier«, sagte der Kanonikus, »und verwirrt ihnen die Sinne.«

Der Kanonikus hatte wieder die beunruhigenden Bilder von vor drei Nächten vor Augen. Er war von seinem Pferd gestiegen und hatte einen Acker mit Haferschösslingen, grün und satt wie Frühlingsgras, überquert, dann war er einen Feldweg durch Dacklin nach Brackagh Cross entlanggegangen. Er hatte Händeklatschen, eine Handorgel und Gelächter gehört. Der Mond leuchtete hell, und er überraschte ein Pärchen, das in einem trockenen Graben kopulierte: nackte Beine, die mit überkreuzten Knöcheln den ruckenden Leib eines Mannes umschlangen, blindes Stöhnen von beiden. Stolpernd war er auf sie zugestürzt und hatte gebrüllt: »Bestien, Unmenschen, Teufel.« Seine Reitgerte mit dem beinernen Griff war auf das Gesäß des Mannes niedergefahren und hatte dann auf Kopf und Rumpf eingedroschen, als der Mann zurückwich und sich mit einer Hand zu verteidigen versuchte, während er mit der anderen sein Geschlecht bedeckte. Danach hatte der Kanonikus sich umgedreht, um auch die Teufelin zu bestrafen, die aber war durch den Graben davongekrochen und über ein Feld in Richtung Brackagh Cross gerannt, um die anderen zu warnen. Handorgel, Händeklatschen und Gelächter verstummten jäh unter einem züchtigen Vollmond.

Erstaunt betrachtete Billy Winters die milden grauen Augen, das lammfromme Haar und den gütig wirkenden Mund. Nichts daran deutete auf Brutalität.

»Jemand vom Tanz am Wegkreuz?«

»Die Gerte war kaputt, als ich nach Hause kam… Ward war’s oder Blessing, beide deine Pächter.«

»Glaubst du?«

»Ich bin sicher, es war einer von ihnen oder sogar beide.«

Der Kanonikus tippte mit der Reitgerte auf sein Knie, setzte zum Sprechen an, hielt inne und sagte dann:

»Sie stehen in deinen Diensten, Billy.«

»Keineswegs, sie kaufen Steine und Füllgut im Steinbruch… Der Grafschaftsrat bezahlt sie. Und dann bezahlen sie natürlich mich.«

»Es ist dein Steinbruch.«

»Stimmt.«

»Du könntest sie abweisen.«

Billy war zu verblüfft, um auf der Stelle zu antworten.

»Das könnte ich … ja.«

»Du sollest es tun. Blessing ist eine miserable Kreatur. Ward ist noch schlimmer; er ist das personifizierte Böse, oder doch nahe dran.«

»Er ist mächtig eingebildet, das stimmt schon … aber böse, Leo, das ist ein großes Wort.«

»Jedenfalls ist er ein übler Geselle.«

Während einer Gesprächspause starrte der Reverend Leo McManus durch die offene Vorbautür, als hoch oben aus den Buchen ein Schwarm Tauben aufflatterte. Er folgte ihrem Flug, bis sie sich aus seinem Blickfeld verloren.

»Du wirst mir erklären müssen, warum«, sagte Billy. Der Kanonikus zögerte und sagte dann:

»Ich bin nicht befugt, das offenzulegen.«

Die Sittenpolizei? Beichtgeheimnisse? Etwas noch Unheilvolleres?

»Du erledigst viele Aufträge für uns hier in Fermanagh, Billy … und all die Marmorarbeiten in der Kathedrale von Monaghan.«

»Ist das eine Art Erpressungsversuch, Leo?«

»Es ist eine Bitte.«

Billys Ellbogen zuckte zu dem Bischofsbrief hin, der hinter ihm auf der Fensterbank lag.

»Hat der was damit zu tun?«

»Nein, da bin ich ganz sicher.« Nach einer weiteren kurzen Pause sagte der Kanonikus:

»Du brauchst mir nicht zu glauben.«

»Ich habe keinen Grund, dein Wort anzuzweifeln«, sagte Billy, »aber ich muss ihm … muss Ward erklären, warum.«

»Auf meine Bitte hin… Er wird schon verstehen.«

Warum Ward?, fragte sich Billy. Der früh verwaiste Sohn eines Schleusenwärters nahe Cootehill, mehr schlecht als recht aufgezogen von Old Tom Ward, seinem wildernden, schwarzbrennenden Onkel in Brackagh; eine kurze Phase als besserer Stallbursche in Florencecourt, wo gemunkelt wurde, dass die herrschaftlichen Fräuleins allzu gern den Pferdestall aufsuchten. Auch von einem Diebstahl war die Rede. Anschließend eine Zeit lang mit Charles Boycott im Westen; dann für einige Jahre in Amerika und jetzt wieder hier mit dieser gedehnten Sprechweise; Frachtführer, Quacksalber, eingebildet, das schon, aber schwer zu verstehen, warum dieser Pfarrer so extrem gegen ihn eingestellt war.

Der Messingriegel an der Haustür klickte, die Tür ging auf, und Mercy Boyle betrat den Vorbau. Sie trug ein mit Spitzentuch bedecktes Tablett mit drei Tassen, einer Kanne Kaffee, einer Zuckerdose und einem Kännchen Sahne. Mercy stellte das Tablett neben dem Kanonikus auf die Bank. Der stand auf, murmelte: »Zu viel des Guten, mein eigenes Frühstück wartet, so viel Aufwand wäre doch nicht nötig gewesen«, und flocht eine Begrüßung für Mercy ein: »Das ist doch Mercy Boyle, nicht wahr? Wie geht’s dir, Mercy?«

»Mir geht’s gut, Hochwürden.« Beth hielt Mercy beim Hinausgehen die Tür auf, schloss sie und trat vor, um die ausgestreckte Hand des Kanonikus zu ergreifen.

»Du kannst ihr die Hand gleich doppelt schütteln«, sagte Billy, »heute ist ihr Geburtstag, und als es heute Morgen noch stockfinster war, hat sie schon eine Kuh vor der Blähsucht gerettet.«

Beth erwiderte das Lächeln der Männer. Zwei Väter, keiner davon der meinige, dachte sie. Unterdessen schwafelte Billy weiter, auf die scheinbar gewöhnliche, onkelhaft irische Art, die er für Landpfarrer, Hofknechte und Steinbrucharbeiter an den Tag legte, nie jedoch für die »Protestanten zu Pferde« oder während der Pferdeschau in der Royal Dublin Society.

Sie schenkte den Kaffee ein und erkannte an der Art des Schweigens, dass sie in ein vertrauliches Gespräch geplatzt war. Sie sah den ungeöffneten, an Billy adressierten Brief mit dem Wachssiegel des Bischofs von Clogher.

»Und wie«, fragte ihr Gemeindepfarrer, »gedenkst du den Tag zu feiern?«

Angenommen, sie könnten Gedanken lesen… Die Vorstellung war so absonderlich, dass ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg, und so entgegnete sie rasch:

»Butter machen, den Torfstechern Tee bringen, und dann ist da noch ein Schwein, das geschlachtet werden muss.«

»Wer besorgt das für euch?«, fragte der Kanonikus.

»Blinky Blessing«, antwortete Billy.

»Aha.«

Aus den Augenwinkeln heraus konnte Beth sehen, wie Billy dem Gemeindepfarrer zublinzelte.

»Es wird kein reiner Arbeitstag werden, ich habe noch ein oder zwei Überraschungen auf Lager.«

Die habe ich auch, dachte sie, als sie sich mit ihrer Tasse neben Billy setzte. Und ich hoffe inständigst, dass dieser Mann mir gegenüber jetzt nicht anfängt, von Familienähnlichkeiten zu schwafeln, wie die alte Lily Cole es einst getan hat: Mund, Nase, Hände, Augen, Stimme und so weiter und so fort, schmerzlicher für Billy als für mich. Ab morgen haben all diese Peinlichkeiten ein Ende.

Plötzlich deutete Billy mit seinem kurzen, dicken Zeigefinger auf den Kanonikus und fragte:

»Wirst du heute Abend im Rathaussaal sein, Leo?«

»Das erfordert einen Sonderdispens und eine frühzeitige Reservierung … ich habe weder das eine noch das andere.«

»Schade. Ich war mit ihm im Trinity College.«

»Ich wusste nicht, dass du ein Studierter bist.«

»Ich bin’s und bin es nicht… Ein Jahr Ingenieurswesen, und dann wurde mein Vater krank…«

»Du kennst ihn also?«

»Kannte ihn … vor achtundzwanzig Jahren … damals hieß er schlicht und einfach Willy French. Das war, bevor aus ihm der weltberühmte Percy French wurde.«

Es folgte ein Schweigen, das Billy füllte, indem er sagte:

»Er ist ein begabter Maler, hab ich gehört.«

»Davon habe ich keinen blassen Schimmer … auf dem Auge bin ich blind.«

»Ich hab dich doch gesehen, wie du Schnepfen im Vorbeifliegen erledigst, und noch aus zwanzig Metern Entfernung legst du jede Forellenfliege sauber auf einer Untertasse ab.«

Der Kanonikus lächelte geschmeichelt. Billy wandte sich um und sagte zu Beth:

»Ein Mann wie Leo wäre der Richtige für dich, Beth, ein begeisterter Sportsmann, ein guter Gärtner, ein Landwirt und ein tadelloser christlicher Ehrenmann obendrein – und Bienen hält er auch noch… Sie ist so was von wählerisch, dieses Fräulein; ganze Wagenladungen voll hab ich hierhergekarrt; von jeder Sorte etwas: überzüchtet und unterzüchtet, junge Kerle und weniger junge, Burschen von der Bank, wohlhabende Landwirte, Müller, Kaufleute, angehende Juristen, Buchhalter, Architekten. Mit keinem von ihnen will sie was zu tun haben.«

»Sie auch nicht mit mir, Sir«, sagte Beth leise.

»Du gibst ihnen keine Chance, Mädel.«

»Wenn die Zeit kommt, wirst du den rechten Mann schon finden«, sagte der Kanonikus.

»Ich bin nicht auf der Suche«, erwiderte Beth, stand auf und ging mit ihrer Kaffeetasse aus dem Vorbau zu der Stelle, wo die Irish-Setter-Hündin auf dem Kies lag. Als Beth sich hinhockte, um dem Tier den Kopf zu streicheln, reckte es in scheuer Begrüßung den Hals vor. Die beiden Männer sahen zu.

»Du hast sie in Verlegenheit gebracht, Billy.«

Billy Winters schüttelte den Kopf.

»Sie geht ihre eigenen Wege, man hat keine Ahnung, was in ihrem Kopf vorgeht, genau wie bei ihrer Mutter. Niemand weiß, was in Frauenköpfen vorgeht«, und fügte dann beinahe säuerlich hinzu, »vom Offensichtlichen mal abgesehen.«

Dem Priester drängte sich das Bild des kopulierenden Pärchens auf. Stirnrunzelnd riss er sich davon los, stürzte beim Aufstehen den Kaffee hinunter und sagte:

»Ich geh dann mal, Billy.«

Der Kopf der Hündin schnellte hoch, und mit aufgestellten Ohren und wachsamem Blick starrte sie zur Tür des Vorbaus hinüber. Beth wusste, ohne sich umzudrehen, dass der Priester im Aufbruch begriffen war. Mit halbem Ohr hörte sie den ausgetauschten Gemeinplätzen zu. Sie wusste, dass die gekünstelte Kameraderie nur verschleierte, was die beiden wirklich voneinander dachten. Vor langer Zeit die erbitterten Streitereien mit der armen Mama. Warum bis heute diese Heuchelei?

Sie winkte dem davonreitenden Priester zu, der ihr, während der Hund den Grauschimmel umkreiste, seinen Segen erteilte, blickte ihm einen Moment lang nach und ging dann zu dem Vorbau, wo Billy den Brief des Bischofs las. Kommentarlos reichte er ihn ihr herüber, und sie erkannte das bischöfliche Wappen und die Adresse.

Latlurcan House, Bischofsresidenz

Dublin Road, Monaghan

Donnerstag, den 3.Mai 1883

Lieber Billy,

heute hat uns ein nicht ganz so junger Mann namens Maurice Fairbrother aufgesucht. Von der Steuerbehörde im Dublin Castle war er bevollmächtigt, unsere Bücher in Augenschein zu nehmen. Wir ließen ihn gewähren. Er zeigte besonderes Interesse an allen von dir geleisteten Marmor-, Maurer- und Steinmetzarbeiten sowie an allen damit zu sammenhängenden Geldern und Transaktionen. Father Benny Cassidy gab ihm eine Truhe voller Dokumente, die alle mit der Kathedrale und den Kosten ihrer Fertigstellung zu tun hatten. Er warf kaum einen Blick darauf. Wir fanden beide, dass er sehr wenige Fragen zu Dingen stellte, die ihn eigentlich hätten interessieren sollen.

Später unterhielt ich mich mit ihm. Sein Vater ist ein Gutsverwalter in Chatsworth (Sitz des Herzogs von Devonshire), und so kamen wir natürlich auf den verstorbenen Lord Frederick Cavendish zu sprechen. Als ich meine tief empfundene Abscheu über dessen grausige Ermordung im Phoenix Park zum Ausdruck brachte, zeigte er sich stark betroffen. Anschließend sprach er mit mir über vertrauliche (nicht geheime) Angelegenheiten der Krone und ich mit ihm über vertrauliche (nicht geheime) Angelegenheiten der Kirche. Er ist ziemlich sattelfest in beiden Themen. Daher bin ich mir sicher, dass er kein Steuerkommissar ist – aber was er ist, das weiß ich nicht. Die Art und Weise, wie er sich nach Dir erkundigte, erschien mir befremdlich. Morgen will er Dir einen Besuch abstatten. Ich vermute, Du hast genau wie ich vor langer Zeit gelernt, das Unverwartete zu erwarten, das Unglaubliche zu glauben und allen Menschen gegenüber jederzeit auf der Hut zu sein.

Ich habe Dich getraut, ich habe Elizabeth getauft, wir sind immer Freunde gewesen, Du bist all die Jahre über aufrichtig mit mir umgegangen, und ich habe das Gefühl, dass mein Eindruck von diesem Fairbrother hilfreich für Dich sein könnte. Übrigens, wie geht es Elizabeth? Wie ich höre, wird sie Deiner armen Catherine immer ähnlicher. Morgen fahre ich nach Enniskillen, um eine Nichte zu verheiraten und einen hoffentlich vergnüglichen Abend mit Percy French zu verbringen. Wirst du dort sein? Und Elizabeth? Wenn nicht, sende ich meine besten Wünsche, und bitte schaut vorbei, falls einer von Euch in diese Gegend kommt.

Mit freundlichen Grüßen in Christo

James von Clogher

P. S. Father Benny hat mich davon unterrichtet, dass noch einige Zahlungen offen sind. Sie werden, Deo volente, noch vor Ende November beglichen sein. Jimmy.

Beth gab Billy den Brief zurück und sagte:

»Er ist ein Agent des Dublin Castle, Sir.«

»Ein Spion?«

»So etwas Ähnliches.«

»Was könnte der von mir wollen … von uns?«