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Loe raamatut: «Das Eulenhaus», lehekülg 4

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Klaudine trat einstweilen wieder an das Fenster zurück. Ihre Wangen brannten und die feinen Brauen zogen sich in finsterem Brüten zusammen. Was alles mochten Bosheit und Leichtfertigkeit im Herzogsschloß ersinnen, um ihr, die mutig einen ihr besseres Selbst rettenden Schritt getan, Steine nachzuwerfen! Und womit hatte sie den Mann, der eben hinausging, je so beleidigt und gereizt, daß er ihr mit anscheinend scherzhaft hingeworfenen, aber in Wahrheit verletzenden Bemerkungen das kaum beschwichtigte Herz aufregen durfte?

Da draußen, dem Fenster ziemlich nahe, stand der Wagen mit seinem Kinde. War er verbittert und ließ es andere entgelten, weil sie von ihm gegangen war, die fürstliche Frau, die seinem Dasein einen unerhörten Glanz gegeben hatte? Er mochte freilich schwer tragen an seinem Geschick. Sie war ihm für immer entrissen, und was ihm von ihr geblieben, da lag es, gebrechlich und hilflos, und der glänzende Reichtum, den die Prinzessin hinterlassen, vermochte nicht, ihrem Kinde so viel Kraft zu geben, daß es auf seinen Füßen treten konnte! Wieviel war schon um dieses winzige Geschöpfchen gekämpft und gestritten worden! Die Großmutter, die Prinzessin Thekla, die sich über den Tod ihrer Lieblingstochter nicht beruhigen konnte, war selbst in Italien gewesen, um sich das Kind zu erbitten, aber Baron Lothar hatte sie entschieden zurückgewiesen. Nun flüsterte man bei Hofe, die alte Dame verfolge den Plan, dem verwitweten Schwiegersohn die ihr gebliebene Tochter, Prinzessin Helene, als zweite Frau zu geben, damit das geliebte Enkelkind nicht in die Hände einer fremden Stiefmutter falle, und einige Kluge, die das Gras wachsen hörten, wollten wissen, daß die junge Prinzessin nicht »nein« sagen würde, da sie ja schon zur Zeit der Brautschaft ihrer Schwester eine stille Neigung für den schönen Schwager gehegt habe. Prinzessin Helene war hübscher als die Verstorbene, aber sie hatte auch die großen, unheimlichen Funkelaugen, mit denen das Kind da draußen unverwandt hinauf in das Lindengeäst starrte, während eine alte Kinderfrau strickend neben dem Wagen saß.

Ein starkes Räderrollen erschütterte den Boden unter den Füßen der jungen Dame, und gleich darauf trat Beate, zum Ausgehen umgekleidet, wieder in das Zimmer. Sie nahm das Weidenkörbchen mit den Erdbeeren vom Tische und hing es an den Arm. »Für deine kleine Elisabeth«, sagte sie zu Klaudine, und ein roter Schimmer lief über ihr Gesicht.

Zuckerdose und Kuchenreste wurden noch eiligst im Wandschrank verschlossen, dann ging es fürbaß.

Draußen vor der offenen Haustür hielt ein Wagen mit zurückgeschlagenem Verdeck. Baron Lothar saß auf dem Bock und hielt die Zügel.

»Vorwärts, Schatz!« trieb Beate, als Klaudine wie erschreckt auf den Türstufen sichtlich zögerte eine solche Aufmerksamkeit in Neuhaus anzunehmen. »Die schmucken Kerlchen da vorn« – sie zeigte nach den Pferden, herrlichen, jungen Tieren, die sich ungestüm gebärdeten – »schnauben wie die Sonnenrosse, sie möchten uns am liebsten durchbrennen.«

Gleich darauf brauste der Wagen unter den Linden hin und die Fahrstraße hinab. Baron Lothar lenkte das feurige Gespann leicht, mit spielender Sicherheit. Und dabei musterte er von Zeit zu Zeit die Roggen- und Rübenfelder, die mit grünen Früchtebüscheln besetzten Zweige der Obstbäume zu beiden Seiten des Fahrweges. Aber nicht einmal wandte er sich nach den Insassen des Wagens zurück. Er hatte vorhin Klaudines Zögern gesehen und den Widerspruch in ihren Zügen gelesen, sie wußte es, denn ihr Blick war dem seinen begegnet, einem Spottblick, der ihr das Blut in die Wangen getrieben hatte, aber wohl oder übel mußten sie nun doch zusammen fahren, »Montecchi und Capuletti« in einem Wagen, der mit seiner hellen Atlaspolsterung, seiner ganzen blitzenden und schimmernden, vornehmen Ausrüstung wie ein verkörpertes Stück Hofglanz durch das Paulinental flog.

In würzigen Feld- und Walddüften und in dem tiefen Goldglanz der Spätnachmittagssonne förmlich schwimmend, breitete sich das schöne, weite Tal hin, das der kleine, weit droben aus dem Berg quellende Fluß in fröhlichem Lauf durchschnitt. Wellenglitzernd, bald verdunkelt unter Weidengebüsch hinkriechend, bald im freien Sonnenlicht übermütig an den Uferblumen reißend, kam er daher, der Schuldige, der im Verein mit Gewitterregengüssen wiederholt zum wilden Raubtier geworden war. Wer sah es ihm an, daß er einen Teil des Geroldschen Wohlstandes verschlungen hatte?

Ringsum, wohin der Blick fiel, wurde noch rüstig vor Feierabend gearbeitet. Die Sense des Mähers fuhr mit blendendem Blitz durch das niederrauschende Wiesengras, in den Furchen der Kartoffeläcker arbeiteten ganze Reihen gebückter Frauen mit der Hacke, und auf dem Anger am Flußufer und zwischen den wilden Schlehenbüschen der rasigen Raine trieben barfüßige, im Gehen strickende Mädchen ihre Gänse und Ziegen vor sich her. Hoch vom Walde herunter aber erscholl das taktmäßige Anschlagen der Holzaxt. Treuherzig grüßende Zurufe der fleißigen Menschen flogen den Vorüberfahrenden von allen Seiten zu und wurden freundlich erwidert, und Klaudine kam zum erstenmal der Gedanke, daß sich die Insassen des stolzen Wagens nicht vor dem schweißtriefenden Arbeiterfleiß zu schämen brauchten; sie arbeiteten und schafften auch, die eine im angeborenen Tätigkeitstrieb, und die andere um die Genugtuung willen, sich die Selbstachtung zu retten, sich nützlich zu machen und damit das Wohl geliebter Menschen zu fördern.

Für einen kurzen Augenblick wurde weit drüben hinter den Baumwipfeln der Gärten das mächtige Schieferdach des Altensteiner Gutshauses sichtbar. Die Fahnenstange ragte noch kahl in die Lüfte – das schmerzlich beweinte verlorene Vaterhaus beherbergte den neuen Besitzer mithin noch nicht. Aber auf der Straße kam langsam ein schwerbeladener Möbelwagen daher, dem ein niederes Gefährt mit der Holzkiste eines Konzertflügels folgte.

»Der neue Nachbar zieht ein, wie es scheint«, sagte Beate mehr wie für sich und musterte mit scharfem Blick die vorüberfahrenden Wagen.

In diesem Augenblick wandte sich Baron Lothar rasch nach Klaudine zurück.

»Sie wissen, wer das Gut gekauft hat?« unterbrach er sein bisheriges Schweigen so urplötzlich, wie ein Richter, der seinen Angeklagten in einem unbedachten Augenblick zu überrumpeln sucht.

»Wie kann ich das wissen?« gab sie, durch seinen Ton befremdet, etwas scharf zurück. »Wir suchen zu vergessen, daß wir jenseits des Waldes zu Hause waren, und forschen grundsätzlich nicht, wer dort nach uns kommt.«

»Das weiß hier im Tal noch niemand, Lothar«, bestätigte Beate. »Unsere besten Klatschweiber im Dorfe zerbeißen sich die Zähne an der harten Nuß. Mich beschleicht manchmal die geheime Furcht, daß ein reicher Industrieller der Käufer ist, und das, was ich eben durch die Vorhanglücken des Möbelwagens gesehen habe, bestärkt mich in dem Glauben – diese Leute können es ja nie stilvoll und glänzend genug haben! Schrecklich! Qualmende Fabrikschlote in unserem schönen, luftreinen Tal!«

Baron Lothar hatte sich längst wieder umgewendet; er antwortete nicht und ließ die Peitsche auf dem Rücken der Pferde spielen. Und weiter brauste der Wagen.

»Sieh, sieh, wie hübsch sich doch dein Eulenhaus herausgemausert hat!« rief Beate überrascht, als die kleine Besitzung in Sicht kam. »Seit meinem letzten Besuch bei dir und deiner Großmama bin ich nicht wieder hierhergekommen. Es hat sich ja förmlich mit einem grünen Mantel behangen!«

Sie hatte recht. Erst in ihren letzten Lebensjahren hatte die verstorbene Besitzerin Anpflanzungen von wildem Wein am Turm gemacht. Noch vor vierzehn Tagen hatten die mit schwach entwickelten Blättchen besetzten Ranken nur wie ein dünnes, wenig sichtbares Fadennetz die Mauern umstrickt, heute aber ließ das üppige Blattgewebe nur noch ein paar Fensterbogen frei. Bis über die untere Turmstube kroch es hinauf; es umrahmte die auf die Plattform führende Glastür und hing seitwärts wieder über dem Geländer herab.

Heinemann hatte der kleinen Elisabeth eben ein Vogelnest hoch im Gebüsch gezeigt, er trug das Kind noch auf dem Arme und ging so dem herankommenden Wagen entgegen. In ängstlicher Spannung zog er die dicken, gelben Brauen in die Höhe – kamen die dort vielleicht gleich mit, um ihren Anteil zu fordern?

Der Wagen hielt. Der alte Gärtner öffnete mit einem höflichen Gruß den Schlag, aber nur seine junge Herrin stieg aus. Beate blieb sitzen und reichte dem Kinde, das er auf dem Arme behalten hatte, die Erdbeeren hin. Mit Überraschung sah Klaudine dabei ein schönes, zärtliches Lächein über das ernste Gesicht der Pensionsschwester hinfliegen, und auch das Kinderherz mochte fühlen, daß dieser Sonnenstrahl ein seltener sei, denn die Kleine reckte sich plötzlich hinüber und schlang die Arme um Beates Hals. Dann nahm sie, glückselig das Körbchen aus den »großen Händen«, die sie neulich ganz empört von ihrem Puppenliebling abgewehrt hatte, und strebte, schleunigst von Heinemanns Arm zu kommen, um nach dem Hause zu laufen.

Beate stellte »der Herrin vom Eulenhaus« ihren Besuch für die allernächste Zeit in Aussicht, »auch solch eine Ankunft auf eigenen Füßen, einen Marsch, der den Haushaltungsärger wieder einmal aus dem Blute jagt«. Gleich darauf wandte sich der Wagen und fuhr heimwärts.

Baron Lothar hatte kein Wort mehr gesprochen, aber er hatte sich mit einer tiefen Verbeugung von Klaudine verabschiedet und dem alten Gärtner ein freundliches Wort zugerufen.

»Sapperlot, alles was wahr ist! Ich bin kein Freund von den Neuhausschen – ganz und gar nicht, im Gegenteil! Sie haben mehr Glück als Verdienst, und die Altensteiner müssen vor ihnen die Segel streichen – leider Gottes!« sagte Heinemann, während er die Hand beschattend über die Augen hielt und dem fortbrausenden Wagen mit langem Halse nachsah. »Aber das muß ihm der Neid lassen, ein bildschöner Soldat ist und bleibt er, auch in dem müllergrauen Rock, dem simplen. Bin ja auch Soldat gewesen, Fräulein, und weiß die Herren Offiziere zu taxieren. Ich glaube, wenn der vor seiner Schwadron reitet, da halten sich die Kerls noch einmal so stramm und stolz auf ihren Pferden. Wie’s freilich inwendig aussieht, das weiß man ja – viel Übermut und ein krasser Dünkel auf die vornehme Heirat; und wie es mit dem da steht —« er machte mit Daumen und Zeigefinger die Geste des Geldzählens und streifte mit einem ängstlich fragenden Seitenblick das Gesicht seiner jungen Herrin – »hm, da nimmt man wohl auch, wo es zu haben ist?«

Klaudine lächelte. »Sie können ruhig sein, Heinemann, der Fund bleibt in Ihren Händen, Sie können damit tun, was Ihnen beliebt.«

»Was? Wirklich? Sie nehmen nichts, die da drüben?« Er war nahe daran, einen Freudensprung zu machen. »Ein Stein ist mir vom Herzen, ein Zentnerstein! Mir war zuletzt himmelangst, bis Sie kamen! Na, das wäre überstanden, Gott sei Dank! Nun sollen Sie aber einmal sehen, was der alte Heinemann kann, gnädiges Fräulein! Dem Kerl da in der Stadt, dem reichen Bolz, dem die Bienenväter hierzulande nie Wachs genug schaffen können, dem will ich seine Sparpfennige aus dem Leibe pressen, daß er ach und wehe schreien soll! Wir können’s brauchen, gnädiges Fräulein, können’s gerade jetzt gut brauchen, wo wir gewiß manchmal vornehmen Besuch kriegen. Und da darf es doch nicht zu armselig im Hause sein, sind wir schon unserer guten gnädigen Frau in der Erde schuldig! Ich nehme morgen das gute Zinn gleich mit in die Stadt zum Zinngießer, es muß wieder einmal ein bißchen aufgefrischt werden. Einen neuen Sahnegießer zum Kaffeegeschirr brauchen wir auch, und wie wär’s denn, wenn wir in die gute Stube neue Vorhänge kauften? Fräulein Lindenmeyer hat nach der letzten Wäsche um all ihr Leben gestopft und geflickt, und wenn sie das auch pikfein macht, da und dort sieht man’s doch.«

»Aber, mein Gott, wozu denn das alles?« fragte Klaudine erstaunt. »Fräulein Beate —«

»Ach, wer spricht denn von der? Die flickt und stichelt ja selbst alle alten Lappen und Läppchen zusammen und hängt sie wieder an die Fenster, die ist gar häuslich und sparsam und spottet nicht über einen zugestopften Riß!« Ei zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach Fräulein Lindenmeyers Eckstube. »Da drin sitzt sie, die Dorfklatsche, die Försterin aus Oberlauter, die alle neuen Nachrichten brühwarm aus der Residenz kriegt und sie nachher im Stricksack von Haus zu Haus trägt, bis es altbackene Semmeln sind. Wenn wir näher ans Haus kommen, da werden Sie’s riechen, gnädiges Fräulein – eitel Zimt und Vanille! Fräulein Lindenmeyer hat nämlich vor Freude über den raren Besuch Schokolade gekocht, eine steife Schokolade – der Löffel bleibt drin stecken! Und morgen wird unser altes Mamsellchen wieder einmal auf der Nase liegen und ihre allerschönsten Magenschmerzen davon haben. Na meinetwegen! Die Nachricht, die uns der brave Postillon im Weiberrock zugetrager, hat, ist am Ende so ein bißchen Schmerzen wert. Unser Herzog hat nämlich unseren lieben, schönen Altensteiner Geroldshof gekauft.«

Klaudine stand noch neben dem Eibenbaum am Eingang des Gartens. Mit einer jähen Bewegung griff sie in die Zweige des Bäumchens, als taste sie nach einem Halt. Das Blut stürmte ihr nach dem Kopf und gleich darauf überzog eine tiefe Blässe ihr Gesicht.

»Du lieber Gott, wie Sie das angreift!« rief Heinemann erschrocken. »Ich alter Tapps, daß ich auch so mit der Tür ins Haus fallen muß! Aber an der Sache ist ja doch nichts mehr zu ändern«, – er schüttelte trübe den Kopf – »kein Tüttelchen! Und ist’s denn nicht doch tausendmal besser, der Geroldshof kommt in solche Hände, als daß vielleicht ein reicher Fabrikant in den Stuben und Sälen spulen und spinnen läßt? Und Ihre schöne Jugend, gnädiges Fräulein! Fragen Sie doch die da unten«, – er zeigte auf den Boden unter seinen Füßen, den ehemaligen Kirchhof der Nonnen – »ob nicht eine jede mit tausend Freuden wieder aus dem einsamen Walde entwischt wäre, wenn sich nur ein Schlupfloch in den himmelhohen Mauern gefunden hätte! Sehen Sie, das ist ja das Schöne bei der Sache, Sie kommen wieder in Ihre Gesellschaft, in Ihr richtiges Element! Eine jede Blume will ja auch ihren besonderen Boden. Der ganze Hof zieht für den Sommer auf das Altensteiner Gut. Der Herzog will eine Milchmeierei eigens für seine junge Frau einrichten, sie soll ja an der Schwindsucht leiden, das arme Frauchen, und da soll nun die Luft im Kuhstall helfen.« Er kratzte sich hinter dem Ohr.

Die junge Dame ging langsam und schweigend tiefer in den Garten hinein. Ihre erblaßten Lippen waren wie im Krampfe geschlossen. Heinemann sah sie scheu von der Seite an. In diesem sanften, schönen Gesicht, das er kannte, seit es zum erstenmal die blauen, wundertiefen Augen aufgeschlagen hatte spiegelte sich ein Kampf ab, für welchen ihm das Verständnis fehlte.

Er sagte deshalb auch kein Wort mehr und machte sich am nächsten Gemüsebeet zu schaffen, und erst, als sie im Begriff stand, in das Haus zu gehen, kam er ihr nach und bat um Urlaub für den nächsten Tag, »von wegen des Wachshandels«. Sie nickte ihm mit einem matten Lächeln gewährend zu und ging die Treppe hinauf.

Droben, in ihrem stillen Zimmer, sank sie auf einen Stuhl und schlug die Hände mutlos vor das Gesicht. War alles umsonst gewesen? Durfte ihr wirklich die Versuchung nachschleichen, wohin sie auch flüchten mochte? Nein, nein, ihre Lage war nicht mehr so schutz- und hilflos, wie noch vor wenigen Wochen! Stand nicht ihr Bruder neben ihr? Und durfte sie jetzt nicht auch sagen: »Mein Haus ist meine Burg – ich kann und will es vor jedem verschließen, der meine Schwelle nicht betreten soll?«

6

Am anderen Morgen wanderte Hcinemann frühzeitig nach der Stadt. Neben ihm her trabte ein Dorfjunge mit einem Handwagen, den der alte Gärtner mit jungem Gemüse für seine Kunden beladen hatte, der Handelsgang nach der Stadt sollte möglichst ausgenutzt werden. Das Zinngeschirr freilich hatte zu Hause bleiben müssen und zum Ankauf neuer Vorhänge war die Erlaubnis auch entschieden verweigert worden. Nicht ohne Besorgnis sah Heinemann dann und wann nach dem Hause zurück, bis das Baumgedränge keinen Durchblick mehr gestattete. Was er ärgerlich vorausgesagt hatte, war eingetroffen – Fräulein Lindenmeyer hatte Migräne. Sie lag zu Bett und brauchte Hilfe und Pflege. Gern wäre er zu Hause geblieben, allein er hatte schon beim Morgengrauen das Gemüse abgeschnitten, und das mußte fortgeschafft werden.

Nun war seine junge Herrin allein, denn der oben in der Glockenstube zählte nicht. Mit der Feder in der Hand war er ja nie in der wirklichen Welt. Da konnte alles um ihn her niederbrennen, wenn nur die Glockenstube stehen blieb und die Tinte nicht eintrocknete. Dieses Urteil entsprang jedoch keineswegs irgendwelcher Geringschätzung, im Gegenteil, Heinemann war voll Bewunderung, aber in seinen Augen war der gelehrte gnädige Herr einer, für den man in gewöhnlichen Dingen denken und sorgen mußte, wie für das liebe, unschuldige Ding, die kleine Elisabeth auch.

Nun, er hatte das Seine getan, um seiner jungen Herrin die Tageslast zu erleichtern, er hatte die Ziegen gemolken, frische Eier aus den Hühnernestern genommen und Zuckererbsen zum Mittagessen gepflückt. Kleingespaltenes Holz lag neben dem Herde, das Treppenhaus war sauber gefegt, und in Fräulein Lindenmeyers Eckstube stand die homöopathische Hausapotheke mit schriftlichen Anweisungen von seiner Hand – er verstehe sich aufs Kurieren wie kein anderer, versicherte Fräulein Lindenmeyer immer. Wie er dann aber tagsüber nie die Tür im Gartenzaun einklinkte, geschweige denn verschloß, so hatte er es auch heute achtloserweise unterlassen. Der am Zaun liegende Kettenhund schlug ja pünktlich an, sobald sich die Tür von außen her in den Angeln rührte, und was hätte denn aus dem Garten entwischen sollen? Das Hühnervolk hauste hinter einem absperrenden Holzgitter und die Hauskatze bewerkstelligte ohnehin ihre Waldbesuche durch die Fensteröffnungen der Kirchenruine. An das Kind, die kleine Elisabeth, hatte der alte Mann nicht gedacht. Sie war meist seine unzertrennliche Begleiterin im Garten, sie ging auf Tritt und Schritt mit ihm und plauderte unermüdlich, und während seine großen, schwieligen Hände rüstig arbeiteten, antwortete und erzählte er unverdrossen und rieb sich nur dann und wann an der Schürze die Erde von den Fingern, um dem Kinde den verschobenen Hut in die Stirn zu rücken oder der Puppe den aufgelösten Haarzopf mühselig wieder »zusammenzuwürgen«. Aber vor seinen Augen war das kleine Mädchen noch nie bis an die Tür gelaufen, und auch Klaudine wußte, daß es sich vor dem Kettenhund fürchtete. Deshalb war sie unbesorgt ihren Hausgeschäften nachgegangen, während das Kind im Garten spielte.

So war es gegen Mittag geworden. Die Tageshitze stieg. Nur selten zog eine vereinzelte segelnde Wolke träge über die Sonnenscheibe hin und warf auf den Garten einen kurzen Schatten, wohltuend und verdunkelnd, als ob ein riesiger Vogel seine Schwingen mitleidig über alle die hängenden und schmachtenden Blumenköpfchen breite Klaudine trat an ein Fenster und rief nach dem Kinde; aber sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme, so lautlos still war es draußen. Nur der Hund kroch mit rasselnder Kette aus seiner schwülen Hütte und sah mit gespitzten Ohren nach dem Fenster hinauf, wo gerufen wurde. Das Kind antwortete nicht, und auch sein helles Kleidchen war weder zwischen dem Gebüsch, noch in der Laube zu entdecken.

Noch kam kein beängstigender Gedanke in Klaudines Seele. Die Kleine stieg ja oft direkt vom Garten aus hinauf in die Glockenstube, um dem Papa ein paar Blumen oder das Schürzchen voll »wunderschöner Steinchen« zu bringen. Klaudine eilte hinauf, aber in dem kühlen und durch die zugezogenen grünen Gardinen verdunkelten Turmgelaß saß ihr Bruder allein am nördlichen Fenster, so vertieft in seine Arbeit, daß er auf ihre Frage hin nur mit einem zerstreuten Blick aufsah, lächelnd den Kopf schüttelte und emsig weiter schrieb. Auch bei Fräulein Lindenmeyer war das Kind nicht, und nun flog die junge Dame angsterfüllt hinaus in den Garten.

In der Laube stand der Puppenwagen mit dem geliebten Wickelkind, das Wachsgesicht der Puppe mit der abgenommenen Kinderschürze fürsorglich zugedeckt, aber die kleine Pflegemutter war nicht da. Sie war auch nicht im Kreuzgangwinkel bei den Ziegen und Hühnern, nicht in der Kirchenruine, wo sie sich gern auf dem grünen Rasenboden tummelte und Grasblumen suchte. Alles angstvolle Rufen und Suchen war vergeblich.

Da sah sie über die Zauntür hinweg drüben auf der Fahrstraße eine rotglühende Pfingstrose liegen, und jetzt wußte sie, daß das Kind, einen Strauß in der Hand, aus dem Garten gelaufen war. Ohne sich zu besinnen, eilte sie hinaus, die Straße entlang.

Öde, totenstill streckte sich die weiße Weglinie vor ihr hin. Seit die Eisenbahnschienen in ziemlicher Nähe vorüberliefen, war diese Verkehrsader fast ganz unterbunden, nur selten unterbrach Rädergeroll die Waldstille – ein Überfahren des Kindes war mithin nicht zu befürchten. Die Kleine mochte übrigens Heinemanns Beete arg geplündert haben, jedenfalls konnte das Händchen die Blumen auf die Dauer nicht fassen, denn da und dort bezeichnete eine verstreute Nachtviole oder ein Jasminzweig den Weg, den sie genommen hatte.

Sie mußte schon seit geraumer Zeit ausmarschiert sein, wenigstens erschien Klaudine die Strecke schier endlos, die sie bereits zurückgelegt hatte, Angsttränen füllten ihre Augen und das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Zuletzt fand sie den Hut des geliebten Puppenlenchen, und zwar nahe dem Dickicht, das die Fahrstraße begrenzte. Ihr Puls stockte bei dem Gedanken, daß das Kind in den Wald eingedrungen sei und angstvoll umherirre, und schon wollte sie die Stimme zu lautem Rufen erheben, als Kindergeschwätz, in das sich eine männliche Stimme mischte, zu ihr drang. Unwillkürlich preßte sie die Hände gegen die fliegende Brust und horchte. Ja, das war Baron Lothar, der eben sprach, und das Kind war bei ihm und schon nach wenigen eilenden Schritten weiter taten sich die grünen Wände vor ihr auf und sie sah die Sprechenden herankommen.

Baron Lothar führte mit der Linken sein Pferd am Zügel, und auf dem rechten Arm trug er die kleine Entlaufene. Der runde Hut hing ihr im Nacken, und das dichte Blondhaar fiel wirr und tief in die Stirn und an den erhitzten Bäckchen herab. Sie mochte ihre Heldentat bereits schwer, unter heißen Tränen, gebüßt haben, denn sie sah sehr verweint aus, aber ihr Lenchen hatte sie auch in ihrer Herzensangst und Ratlosigkeit nicht preisgegeben, sie hielt die Puppe krampfhaft fest an ihrer Brust.

Sie schrie auf, als sie die Tante so plötzlich auf sich zukommen sah. »Ich wollte der Erdbeerdame Blümchen bringen und das datierte so lange, ach, so lange! Und Lenchen hat ihren neuen Hut verloren, Tante!« rief sie ihr entgegen und löste das linke Ärmchen von ihres Trägers Nacken, als wolle sie schleunigst wieder unter den Schutz der Pflegerin flüchten, aber er hielt sie fest.

»Du bleibst jetzt bei mir, Kind!« gebot er. Sie duckte sich wie ein erschrockenes Vögelchen und sah scheu in das bärtige Antlitz dicht neben dem ihren. Der gebieterische Ton war ihr neu. »Das hast du zu verantworten, kleine Ausreißerin!« fuhr er zu dem Kinde fort, während sein Blick das tieferregte Gesicht, die tränenverschleierten Augen der schönen Hofdame ausdrucksvoll streifte. Sie stand nun vor ihnen und rang vergebens nach Atem und einem Wort des Dankes. »Und nun möchtest du mir auch noch schleunigst den Laufpaß geben und fragst nicht, ob die Arme da dich auch tragen können? Denn laufen kannst du ja absolut nicht mit deinen todmüden Beinchen! Nein, nein, lassen Sie!« wehrte er ab, als Klaudine in der Tat die Arme hob, ihm die Bürde abzunehmen. »Ist’s doch kaum, als sei mir eine Grasmücke auf den Arm geflogen! Komm, Kindchen, gib nur deinen Arm wieder her und sieh mich nicht so scheu an – hast dich ja vorhin auch nicht vor meinem Bart gefürchtet! Sieh, wie brav mein Fuchs mit mir geht und sich führen läßt! … Und da ist ja wohl auch der unglückliche Hut, um den du so bittere Tränen vergossen hast?«

Die Kleine lachte glückselig auf, als Klaudine das Hütchen auf den Puppenkopf drückte und es wieder festband.

Baron Lothar sah unverwandt auf die zwei schlanken Hände, die in nächster Nähe vor seinen Augen hantierten. Ein breiter schwärzlicher Streifen zog sich um Daumen und Zeigefinger der Rechten.

»›Rußflecken beschimpfen nicht‹, sagt mein alter Heinemann«, stammelte sie, unter seinen Blicken errötend, und ließ schleunigst die Hände von der gebundenen Schleife sinken.

»Nein, sie beschimpfen nicht. Aber daß sie in der Tat vorhanden sind! Wäre wirklich kein dienstbarer Geist im Eulenhaus zu finden, der Ihnen diese grobe Berührung ersparte?« Ein spöttisch ungläubiges Lächeln zuckte um seine Lippen. »Muß nicht eine Zeit kommen, wo Sie die Erinnerung an diese Flecken dennoch wie einen Makel empfinden werden?« Seine feurigen Augen wichen nicht von ihrem Gesicht.

Sie sah ihn mit stolzer Entrüstung an. »Hat Ihnen das Hofgeflüster auch zugeraunt, daß ich unwahr sei und zur Komödie neige?« fragte sie bitter lächelnd zurück. »Soll ich Ihnen wirklich ausdrücklich die schmerzliche Tatsache bestätigen, daß mein Bruder, wenn auch als ehrlicher Mann – denn, Gott sei Dank, die Gläubiger sind befriedigt! – so doch bettelarm von Haus und Hof gegangen ist? – Wir können uns nicht mehr bedienen lassen, und daß dazu kein besonderer Aufwand von Entsagungen gehört, das weiß ich jetzt. Diese Flecken« – sie sah auf die geschwärzten Finger nieder – »lasse ich auch nur insofern als Makel gelten, als sie Zeugen meiner Ungeschicklichkeit sind. Aber auch das wird ja von Tag zu Tag besser.«

Jetzt lächelte sie wieder mit ihrer sanften Heiterkeit, sah sie doch eine dunkle Glut in sein Gesicht steigen. Sie durfte ihn nicht noch strenger zurechtweisen, der ihren müden Liebling auf dem Arm trug.

»Ich werde mich bald nicht mehr zu schämen brauchen, und gestern abend bei den verlachten Eierkuchen hätte ich getrost die strenge Beate zu Gaste laden dürfen —«

»Ich bin überzeugt und leiste hiermit Abbitte!« unterbrach er sie und neigte in sarkastischer Unterwürfigkeit sein Haupt. »Sie scheinen nicht bloß das Aschenbrödel, Sie sind es in Wirklichkeit. Ein Mann kann sich freilich schwer in eine solche Situation hineindenken, aber einen pikanten Reiz mag es schon haben, augenblicklich in der grauen Puppenhülle zu verschwinden, um später mit strahlenden Flügeln in Sonnenhöhe aufzusteigen.«

Sie preßte die Lippen aufeinander und schwieg, weil sie wußte, daß sie sich vor ihrer eigenen Stimme entsetzen würde, wenn sie auch nur mit einem einzigen Worte ein Thema berührte, das sie tief verschwiegen in der Brust trug, und welches er immer wieder hartnäckig, mit einer Art von Verbissenheit aufnahm.

Sie trat seitwärts, um ihm den Weg freizugeben, und er schritt weiter. Sie gingen an der Schattenseite, unter überhängenden Buchenzweigen hin. Man hörte eine Zeitlang nur die Schritte des kräftig ausschreitenden Mannes und das Hufeklappern des geduldig nebenher gehenden Pferdes, bis die kleine Elisabeth das drückende Schweigen mit einem Schmeichelnamen für den »guten, braven Fuchs« unterbrach.

»Es hat auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner brünetten, spanischen Mutter, dies kleine deutsche Blondchen«, sagte Baron Lothar, während er in das reizende Kindergesicht sah. »Sie hat die Altensteiner Augen. Wir haben in Neuhaus das Bild unserer Urgroßmutter, die bekanntlich eine Altensteiner gewesen ist. Ein so wilder Junge ich auch war und so wenig Interesse die steifen Porträts an den Wänden für mich hatten, vor jenem schönen großen Ölbild bin ich doch stets stehen geblieben, wenn unsere Staatszimmer oben einmal ausnahmsweise zugänglich waren. ›Die Lilie des Tales‹ hat sie der damalige Herzog Ulrich genannt. Aber sie ist eine scheue Frau gewesen, die nie wieder zu Hofe gegangen ist, seit ihr Seine Hoheit einmal allzu feurig die Hand geküßt hat.«

Wieder war es still und in das Knirschen des Steingerölls unter den Tritten der Dahinschreitenden mischte sich jetzt auch das Piepen und Zwitschern in einem Vogelnest über ihren Häuptern.

»Kleine Vögelchen sind auf dem Baume, ich weiß es, Heinemann hebt mich immer hoch und läßt mich in das Nest sehen«, sagte die Kleine mit einem begehrlichen Blick nach oben.

Er lachte. »Das ist zu hoch, kleiner Schelm, da hinauf können wir nicht! Aber sieh, wie die blauen Augen auch funkeln können! Ich glaube nicht, daß sich das sanfte Sternenlicht in den Augen meiner schönen Urgroßmutter je so verwandelt hat. Bei den Neuhäuser Gerolds ist der Frauenkopf mit dem aschblonden Lockenhaar nicht wieder aufgetaucht, keine der weiblichen Nachkommen hat das Gesicht geerbt, so viele Töchter auch in Neuhaus gefreit worden sind. Ich meinte deshalb immer, die Frau sei einzig in ihrer Art gewesen. Erst später, viel später überzeugte ich mich, daß jenes Gesicht Erbeigentümlichkeit der Altensteiner sei. Es war an unserem Hofe. Ich war mit dem Herzog auf der Jagd gewesen und wir kamen spät, gerade in dem Augenblick in den Salon der Herzogin-Mutter, als eine neue Hofdame an den Flügel trat, um ›Das Veilchen‹ von Mozart zu singen.« – Er bog sich vor, um ihr in das Gesicht zu sehen. – »Sie erinnern sich selbstverständlich des Abends nicht?«

Sie schüttelte mit einem lebhaften Erröten den Kopf. »Nein. Ich habe ›Das Veilchen‹ so oft singen müssen, daß sich keine besondere Erinnerung für mich daran knüpft.«

Er hatte für einen Augenblick den Schritt angehalten, aber nun ging es in beschleunigtem Tempo wieder vorwärts.

Nicht lange mehr, da schimmerte das bunte Blumenfeld des Gartens durch das lichter werdende Unterholz, und das Gebell des Hundes klang herüber. Herrn von Gerold mochte doch nachträglich das plötzliche Erscheinen seiner Schwester in der Glockenstube und ihre hastige Frage nach dem Kinde nachdrücklicher zum Bewußtsein gekommen sein, er hatte wohl auch ihr ängstliches Rufen, gehört und sich schließlich selbst aufgemacht, zu suchen, denn er kam jetzt eilenden Schrittes daher, und zwischen den Eibenbäumen des Garteneinganges bog sich scheu ein mit Kompressen umwickelter Frauenkopf in der Nachthaube – Fräulein Lindenmeyer hatte sich in ihrer Herzensangst selbstvergessen bis an die äußerste Grenze des Grundstückes gewagt, jetzt freilich rannte sie beim Erblicken der hohen, fremden Männergestalt, mit fliegenden Röcken und das Schaltuch schleunigst über den Kopf geworfen, nach dem Hause zurück.

Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
0+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
04 detsember 2019
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