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Loe raamatut: «Im Hause des Kommerzienrates», lehekülg 9

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Seit dem Gesellschaftsabend war eine Woche verstrichen; »eine entsetzlich fatigierende Woche!« seufzte erschöpft die Präsidentin und schalt gleich darauf nachdrücklich und energisch ihre Schneiderin, dass sie die Toilette zu dem achten dieser ermüdenden Tage nicht elegant genug arrangiert habe, dass die Schleppe absolut zu kurz, die Spitzen nicht breit genug, die Stoffe allzu leicht seien. Es waren mehrere große Damentees und Kaffeegesellschaften in den höchsten Kreisen zu bewältigen gewesen; außerdem hatte Flora zu lebenden Bildern, die bei einem kleinen Hoffest gestellt wurden, die Verse machen und sprechen müssen, »man war kaum zu Atem gekommen.«

Henriette musste aus Rücksicht auf ihr verschlimmertes Kranksein dieses aufregende Treiben streng meiden, und Käthe blieb, obgleich sie stets sehr freundlich mit eingeladen wurde, konsequent bei ihr zu Hause. Dann tranken sie den Tee allein im Musikzimmer, und Käthe erzählte Schnurren und spielte unermüdlich Klavier, um Henriettens Trübsinn zu verscheuchen. So scharf auch die Urteilskraft der Kranken war, so tief sie auch das Oberflächliche, die wehende Kühle in dem gesellschaftlichen Leben und Treiben empfand, sie war und blieb doch das Kind der vornehmen Welt; sie war im Salon, unter den aristokratischen Freunden der Großmama aufgewachsen, und so sagte sie oft bitter lächelnd, wenn zur Tee- oder Theaterstunde das Getöse der rollenden Wagen von der Stadt fern herüberscholl, ihr sei zumute, wie einem invaliden Streitross, das, lahm und schwach, beim Signal die Ohren spitze und um alles gern mitlaufen möchte.

Blendend wie eine Fee schwebte Flora abschiednehmend durch das Musikzimmer. Sie hatte meist eine Unmutsfalte zwischen den Brauen und ein Spottlächeln auf den Lippen, das den jugendlich knappen Toiletten der Großmama galt; sie beklagte die verlorene kostbare Zeit, aber sie warf den schützenden Schleier über die blumengeschmückten Locken, nahm die Schleppe auf und ging, um draußen den wartenden Wagen zu besteigen und – »sich zu opfern«.

Der Kommerzienrat war vor sechs Tagen in Geschäften nach Berlin gereist. Er schrieb täglich an die Präsidentin »wahrhaft goldtrunkene Briefe«, sagte sie bedeutungsvoll lächelnd. Vorgestern aber waren prachtvolle Bouquets an die drei Schwägerinnen gekommen, und da hatte die Frau Präsidentin nicht gelacht. Für Flora und Henriette hatte der galante Schwager Kamelien und Veilchen binden lassen, Käthes Rosenstrauch dagegen strotzte von Orangenblüten und Myrte. Der Präsidentin wäre wahrscheinlich die zarte Sprache aus der Ferne entgangen; sie nahm achtlos die Bouquets aus der Kiste und war eben im Begriff, die zwei für Henriette und Käthe bestimmten hinaufzuschicken, als Flora, sich schüttelnd vor Lachen, mit dem Finger auf das ausdrucksvolle Blumenarrangement zeigte. Da wurde das Gesicht der alten Dame lang und fahl, wie noch nie in ihrem ganzen, langen Leben. »Aber, Großmama, hast Du denn wirklich geglaubt, Moritz werde sich den Adel mit solchen Unsummen erkaufen, um dann sein Geschlecht aussterben zu lassen?« rief Flora in ihrer übermütigen, frivolen Scherzweise. »Du hättest doch wissen müssen, dass ein Mann wie er, noch ziemlich jung, reich und stattlich, nicht zeitlebens Witwer bleiben wird! Und er freit nicht vergeblich um Käthe – das weiß ich am besten.«

Mit diesem kleinen Zwischenfall trat plötzlich ein Spukwesen in der Villa Baumgarten auf. Käthe ahnte sein Dasein nicht; sie hatte die auf Draht gebundenen Blumen mit frischem Wasser bespritzt, um sie nicht so rasch verschmachten zu lassen, und das Bouquet auf das Fensterbrett gestellt, ohne die bedeutungsvolle Blumenschrift verstanden zu haben. Durch die Gemächer der Präsidentin aber wandelte die graue dräuende Gestalt; sie verdüsterte den Glanz der vielfach beneideten Seidensamt-Möbel, der Goldbronzen und der unschätzbaren Meißner Porzellangarnitur; sie saß im Wintergarten auf dem Lieblingsplatz der Präsidentin und vergällte ihr den Genuss an allem, was ihr das Leben schmückte. Die alte Dame sorgte um ihre Zukunft, als habe sie erst die Hälfte ihres Lebens hinter sich; der Kommerzienrat durfte sich nicht wieder verheiraten; er war ihr das schuldig. Sie hatte ihn durch ihre Konnexionen, ihren gesellschaftlichen Einfluss erst zu dem gemacht, was er geworden war; sie hatte mit ihrem unvergleichlichen Geschmack sein Haus zu einem kleinen Schloss umgestaltet, das selbst den verwöhntesten Hofleuten imponierte, und war es ihrerseits nicht ein bedeutendes Opfer, ein Act der Selbstüberwindung gewesen, mit welchem sie sich an die Spitze seines damals noch ziemlich simplen, bürgerlichen Hauswesens gestellt? Und nun, als sich alles so gefügt, wie sie gewünscht und unablässig erstrebt hatte, nun sollte es plötzlich eine junge Frau von Römer geben, die hier unten in den prachtvollen Räumen empfing – und wer die Frau Präsidentin Urach sehen wollte, der musste hinaufsteigen  in »das Auszugsstübchen«, das man »der Großmama« eingeräumt. Nicht einmal Flora, das Kind ihrer eigenen Tochter, hätte sie an dieser Stelle sehen mögen, geschweige denn die Enkelin des Schlossmüllers. Die Frau Präsidentin sprach mit einem Mal sehr interessiert von Käthes Heim in Dresden; sie zeigte sich so besorgt, dass das wundervolle musikalische Talent vier Wochen lang brach liegen müsse, und ging mit der Idee um, das junge Mädchen in höchsteigener Person nach Dresden zurückzubringen.

Käthe ließ alle diese ausgesuchten Höflichkeiten schweigend über sich ergehen. Sie wollte abwarten, ob sich Henriette nicht doch durch Doktor Bruck bestimmen ließe, die Schwester zu begleiten. Bis jetzt hatte er noch keinen Versuch gemacht, wahrscheinlich weil er den Plan an der Reizbarkeit der Kranken nicht scheitern sehen mochte, und aufgeregt und gereizt war sie augenblicklich in hohem Grade. Er kam jeden Morgen um die bestimmte Stunde. Die Wohnzimmer der beiden Schwestern stießen aneinander, und die Tür stand stets offen. Käthe hörte dann seine beschwichtigende Stimme, sein sanftes Zureden; er konnte aber auch so herzlich auflachen, dass die Kranke unwillkürlich einstimmte. Für Käthes Ohr hatte dieses metallreiche, frohmütige und doch so angenehm beherrschte Lachen einen eigentümlichen Reiz – es zeugte so unwiderleglich von der unangetasteten Jugendfrische der Seele; es bewies ihr, dass er seiner Sache, seiner Zukunft gewiss war, dass er sich auch innerlich absolut nicht den tausend Widerwärtigkeiten und Kränkungen beugte, die auf ihn einstürmten.

Sie selbst sprach ihn nicht. Um diese Zeit meist an ihrem Arbeitstische sitzend, konnte sie ihn drüben auf- und abwandeln sehen, aber so unzertrennlich auch sonst die beiden Schwestern waren, kurz vor der Besuchsstunde des Arztes zog sich Henriette stets in ihr Zimmer zurück, und Käthe hütete sich, mit einem hinübergerufenen Worte oder auch nur einem verständnisvollen Blicke Teilnahme an dem Gespräche zu verraten, die von der Kranken offenbar nicht gewünscht wurde. … Die Tante Diakonus aber sprach sie sehr oft, und zwar in der Schlossmühle. Die alte Frau sah täglich nach Suse, seit sie so nahe wohnte; sie brachte ihr Suppen und eingemachte Früchte und saß stundenlang bei der Haushälterin, die sich durchaus nicht darein fand und sehr unglücklich war, dass es mit dem Spinnen, Stricken und Waschen »immer noch nicht gehen wollte«.

Das waren trauliche Dämmerstündchen in der Schlossmühlenstube. Die Tante erzählte aus ihrer Jugend, aus der Zeit, wo sie noch »die Frau Seelsorgerin« im Dorfe gewesen war; sie beschrieb den schweren, tränenreichen Moment, wo sie den Doktor als achtjährigen Knaben aus dem Elternhause weggeholt hatte, weil ihm Vater und Mutter in Zeit von wenigen Tagen gestorben waren, und mochte sie auch mit kleinen Erlebnissen aus ihrer sonnigen Mädchenzeit oder aus ihrem glücklichen Eheleben beginnen, stets und immer gipfelten ihre Schilderungen in dem Zusammensein mit dem Doktor, der so recht der Sonnenschein ihres Lebens geworden war, wie sie versicherte.

Beim Nachhausegehen begleitete Käthe die alte Frau den rauschenden Fluss entlang bis an die Brücke. Die kleine Hand der Tante lag dann auf dem Arme des jungen Mädchens, und sie wandelten dahin, wie zusammengehörig, als müssten sie auch miteinander über die Brücke schreiten und hineingehen in »des Doktors Haus«, das so still und friedlich, so weltverloren und vom Dämmerlichte eingesponnen, hinter dem Ufergebüsche lag. Die Abende waren noch sehr frisch, und von dem schwarzen, starrenden Walde her zogen dünne Nebelschleier und feuchteten Haar und Kleider – da schlüpft man gern unter das gastliche Dach, auf welchem der Schornstein raucht. Gewöhnlich brannte schon die grünverschleierte Lampe in der Eckstube; durch das eine unverhüllte Fenster fiel ihr Licht, breit und hell, schräg über die Brücke. Die heimkommende alte Frau konnte nicht fehlgehen, wenn es auch schon tief dunkelte. Dann ging sie hinein; der letzte Fensterladen wurde geschlossen, und dort in der behaglichen Ofenecke – Käthe konnte sie mit ihren scharfen Augen vollkommen übersehen –, wo der grüne, verblichene Fußteppich lag und hinter dem runden Tische ein hochlehniger, gepolsterter Armstuhl stand, arrangierte sie geräuschlos den Abendtisch und wartete strickend, bis der Doktor sein Pensum beendet hatte. …

Das hatte sie dem jungen Mädchen auf der Abendwanderung wiederholt geschildert, und gar so gern blieb sie dann einen Augenblick auf der Brücke stehen, überblickte ihr trautes Heim und deutete lächelnd nach dem Manne, der arbeitend seinen dunkellockigen Kopf über den Schreibtisch beugte. Aber er sprang dann gewöhnlich auf und öffnete das Fenster, denn der neu angeschaffte Kettenhund fuhr mit wütendem Gebelle auf die Herankommenden los. »Bist Du es, Tante?« rief der Doktor herüber. Bei diesen Lauten floh Käthe aus dem Bereiche des Lampenscheines. Mit einem flüchtigen »Gute Nacht!« stürmte sie die einsame Allee hinauf; sie kam sich vor wie ausgestoßen, und so musste auch ihm später zumute sein – falls er Flora wirklich noch an seine Seite zu zwingen vermochte –, wenn er aus dem Hause am Flusse in die Stadtwohnung zurückkehrte und von seinem Weibe, der Seele des Hauses, mit kühlem Gruße am Schreibtische, oder geschmückt zu einer Abendgesellschaft, im flüchtigen Vorübergehen empfangen wurde. – –

Es war am siebenten Tage nach der Abreise des Kommerzienrates, als die Nachricht aus Berlin eintraf, dass die Spinnerei verkauft sei. Die Präsidentin war von dieser Neuigkeit so angenehm berührt, dass sie, noch im Kaschmirschlafrocke, mit dem Briefe in der Hand, die Treppe zur Beletage hinaufstieg und in Henriettens Zimmer trat, wo sich auch Flora kurz vorher eingefunden hatte.

Die alte Dame setzte sich in einen Lehnstuhl und erzählte. »Gott sei Dank, dass Moritz ein Ende macht!« sagte sie heiter gestimmt. »Er hat ein brillantes Geschäft abgeschlossen; das Etablissement wird ihm so horrend bezahlt, dass er selbst ganz überrascht ist.« Sie legte die feinen Hände gefaltet auf den Tisch und sah unendlich zufrieden aus. »Er wird nun ganz und gar mit seiner kaufmännischen Vergangenheit brechen. Damit fallen auch die fatalen Rücksichten für die sogenannten Geschäftsfreunde weg; denkt nur zurück, wie oft wir ungehobelte Gäste beim Diner gehabt haben, die besser am Domestikentische gesessen hätten! Mein Gott, waren das peinliche, verlegene Momente! Ach ja, man hat sich so manchmal stillschweigend überwinden müssen.«

Käthe stand währenddem am Fenster. Von dieser Stelle aus konnte man das große Fabrikgebäude inmitten seiner unvollendeten, neuen Anlagen liegen sehen. Der weite Kiesplatz vor dem Hause wimmelte von Menschen, von Männern, Weibern, Kindern, die aufgeregt durcheinanderfuhren und gestikulierten. Die Maschinen standen verlassen; es mochte kein einziger Arbeiter in den Sälen verblieben sein.

Das junge Mädchen am Fenster deutete betroffen hinüber.

»Weiß schon«, sagte die Präsidentin lächelnd; sie erhob sich und trat an das Fenster. »Der Kutscher hat mir eben im Korridore Meldung gemacht, es solle sehr laut da drüben zugehen. Man ist außer sich, dass die Spinnerei an eine Aktiengesellschaft verkauft worden ist, deren Direktorium hauptsächlich aus Juden zusammengesetzt sein soll. Ja, ja, so geht’s, die guten Leute ernten nun, was sie gesäet haben. Moritz hätte auf keinen Fall so überraschend schnell tabula rasa gemacht; sein Herz hing ja in für mich unbegreiflicher Weise an der Spinnerei, aber die letzten Vorgänge haben ihm den Besitz gründlich verleidet, er will mit der Sache nichts mehr zu tun haben.«

»Das sieht genau aus, als habe er sich gefürchtet, der gute Moritz«, meinte Flora mit verächtlich sich wölbenden Lippen. »Ich für meinen Teil hätte gerade in diesem Momente die Fabrik nicht für Millionen hingegeben; erst mussten die Kläffer sich überzeugen, dass ihr Lärmen umsonst gewesen sei, dass man ihre Schreckschüsse verlache. Der Grimm schnürt mir den Hals zu, wenn ich mir denke, es könnte nun heißen, die Drohbriefe an mich hätten uns eingeschüchtert.«

»Sei ruhig, Flora! Das glaubt niemand von Dir; man sieht Dir die Soldatencourage und Zuversicht auf hundert Schritte an«, spottete Henriette.

Die schöne Schwester rauschte schweigend nach der Tür; sie ignorierte ja derartige Bemerkungen der Kranken stets mit einem kalten Lächeln, und auch die Großmama erhob sich, um Toilette zum Diner zu machen.

»Bruck hat Dir für heute einen kleinen Spaziergang erlaubt, Henriette?« fragte die alte Dame, sich an der Tür noch einmal zurückwendend.

»Ich soll mich ein wenig im Stadtforste ergehen, um Tannenharzluft zu atmen.«

»Dann werde ich mich anschließen«, sagte Flora. »Ich brauche auch Luft, Luft, um nicht zu ersticken unter der Last von Widerwärtigkeiten, die mir das Schicksal aufbürdet.«

Sie reichte der Präsidentin den Arm, um sie die Treppe hinabzuführen.

Henriette stampfte zornig mit dem Fuße; sie hätte weinen mögen vor Ärger, aber verhindern konnte sie es doch nicht, dass die schöne Schwester nach Tische im weißen Filzhütchen, den Palmblattfächer in der Hand, erschien, um sie auf dem Waldspaziergange zu begleiten.

Es war ein herrlicher Apriltag mit wolkenlos blauem Himmel, mit glitzerndem Sonnengolde auf Weg und Steg und dem Dufte der ersten Veilchen in seinen sammetweichen Lüften. Noch war es hell in dem Streifen Laubwald, der den schwarzgrünen Mantel des Tannenforstes gleichsam verbrämte, so hell, als sei die Kuppel von diesen sonst so wonnig dunkelnden Säulengängen genommen; noch lag das machtvolle Grün, das die knorrigsten Äste bewältigt und sie geschmeidig jung aussehen macht, zu Milliarden weicher Flöckchen zusammengedrückt, im engen, braunen Schrein der Knospen; nur das feinzweigige Unterholz umschleierte ein blässlich grüner Hauch, und aus den feuchten Moospolstern reckten sich langstielige weiße Glöckchen. Diesen kleinen hellen Blumen ging Käthe pflückend nach, während Flora und Henriette auf dem schmalen Wege blieben, der nach dem Tannengrunde führte.

Still war es heute nicht im Walde – es war der Tag, an welchem sich die Armen der Stadt das dürre Holz holen durften. Man hörte das Einknicken verdorrter Äste, das gegenseitige Zurufen von Menschenstimmen, und tief im Gestrüpp stand Käthe plötzlich vor einem braunen Weibe, das eben einen abgesägten armstarken Buchenast zu Boden riss. War es, weil sie grünes statt des erlaubten dürren Holzes in den Händen hielt, oder machte ihr die unerwartet hervortretende Erscheinung selbst einen zornerregenden Eindruck – sie warf unter dem lilafarbenen Tuch hervor, das sie um den Kopf gebunden hatte, einen wilden Blick auf das junge Mädchen; in der Art und Weise aber, wie sie, kerzengerade aufgerichtet, mit dem Ast gleichsam spielend über den Boden hin- und herfegte, lag eine freche Herausforderung.

Käthe fürchtete sich nicht im Geringsten; sie bückte sich, um eine ganze Familie Anemonen unter dem nächsten Strauche zu pflücken; in diesem Augenblick drang vom Wege her ein vereinzelter Ruf, ein schwacher Laut, dem ein Tumult von geflissentlich gedämpften Stimmen folgte.

Das Weib horchte auf, schleuderte den Ast fort und schlug sich in der Richtung des Lärms quer durch das Untergesträuch. Und jetzt zitterte der Aufschrei wieder herüber – es war Henriettens krankhaft verschleierte, dünne Stimme. Käthe folgte der Frau auf den Fersen; die Dornen rissen ihr Fetzen vom Kleide, und die Büsche, die das Weib mit kräftigen Armen teilte, schlugen zurückschnellend und klatschend in ihr Gesicht, aber sie kam rasch heraus auf den Weg.

Zuerst sah sie nur einen Knäuel von Weibern und zerlumpten Jungen, der sich um den Stamm einer Kiefer drängte; bei den heftigen Bewegungen der Versammelten aber teilte sich da und dort das Konglomerat von struppigen Haaren und schmutzigen Kopftüchern und ließ Floras weißes Hütchen mit der emporstehenden blauen Feder auftauchen.

»Lasse den Zwerg los, Fritz!« rief ein bärenhaftes Weib.

»Aber sie schreit ja wie närrisch«, sagte eine Jungenstimme.

»Ach was, das Piepen hört kein Mensch.« Die Frau hatte eine breite Stumpfnase und kleine, boshafte Augen und überragte in hünenhafter Länge alle anderen.

Jetzt sprach Flora – Käthe erkannte kaum ihre Stimme.

Ein vielstimmiges Hohngelächter antwortete ihr.

»Aus dem Wege gehen?« wiederholte das große Weib. »Das ist der Stadtforst, Fräulein; da kann der ärmste Bürger spazieren gehen, so gut, wie die großen Herren – den will ich sehen, der mich da vertreibt.« Sie stellte sich noch breitspuriger hin. »Da guckt her, ihr Leute! Unsereins sieht das Gesicht sonst nur in der stolzen Kutsche, wenn die Pferde um die Ecken rennen und den armen Leuten am liebsten die Beine wegfahren möchten. … Ein schönes Frauenzimmer sind Sie, Fräulein – das muss Ihnen der Neid lassen. Alles Natur, nichts angestrichen; eine Haut wie Sammet und Seide – ’neinbeißen möchte man.« Sie bog den Kopf dicht neben das weiße Hütchen.

Die Frau, die vor Käthe hergelaufen war, wühlte sich förmlich in den Kreis. »Da kommt noch eine!« rief sie und zeigte mit dem Finger auf das junge Mädchen zurück.

Die Nächststehenden fuhren herum und traten unwillkürlich auseinander. Da stand Schwester Flora, weiß wie Schnee auf Wangen und Lippen; man sah ihre Knie wanken – sie rang sichtlich nach der gewohnten stolzen Haltung.

»Die geht uns nichts an«, schrie ein Junge und wandte Käthe den Rücken; der Kreis schloss sich wieder, noch enger, dichter als vorher.

»Käthe!« rief Henriette in hilfloser Angst hinter der Mauer von Menschenleibern, aber der Ruf wurde sofort erstickt; man hörte deutlich, dass ihr eine Hand auf den Mund gepresst wurde. In demselben Moment taumelten drei, vier Jungen rechts und links. Käthe stieß mit kraftvollen Armen selbst das Hünenweib auf die Seite und trat vor ihre Schwestern. »Was wollt Ihr?« fragte sie mit lauter, fester Stimme.

Einen Augenblick standen die Angreifer bestürzt, aber auch nur einen Augenblick – es war ja nur ein Mädchen mit einem blutjungen Gesicht, das da zu Hilfe kam. Nun wurde auch sie unter lautem Gelächter mit eingeschlossen.

»Tausendsapperlot, die fragt ja so kurz und knapp wie die Herren auf dem Gericht«, rief die Große und schlug sich klatschend auf die breite Hüfte.

»Ja, und tut so stolz, als ob sie directement von den heiligen drei Königen abstammte«, fiel die Frau im violetten Kopftuch ein. »Hören Sie, Ihre Großmutter war aus meinem Dorfe. Schuh’ und Strümpfe hab’ ich dazumal nicht an ihren Füßen gesehen, und ich weiß auch noch recht gut, wie Ihr Großvater Hü und Hott bei dem alten Müller Klaus seinen Pferden machte –«

»Glaubt Ihr, ich weiß das nicht, oder ich schäme mich dessen?« unterbrach sie Käthe ruhig und kalt, aber jeder Blutstropfen war ihr aus dem ernsten Gesicht gewichen.

»Wär’ auch noch schöner – ist Ihnen doch sein Geld gut gewesen, das viele, viele Geld«, rief eine Dritte, sich dicht an das junge Mädchen hinandrängend. Sie griff nach Käthes seidenem Kleide und rieb den Stoff prüfend zwischen den Fingern. »Ein schönes Kleid! Ein Staatskleid! Und so mitten in der Woche und im Walde, wo die Fetzen an den Dornen hängen bleiben! Na, was schadet’s denn? Das Geld ist ja da. Spreukörbe voll haben sie bei dem Alten gefunden. Aber wo es hergekommen ist? Gelt, darnach wird nicht gefragt? Ob der Schlossmüller den armen Leuten das Korn vor der Nase weggekauft und auf seinen Böden eingeschlossen hat, viel tausend scheffelweise – das ist Ihnen sehr einerlei, Fräulein. Und ob er gesagt hat, es müsste erst so und so hoch im Preise steigen, ehe er auch nur eine Schaufel voll hergäbe, und wenn die Leute wie die hungrigen Mäuse pfiffen –«

»Lüge!« rief Käthe außer sich.

»So – Lüge? Es ist wohl auch nicht wahr, dass wir nun den Gründern in die Krallen geworfen werden? Die nehmen uns die letzte Kartoffel aus dem Topfe. Das gibt ein Unglück. Meine Tochter geht lieber ins Wasser, als dass sie bei den Menschenschindern arbeitet.«

»Und mein Bruder schießt sie am ersten Tage über den Haufen«, prahlte ein halbwüchsiger Bursche.

»Ja, wie dem Zwerg da seine Tauben«, sagte ein anderer anzüglich und mit den Augen blinzelnd und zeigte auf Henriette, die sich mit zuckendem Gesicht, in wahnsinniger Angst an Käthe anklammerte.

Da scholl in ziemlicher Nähe das Gekläff eines Hundes. Augenblicklich richtete sich Flora auf, und der ganze kalte Hochmut, der ihr zu Gebote stand, spiegelte sich auf ihrem Gesicht. »Was geht mich der Verkauf der Spinnerei an?« fragte sie verächtlich. »Macht das mit dem Kommerzienrate aus! Er wird Euch schon zu antworten wissen. Und nun, marsch aus dem Wege! Eure Unverschämtheit soll Euch sehr schlecht bekommen – darauf könnt Ihr Euch verlassen.«

Sie streckte den Arm mit einer herrischen Gebärde gegen die Umstehenden aus, aber das große, starke Weib ergriff die feinbekleidete Hand, als sei sie zu einem freundschaftlichen Druck geboten, und schüttelte sie derb, mit gutgespielter Treuherzigkeit; dabei lachte sie aus vollem Halse, und die anderen stimmten johlend ein. »Fräulein, Sie kriegen ja Courage, wie ein Gendarm – wohl, weil dort drüben« – sie zeigte mit dem Daumen über die Schulter zurück – »ein Hund gebellt hat? Das ist dem Kreiser Sonnemann sein Dachsel; ich kenn’ ihn an der Stimme, und der alte Sonnemann ist stocktaub, und sein Dachsel geht nicht von ihm weg. Die gehen miteinander nach Oberndorf in die Schenke, wie jeden Nachmittag. Hierher kommen sie nicht – da seien Sie ganz ruhig! Und es geht Sie wirklich nichts an, Sie schönes Frauenzimmer, Sie, dass die Spinnerei verkauft worden ist? Wer’s glaubt! Man braucht Sie nur anzusehen, da weiß ein jeder gleich, wo Barthel Most holt. Sie und die alte Madame regieren und kommandieren, und der Kommerzienrat hat bloß zu gehorchen, und weil er nun reich genug ist, da sollen die gemeinen Leute, die ihm das Geld verdient haben, abgeschüttelt werden wie Ungeziefer. Na, ändern können wir’s freilich nicht, aber bedanken wollen wir uns doch bei Ihnen, Fräulein.«

Sie rückte näher, und der funkelnde Blick aus ihren kleinen, schiefen Augen hatte etwas katzenartig Grausames.

Flora schlug entsetzt die Hände vor das Gesicht. »Gott im Himmel, sie wollen uns ermorden«, stöhnte sie tonlos mit bebenden Lippen.

Der ganze Chor lachte.

»Denken Sie nicht daran, Fräulein!« sagte die Frau. »So dumm sind wir nicht. Da geht’s uns ja selbst«, sie strich sich bezeichnend mit der Hand unter dem Kinne weg, »an den Kragen; was haben wir davon? Nur einen kleinen Denkzettel sollen Sie haben.«

Flora griff plötzlich, wie infolge einer plötzlichen Eingebung, in die Tasche ihres Kleides, öffnete ihr Portemonnaie und schüttete den ganzen Inhalt, Gold und Silber, auf die Erde. Sofort erweiterte sich der Kreis, und die Vordersten, meist Knaben, waren im Begriffe, sich über das Geld herzustürzen. »Untersteht Euch!« schrie die Große und stellte sich mit ausgestreckten Armen zurückdrängend vor sie hin, dass sie wie eingekeilt standen. »Dazu ist’s nachher auch noch Zeit. Nachher, Fräulein«, wandte sie sich bedachtsam und ironisch höflich an die schöne Dame, »erst den Denkzettel!«

»Hüten Sie sich, uns zu berühren!« sagte Käthe. Sie behielt vollkommen ihre Fassung, während beide Schwestern dem Umsinken nahe waren.

»Ach Sie! Was mischen Sie sich denn da hinein? – Vor was soll ich mich denn hüten? Ein paar Wochen brummen«, sie machte eine wegwerfende Bewegung, »das lässt man sich schon einmal gefallen, und mehr geben sie einem beim Gerichte nicht für – na, für eine Ohrfeige, oder ein paar Schrammen im Gesichte. Und die sollen Sie haben, Fräulein, so gewiss wie ich dastehe«, wandte sie sich mit erhöhter Stimme an Flora. »Ich will Ihre schneeweiße Haut malen, dass Sie zeitlebens an mich denken. Sie sollen ein Gesichtchen kriegen, so schöngestreift wie ein Tigertier in der Menagerie.«

Blitzschnell hob sie die Hände, um mit den schmutzigen Nägeln Floras Gesicht zu zerkratzen; allein ebenso rasch griff Käthe zu. Mit einem einzigen Rucke packte sie die knochigen Fäuste und stieß das Weib zurück, dass der wuchtige Körper taumelnd eine Bresche in die Menschenmauer schlug. Und nun entstand ein unbeschreiblicher Tumult. Wie ein wütend gereizter Bienenschwarm stürzte sich die Menge auf das große, kraftvolle Mädchen, das leichenblass, aber hochaufgerichtet dastand, die Schwestern mit ihrem Leibe deckend. Flora war zu Boden gesunken; sie umklammerte, halbtot vor Angst, den Kieferstamm und drückte das bedrohte Gesicht an seine Rinde. Das herabfallende weiße Hütchen wurde unter den Füßen der Angreifer zerstampft.

»Hilfe, Hilfe!« schrie Henriette mit übermenschlicher Anstrengung, während alle Hände nach Käthe griffen; schon hing die schwarze Spitzenpelerine in Fetzen von ihren Schultern. Der Hut wurde ihr vom Kopfe gerissen, und die Flechten fielen gelöst über den Rücken hinab; da kreischte der Junge, der abermals seine Hände auf Henriettens Mund gepresst hatte, wild auf. »Herr Jesus, was ist denn mit der da?« schrie er und wühlte sich durch das Gemenge, um zu entfliehen.

Ein Blutstrom quoll über die Lippen der Kranken, die mit versagenden Blicken und tastenden Händen nach einer Stütze griff, aber alles wich scheu zurück. Blut! … Im Nu zerstob die Menge nach allen Richtungen hin. Im Gebüsche rauschte und knackte es, wie wenn ein Rudel Wild durchbricht, dann war es still, als sei das wilde Heer, das sich eben noch so wütend gebärdet hatte, im Waldboden versunken. Und wenn auch da und dort der Kopf eines Jungen aus dem Gestrüpp lugte, um die Stelle, wo das Geld auf der Erde verstreut lag, nicht aus den Augen zu verlieren, so geschah das vorsichtig und vollkommen lautlos.

Käthe hatte die Schwester in den Armen aufgefangen und ließ sich mit ihr zu Boden gleiten. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Kiefer und bettete den Kopf der Kranken an ihrer Brust. In dieser Lage hörte das Blut allmählich auf zu strömen.

»Hole Hilfe!« sagte sie, ohne die weinenden Augen von dem totenähnlichen Gesichte der Kranken wegzuwenden, zu Flora, die in Angst und Ungeduld auf die Gruppe niedersah und ihre krampfhaft verschränkten Hände gegen den Busen drückte.

»Bist Du wahnsinnig?« fuhr sie mit gedämpfter Stimme auf. »Soll ich der Meute geradewegs in die Hände laufen? Allein rühre ich mich nicht von der Stelle. Wir müssen versuchen, Henriette fortzuschaffen.«

Käthe sagte kein Wort; sie sah, dass sie an diesen grenzenlosen Egoismus vergebens appellierte. Nach verschiedenen vorsichtigen Manipulationen, bei denen Flora behilflich war, stand sie endlich auf den Füßen und trug Henriette wie ein Kind auf dem Arme; der Kopf der noch immer Bewusstlosen ruhte auf ihrer Schulter. Sie glitt förmlich über den Boden und wich dem kleinsten Steine aus, um jede gefahrbringende Erschütterung zu vermeiden. Diese Bemühungen erschwerten ihr die Last bedeutend, aber stehen bleiben und nur einmal tief Atem schöpfen durfte sie nicht.

»Ruhe aus, so lange Du Lust hast, wenn wir draußen im freien Felde sind – nur hier nicht, wenn Du nicht willst, dass ich vor Angst sterben soll!« sagte Flora in gebieterischem Tone. Sie ging dicht an Käthes Seite, mit hochgehobenem Kopfe und ihrer gewohnten imposanten Haltung, aber unausgesetzt das verräterische Gebüsch am Wege scheu beobachtend, um bei dem geringsten verdächtigen Geräusche die Flucht zu ergreifen. – Wo war die »Soldatencourage«, die Henriette heute ironisch betont hatte? Wo die stets so geflissentlich zur Schau getragene Konsequenz und Sicherheit, der schroff männliche Geist? Käthe sagte sich in dieser schweren Stunde ernster Erfahrung, dass da, wo bei der Frau das edel weibliche Denken, Empfinden und Streben aufhört, die – Komödie beginnt.

Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
0+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
06 detsember 2019
Objętość:
497 lk 30 illustratsiooni
Õiguste omanik:
Public Domain