Loe raamatut: «Schritte an der Grenze»
Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
Wörterseh-Bestseller als Taschenbuch
Die Originalausgabe erschien als Hardcover im Werd-Verlag
und als Taschenbuch im Verlag Frederking & Thaler
© 2017 Wörterseh, Lachen SZ
Lektorat: Regula Walser
Korrektorat: Andrea Leuthold
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina
Foto Umschlag vorne: Bruno Petroni
Foto Umschlag hinten: Robert Bösch
Fotos Bildteil: Robert Bösch (gekennzeichnet), alle anderen Privatarchiv Evelyne Binsack
Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Beate Simson
ISBN 978-3-03763-320-5 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-03763-741-8 (E-Book)
INHALT
Zum Buch
Die Personen hinter dem Buch
1 »In die Berge gehen«
Raymond Binsack, Vater
2 Muttergöttin der Erde
Remo Zberg, Leichtathletik-Trainer
3 Bergführer
4 Patagonien
5 Puja-Zeremonie
6 Der Wunsch, Bergführerin zu werden
Ruedi Kaufmann, Bergführer
7 Everest. Mount Everest.
8 Advanced Base Camp
9 Flughelferin
10 Ferdi
11 Neu anfangen. Jeden Tag.
12 Dem Berg begegnen
13 Akklimatisation
14 Helikopterpilotin
Erika Binsack, Mutter
15 Warten
Dr. Jürg Marmet, erster Schweizer auf dem Mount Everest
16 Die Kletterei
17 »Gott beschütze dich!«
18 Beziehungen
19 Gipfeltag
20 Der Berg bekommt seine Ruhe
Bildteil
Nachwort der Verfasserin
Zwanzig Jahre später – ein Rückblick von Evelyne Binsack
Literaturverzeichnis
ZUM BUCH
In diesem Buch erzählt Evelyne Binsack, die am 23. Mai 2001 als erste Schweizerin auf dem Mount Everest stand, wie sie den Aufstieg zu diesem mit 8848 Metern höchsten Gipfel der Erde meisterte. Ihr Ziel war es schon damals, später noch zwei weitere Pole, den Süd- und den Nordpol, zu erreichen, was ihr in den Jahren 2007 und 2017 auch gelang. In »Schritte an der Grenze« gibt die charismatische Abenteurerin unter anderem Antworten darauf, weshalb es sie dazu drängt, immer schwierigere Ziele zu verfolgen, und reflektiert darüber, ob Frauen anders an den Berg gehen als Männer. Zudem erzählt sie, was sie antrieb, außer Bergführerin auch noch Helikopterpilotin zu werden, und wie ein Fläschchen Weihwasser in der Todeszone des Mount Everest Leben rettete.
»Die Ernte von Erfahrungen ist Erkenntnis.«
Evelyne Binsack
DIE PERSONEN
HINTER DEM BUCH
Evelyne Binsack, geb. 1967, verstand schon früh, dass es für das Überleben in der Steilwand essenziell ist, die Gesetze der Natur zu respektieren und die physischen sowie die mentalen Fähigkeiten unermüdlich zu trainieren. 1991 absolvierte sie als eine der ersten Frauen Europas die Ausbildung zur diplomierten Bergführerin und bestieg zehn Jahre später als erste Schweizerin den Mount Everest. Im September 2006 startete sie vor ihrer Haustür Richtung Süden, war unterwegs mit dem Fahrrad, zu Fuß, mit Skiern und dem Schlitten und kam nach 484 Tagen am Südpol an. Aber erst 2017 erfüllte sich ihr lang gehegter Traum, aus eigener Muskelkraft auch noch zum Nordpol zu gelangen. Über das Erreichen dieser drei Pole sind folgende Bücher erschienen: »Schritte an der Grenze«, »Expedition Antarctica« und »Grenzgängerin«. Evelyne Binsack, die im Berner Oberland lebt, arbeitet als Bergführerin und ist eine gefragte Referentin. In ihren Vorträgen geht es um Themen wie Risikomanagement, Selbstführung und Zielverwirklichung ebenso wie um ihr Leben und ihre Passion. Einen neuen Weg beschreitet sie, indem sie andere Menschen nicht mehr nur als Bergführerin auf Berge, sondern auch als Beraterin und Mentorin begleitet. Mehr dazu unter: binsack.ch
© Gianni Pisano
Gabriella Baumann-von Arx, , geb. 1961, ging es in ihren journalistischen Texten immer um Menschen und deren Geschichten. Bald war ihr die Länge eines Zeitungsartikels zu kurz für all die Facetten, die sie in ihre Texte einarbeiten wollte, und so begann sie, Bücher zu schreiben. Bücher über außergewöhnliche Menschen. Ihre erfolgreichste Veröffentlichung – »Lotti, La Blanche« – erschien 2003 im Werd-Verlag. Da der Nachfolgeband »Madame Lotti« dort ein Jahr später keinen Platz fand, gründete Gabriella Baumann-von Arx den Wörterseh-Verlag, für den sie später auch »Lotti Latrous« schrieb. Außerdem »Solo«, eine Nahaufnahme des damals knapp dreißigjährigen Ausnahmeathleten Ueli Steck, der am 30. April 2017 im Himalaja tödlich verunglückte. Gabriella Baumann-von Arx fand zwar neben ihrer neuen Aufgabe als Verlegerin schon bald keine Zeit mehr, um selbst zu schreiben, doch eines blieb auch dabei zentral: Es sind Menschen und deren Geschichten, die sie interessieren. woerterseh.ch
1»In die Berge gehen« – das brachte ich lange Zeit in Verbindung mit Knickerbockerhosen und roten Socken. Mit von Fett glänzenden, ungewaschenen Haaren und Schweißrändern unter den Achseln. Und mit in verfilzte Schnurrbärte triefenden Rotznasen.
In die Berge zu gehen, war mir als Kind ein Gräuel. Ich ging trotzdem. Weil ich musste. Denn in Hergiswil, im Kanton Nidwalden, wo ich, am Fuße des Pilatus, aufgewachsen bin, sind sonntägliche Familienspaziergänge immer gleich Wanderungen. Die Berge sind nah. Zu nah, fand ich damals. Heute können sie mir nicht nah genug sein. In Beatenberg, wo ich lebe, sehe ich, wenn ich morgens aus dem Bett steige, Eiger, Mönch und Jungfrau. Abends sind die Gipfel von der untergehenden Sonne in pastellfarbenes Rosa getaucht. Manchmal sind sie besonders schön, weil der Himmel darüber vor lauter Kälte leuchtend blau ist. Und mit blau meine ich dieses spezielle Blau, dieses Blau, das ich in Gletscherspalten finde. Hell ist es, eisig schimmernd, fast durchsichtig. Wenn ich es sehe, dann denke ich an das Wort »rein«. Ja, ein reines Blau. Eines, das kein Künstler je so malen könnte. Weil nichts wirklicher ist als die Wirklichkeit. Fassbar gewordene Natur.
Ich könnte hier auch von Gott sprechen. Ich rede mit ihm. Oft. Ich spüre ihn, sehe ihn. In jedem einzelnen Windhauch, in jedem Eiskristall, in Blumen, die da wachsen, wo es gar kein Wachsen mehr gibt. An Felswänden. Meine Mutter vermittelte mir Religion auf eine ganz besondere Weise. Eines unserer Rituale war das Kreuzeszeichen, das sie mir unzählige Male mit geweihtem Wasser auf die Stirn zeichnete.
Seit wann ich mich zum Mount Everest hingezogen fühlte, weiß ich nicht mehr – nur daran erinnere ich mich: Meine Mutter hat mir – in einem Gedicht – zu meinem zwanzigsten Geburtstag Glück für den Achttausender gewünscht. Dass mein Wunsch einmal in Erfüllung gehen würde, davon konnte ich lange Zeit nur träumen. Als ich eines Tages nicht mehr träumen, sondern meinen Traum in die Tat umsetzen wollte, ging ich auf Sponsorensuche. Und fand einen Geldgeber, der bereit war, die finanziellen Mittel von 35 000 Dollar für mich aufzubringen.
Als ich mich zu meinem Abenteuer Mount Everest aufmachte, gab mir meine Mutter ein Fläschchen Weihwasser mit auf den Weg. Es hat – auf 8700 Metern über dem Meer, in der Todeszone – geholfen zu überleben. Nein, nicht mir. Aber davon später.
Mich hat der Mount Everest verschont, mehr noch, er war gütig zu mir, hat mir zwar alles abverlangt, aber auch alles gegeben. Zwischen meinem Abflug aus der Schweiz am 31. März 2001 und meiner Rückkehr am 4. Juni 2001 liegen nicht nur viele Nächte im Zelt, sondern unzählige bereichernde Erfahrungen, großes Glück, neue Freundschaften und die Gewissheit, dass Mut nichts mit der Abwesenheit von Angst zu tun hat, sondern mit der Fähigkeit, diese zu erkennen, um sie zum eigenen Vorteil nutzen zu können.
Wäre der Mount Everest mit seinen 8850 Metern nicht der höchste Berg der Erde, wäre es dort oben ruhiger. Es lägen keine leeren Sauerstoffflaschen herum und kein Müll. Der Berg hätte seinen Frieden. Und die Sherpas und Yak-Männer hätten keine Arbeit.
Der Mount Everest wird am häufigsten über die Süd- und die Nordroute bestiegen. Die Südroute liegt in Nepal und ist – trotz der Mehrkosten – die beliebteste Variante, um zum Gipfelerfolg zu kommen. Sie birgt jedoch eine große Gefahr: den Khumbu-Gletscher, eine Eiswüste mit sich ständig verschiebenden Spalten und haushohen Eistürmen, die jederzeit zusammenbrechen können. Es sind die Sherpas, die diesen Gletscher überhaupt begehbar machen, da sie Jahr für Jahr neue Wege ins Eis schlagen und durch Fixseile und Leitern ein Vorwärtskommen überhaupt erst ermöglichen.
Die Route im Norden liegt in Tibet, ist ursprünglicher, alpinistischer und interessanterweise nicht so beliebt. Weshalb, das kann ich nur schwer erklären. Zugegeben, sie ist windiger und kälter als die Südroute, aber so eisig kalt ist sie nun auch wieder nicht. Der Wind hingegen ist ein Problem, immer Wind, ständig Wind, das ist sehr Energie raubend.
Die Nordroute birgt weniger Gefahren als die Südroute: keinen bedrohlichen Gletscher, keinen Eisschlag, keine Spalten und weniger Lawinen. Die Lawinengefahr besteht erst ab 8100 Metern und auch dann nur, wenn es viel Neuschnee gegeben hat. Die Route hat – wie könnte es anders sein – auch einen Nachteil: einen langen, flachen Grat. Er beginnt auf 8600 Metern. Um ihn meistern zu können, wird das letzte Biwak auf 8400 Metern errichtet. So hoch wie nirgendwo sonst auf der Welt. Links und rechts dieses Grates wird man von einer unendlich scheinenden Tiefe begleitet. Auf der einen Seite bricht die Nordwand 2000 Meter gegen Tibet ab, auf der andern Seite die Ostwand 3000 Meter gegen Nepal. Man geht buchstäblich auf Messers Schneide. Auf den glatten Kalkplatten finden die Steigeisen keinen festen Halt, und man gewinnt kaum an Höhe. Auf 8600 Metern ist das äußerst kräftezehrend.
Meine Entscheidung für die Nordroute hing vor allem damit zusammen, dass ich mich der Expedition des Neuseeländers Russell Brice, der in Chamonix lebt, anschloss. Russell organisiert seine Expeditionen auf den Mount Everest immer von Norden her. Nie von Süden. Warum, weiß ich nicht, ich habe ihn nie danach gefragt. Aber seit ich selbst in Tibet war, kann ich es mir vorstellen. Tibet hat eine fesselnde Magie. Die Kultur des Landes, seine Menschen und seine Religion sind von einer unglaublichen Intensität. Das Land ist 2,5 Millionen Quadratkilometer groß und hat sechs Millionen tibetische Einwohner. Unter ihnen leben 7,5 Millionen Chinesen als Folge der Besetzung Tibets, die im Sommer 1949 durch die chinesische Volksbefreiungsarmee begann. Sie brachte weit über einer Million Tibetern den Tod und führte zur mutwilligen Zerstörung von mehr als 6000 Heiligtümern. Die Tibeter haben sich der Besatzungsmacht nicht gebeugt, haben die chinesischen Werte nicht übernommen, leben ihre Kultur und vor allem ihre Religion, den Buddhismus. Allen Repressionen und Demütigungen zum Trotz träumt das stolze Volk ihn noch immer, den Traum, eines Tages wieder autonom leben zu dürfen.
Es ist vielleicht die Geschichte Tibets, die Russell fasziniert und ihn immer wieder von Norden her an den Berg gehen lässt. Die Sherpas und Yak-Männer, die jedes Jahr für ihn arbeiten, nennt er liebevoll »meine Familie«.
Russell organisiert zum elften Mal eine Expedition zum Mount Everest, hat also eine langjährige Erfahrung, die Gold wert ist. Er ist ein Mensch mit einer Energie, die der von fünf Männern entspricht. Woher er sie nimmt, weiß ich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass er seit elf Jahren immer wieder nach Tibet reist, dass er immer wieder an den Fuß dieses gewaltigen Berges, in diese unendliche Ruhe zurückkehrt. Vielleicht ist es das, was ihn so stark macht.
Russell hat eine fixe Idee: Er möchte im Basislager am Fuß des Mount Everest eine Lodge samt Krankenstation bauen. Dieses Projekt ist unter Alpinisten und Naturschützern sehr umstritten, und seit ich die Pläne kenne, bin ich mit ihnen in einem Punkt einverstanden: Eine Lodge würde in diesem Gebiet eine touristische Entwicklung in Gang bringen, die wohl nur schwer zu bremsen wäre, denn die Chinesen träumen, das ist eine traurige Tatsache, vom großen Geld des Massentourismus. Eine Krankenstation hingegen würde helfen, Leben zu retten.
Russell ist 47 Jahre alt und hat Ähnlichkeiten mit einem »lonely wolf«, der in der freien Natur lebt, sich ab und zu gerne im Rudel aufhält, aber auch immer wieder Reißaus nimmt, um alleine durch die Gegend zu streifen. Russell hat die Berge gewählt, er hätte sich aber ebenso für die hohe See entscheiden und ein Seebär werden können. Die Verantwortung, die er sich immer wieder von neuem auf die Schultern lädt, ist für ihn Business. Damit verdient er sein Geld. Bei den elf Expeditionen, die er bisher am Mount Everest leitete, hatte er keinen einzigen Verlust zu beklagen.
Wie jedes Jahr hat er für sein Expeditionsteam die Logistik erledigt, all die nötigen Bewilligungen eingeholt, für professionelle Führer, Sherpas, Yak-Männer, Yaks, Zelte, Essen und für den besten Koch gesorgt. Kurz, er hat für seine Kunden eine Infrastruktur organisiert, die das Leben in dieser Höhe erleichtert.
Auch ich habe von dieser Infrastruktur profitiert. Zusammen mit meinem Kletterkollegen Robert Bösch. Bei einem Treffen mit Russell vor unserer Abreise besprachen wir das Vorgehen am Berg. Robert und ich würden die Hochlager von Russells Expedition benutzen können. Die Sherpas würden uns viele Lasten abnehmen und in die einzelnen Lager tragen. Aber die Entscheidungen am Berg würden Robert und ich autonom fällen. Russell erklärte sich damit einverstanden.
Robert Bösch ist ein sehr guter Alpinist und, wie ich, Bergführer. Wir kennen uns schon lange, haben manche Tour miteinander unternommen. Darüber hinaus ist er ein ausgezeichneter Fotograf, einer, der schon Bilder von mir machte, als mich noch fast niemand kannte. So auch bei einer Besteigung der Eigernordostwand und beim Durchklettern der Lancelot-Route in den Wendenstöcken. Es war nur logisch, dass ich meinen Sponsor darum bat, dass Robert mich begleiten dürfe, nicht nur, um mich für die Schweizer Medien zu fotografieren und für das Schweizer Fernsehen zu filmen. Nein, Robert und ich waren uns einig, dass oberhalb von 8000 Metern auch noch anderes auf ihn warten würde: Bilder von Schnee und Eis und Kälte. Von unendlicher, sich wölbender Weite. Von Tagen, an denen sich das Blau des Himmels im Eis spiegelt. Und von Nächten, deren tiefes Schwarz sich im Weiß der eisbedeckten Giganten bricht.
Bilder aus über 8000 Meter Höhe gibt es nur wenige, worüber ich mich allerdings nicht mehr wundere. Auf 8000 Metern betritt man einen neuen Raum, man nennt ihn die Todeszone. Kein Mensch überlebt diese Zone, wenn er sich darin zu lange aufhält, und jede zusätzliche Anstrengung wird zu einer extremen Belastung. Robert schleppte bei seinem Gipfelversuch die Fotoausrüstung mit, was das Ganze für ihn schwieriger machte. Auch konnte er durch das Fotografieren keinen eigenen Schritt-Rhythmus finden: stehen bleiben – auspacken – Handschuhe ausziehen – einen Meter nach rechts, einen nach links gehen, um die beste Einstellung zu finden – abdrücken – einpacken – Handschuhe wieder anziehen – weitergehen. In dieser Höhe eine ungeheure körperliche Anstrengung.
Als ich meinen Eltern bei einem gemeinsamen Abendessen mitteilte, ich wolle zum höchsten Punkt unserer Erde aufbrechen, wolle den Mount Everest besteigen und nähme das Risiko eines Scheiterns, wie auch immer dieses aussehen würde, in Kauf, schauten sie mich lange an. Und begannen schließlich, mich aufzuklären. Sie erklärten mir – der Bergführerin –, dass Menschen dort oben schwarze Füße kriegten und ebensolche Nasen, dass Kälte »amputieren« könne und dass ich meine Hände vielleicht nie mehr würde gebrauchen können wie heute. Das heißt, all dies sagte meine Mutter. Mein Vater schwieg.
Raymond Binsack, Vater
Als uns Evelyne von ihrem Vorhaben erzählte, auf den Mount Everest zu steigen, wusste ich sofort, auszureden war ihr dieses Ziel nicht. Sie war schon immer ein »Zwängigrind«, ein liebes zwar, aber auch eines, das ganz schön Nerven kostete. Natürlich fragte ich mich, ob der Everest tatsächlich sein müsse. Gleichzeitig aber wusste ich ja schon längst, dass man Evelyne nicht anbinden kann. Also habe ich auch gar nicht erst versucht, sie von ihrer Idee abzubringen. Und darum habe ich mir, als sie am Mount Everest war, auch nicht so viele Gedanken gemacht wie meine Frau.
Ich bin früher auch geklettert, besuchte im Militär sogar einige Hochgebirgskurse, mehr als ein Hobby war die Kletterei aber nie. So hoch hinaus wie Evelyne – das hat mich nie interessiert. Und als ich dann heiratete und die beiden Töchter auf der Welt waren, habe ich das Seil in eine Ecke gelegt. Ich wollte keine Risiken mehr eingehen, sondern meine Aufgabe als Familienvater wahrnehmen.
Rückblickend muss ich sagen, ich war ein strenger Vater, forderte viel von meinen Kindern, dachte immer: Später sind sie mir dankbar, dass sie eine Linie haben. Meine Philosophie, die ich zu vermitteln suchte, war: Tue recht und scheue niemand!
Früher überließen wir Männer es den Frauen, unsere Kinder zu trösten. Heute sind die Väter zärtlicher geworden, das finde ich schön.
Unsere ältere Tochter, Jacqueline, wurde Lehrerin, Evelyne wollte an die Sportschule Magglingen, um Sportlehrerin zu werden, warum das dann nicht geklappt hat, weiß ich nicht mehr. Sie hatte offensichtlich andere Pläne, lernte Sportartikelverkäuferin – wie gesagt, sie wusste sich durchzusetzen. Meine Frau hatte immer mehr Verständnis für sie als ich.
Nachdem Evelyne auf dem Mount Everest gestanden hatte, wurde ich von Journalisten immer wieder gefragt, ob ich stolz sei auf meine Tochter. Eine Frage, die mir nicht gefällt, das heißt, eigentlich gefällt mir nur dieses eine Wort nicht: stolz. Stolz bedeutet für mich »eingebildet sein«, »den Kopf zu hoch tragen«, »sich brüsten«, »mit hohlem Kreuz gehen«.
Lieber wäre mir die Frage gewesen, was ich an Evelyne schätze, dann hätte ich sagen können: ihre Aufrichtigkeit, ihre fröhliche Natur, ihr Vermögen, frisch von der Leber weg zu erzählen. Etwas, was ich nicht kann. Für all ihre Leistungen – nicht nur für die der Mount-Everest-Besteigung – empfinde ich aufrichtige Hochachtung.
Einmal führte Evelyne eine Gruppe auf eine Skitour und nahm uns Eltern mit. Die Tour ging über Gletscher und durch steiles Gelände, das mit etlichen Gletscherspalten durchsetzt war. Sie machte das richtig gut, so gut, dass ich nicht mal protestierte, als ich dachte, sie hätte den falschen Weg eingeschlagen. Halte dich zurück, sagte ich mir, so selbstsicher, wie sie hier auftritt, wird sie es schon richtig machen. Und tatsächlich, sie führte uns die 3000 Höhenmeter bestens hinunter.
Beeindruckt hat sie mich vollends, als wir mit ihr auf einen Helikopterflug durften. Als Pilotin erlebte ich sie als einen anderen Menschen. Ernst und hochkonzentriert, wenig mitteilsam. Ich fühlte mich absolut sicher. Und bekam erst dann ein flaues Gefühl im Magen, als sie ganz nah an verschiedenen Nordwänden vorbeiflog. Nicht, weil ich Angst gehabt hätte, sondern weil sie uns sagte, die meisten habe sie ohne Seil bestiegen.
Zuerst zeigte sie uns die kalten, abweisenden, grauen Nordwände des Rottalkessels, flog dann weiter zur Nordwand des Großen Fiescherhorns und verschonte uns auch nicht mit dem Anblick der Nordostwand des Eigers. Nichts als Schnee, Stein, Eis. In dieser Wand war meine Tochter geklettert? Ohne Sicherung! Ich schaute Evelyne von der Seite an. Sie sprach, bevor ich etwas sagen konnte. »Überwältigend, diese Flanke, nicht?«, fragte sie und sah dabei so entspannt und glücklich aus, dass ich nur nickte.
Die einzige schlaflose Nacht, die sie mir und meiner Frau mit ihrer Kletterei bescherte, war jene, als sie vor Jahren eine große Klettertour in den Ostalpen unternahm. Sie verabschiedete sich schon am Vorabend von uns, weil sie die Nacht in einer Hütte verbringen wollte, um am folgenden Tag in aller Frühe losgehen zu können. Der nächste Morgen begann strahlend schön, doch im Verlaufe des Nachmittags schlug das Wetter um. Es begann regelrecht zu gießen, und schon bald peitschte der aufkommende Sturm die Bäume. Abends um neun war Evelyne noch immer nicht zu Hause. Sie kam auch nicht um Mitternacht, und als morgens um sechs ihr Bett noch immer leer war, telefonierte ich mit der Rettungsflugwacht und meldete meine Tochter als vermisst.
Um nicht zu Hause rumhocken zu müssen, gingen meine Frau und ich in das Tal, zu dem Evelyne zwei Tage zuvor aufgebrochen war. Die Stunden, bis der Heli endlich landete und Evelyne, völlig erschöpft und durchfroren, ausstieg, möchte ich nie mehr erleben müssen. Wir nahmen sie in die Arme. Das heißt, nicht nur meine Frau nahm Evelyne in den Arm, auch ich. Ich drückte sie ganz fest. Damals hat sie wohl auch gemerkt, dass ich meine Gefühle für sie bis anhin gut versteckt hatte. Seither weiß sie, wie gern ich sie habe.