Loe raamatut: «Atemlos ins Nichts»
Evelyne Kern
Roman
Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Impressum:
©Autorin: Evelyne Kern (Alle Rechte)
Herausgeber: Red Scorpion Books e K.
Vertrieb: Zeilenwert® /Libreka
Redaktion: www.evelyne-kern.de ISBN EPUB: 9783944224060
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Über die Liebe
Es ist nicht gerecht...
Drei Jahre später
Ein Jahr später
Zwei Jahre später
Biografie
Über die Liebe
Liebe ist jener Zustand im Leben, der unaufgefordert, rücksichtslos und ohne Hemmungen über uns arme Menschenkinder hereinfällt. Wer glaubt, er könnte die Liebe verhindern, wenn sie kommt, der irrt.
Liebe ist wie ein warmer Sommerwind, der zärtlich seinen Atem über nackte Haut pustet und sie im Augenblick des Glücks erstarren lässt.
Liebe lässt keine Auswege zu, sie nimmt sich das, was sie braucht, sie fordert, sie giert, sie ist wunderbar und sie tut unendlich weh.
Liebe lässt die Gefühle in uns leben, wärmt sie langsam auf, erhitzt sie bis sie erglühen und lodern. Ein Flammenmeer schlägt über uns zusammen, brennt und flackert in höllischem Verlangen.
Liebe sticht tief in die Seele, lässt das Herz erglühen in schamloser Begierde, macht uns willenlos und unsagbar schwach.
Liebe ist Glückseligkeit in ihrer Vollendung und wohl das Schönste, was einem Menschen beschert werden kann.
Liebe bettet Gefühle auf Rosen, lässt Gedanken mit den Wolken fliegen, fängt sie ein in zärtlicher Musik.
Liebe braucht keine Worte, keine Erklärung, keine Besinnung. Allein die Vernunft ist der einzige Gegner der Liebe. Verliert sie einen Kampf gegen deren Macht, so zieht sie sich nicht zurück, ohne ihre schmerzlichen Spuren zu hinterlassen. Noch im Kampf versucht sie aufs Neue zu erglimmen, aufzubegehren, in reisender Wut sich zu wehren – bis sie in unendlicher Trauer und dem Wahnsinn nahe zunächst unter der Glut erstickt.
Liebe hadert lange mit dem Menschen, der sie, ohne es eigentlich zu wollen, aus seinem Herzen reißt. Sie kennt kein Mitleid.
Liebe ist grausam, wenn sie sich nicht entfalten kann. Sie schmerzt, hämmert, bohrt und verleitet zu Bösartigkeiten.
Liebe kann hassen und schreckliche Träume hervorrufen. Erhascht sie aber nur einen Funken vom Glück, so ist sie nicht mehr aufzuhalten. Aufs Neue lodert sie aus der Glut empor, entfacht ein Feuer und gewinnt.
Evelyne Kern
Es ist nicht gerecht, ich habe doch nichts getan, ich habe mich doch nur verliebt“, rief Julia verzweifelt. Ihre Stimme zitterte wie die eines verängstigten Kindes. Mit ihren kleinen Fäusten trommelte sie an die schwere Holztür mit den großen schmiedeeisernen Beschlägen und der Klappe in der Mitte, die sie seit ein paar Stunden von der Freiheit trennte. Tränen liefen ihr über das hübsche Gesicht, die sie immer wieder mit ihrem Handrücken abzuwischen versuchte. Langsam rutschte sie an dem dunklen, abgegriffenen Holz der gewaltigen Türe herunter. Sie sank auf die Knie, schlug ihre Stirn an das Holz, ihre Fäuste noch immer geballt und gegen die Türe gestemmt.
Am Nachmittag war sie in die Jugendabteilung eines Frauengefängnisses in Nordbayern überführt worden. Untersuchungshaft war angeordnet.
Ihre Kraft ließ langsam nach, niemand kam, um sie zu beruhigen, niemand wollte ihr helfen, niemand hatte Mitleid. Langsam drehte sie sich um und setzte sich auf den kalten Steinfußboden, den Rücken an die Türe gelehnt. Mit einem Zipfel ihres Ärmels wischte sie sich die nassen Spuren aus dem Gesicht, seufzte tief und wurde langsam ruhiger.
Wie konnte das alles nur geschehen? Immer und immer wieder fragte sie sich, warum sie selbst das alles zugelassen hatte.
Obwohl es ihr wie eine Unendlichkeit vorkam, war es erst eine Woche her, dass ihre Freundin Claudia bei ihr geklingelt hatte und sie lautstark aufforderte, mit ihr zu kommen.
„Ich habe zwei tolle Jungs kennen gelernt“, sagte das Mädchen, das nebenan wohnte und schon mit Julia zur Schule ging.
„Sie warten draußen mit ihrem Auto, komm doch mit.“
Aufgeregt, wie sie war, ließ sie Julia nicht einmal die Zeit nachzudenken, sondern machte bereits wieder kehrt, um auf die Straße zurückzulaufen.
„Wir warten draußen auf dich“, rief sie noch und war verschwunden.
Weil Julia sowieso mit diesem Samstagnachmittag nichts anzufangen wusste, entschloss sie sich, mitzukommen. Sie machte sich frisch, zog ihr neues, geblümtes Sommerkleid mit den schmalen Spaghetti-Trägern über und stand zehn Minuten später frisch gekämmt und mit rosa Lippenstift etwas aufgeputzt an dem blauen Sportwagen, der vor der Haustüre parkte. Die Fahrertüre sprang auf und Julia hörte Claudias Stimme aus dem Inneren des Autos: „Steig ein, Julia“, rief sie vom Rücksitz, auf dem sie bereits mit einem blonden jungen Mann Platz genommen hatte.
Der Fahrer des Wagens stieg aus, kam um den Wagen herum, gab Julia artig die Hand, öffnete ihr die Beifahrertüre und bat sie höflich einzusteigen. Wieder auf seinem Fahrersitz angelangt, lächelte er sie an und sah ihr dabei tief in die Augen.
„Das ist Marian“, sagte Claudia von hinten hervor, „und der blonde Bengel hier neben mir ist Daniel, mein neuer Freund.“
Marian und Julia sahen sich noch immer an.
„Und wie heißt das hübsche blonde Girl neben mir?“, fragte Marian, ohne den Blick von ihr zu wenden.
„Das ist Julia, meine beste Freundin“, sagte Claudia aufgeregt und meinte, Marian sollte endlich losfahren.
Er tat es, drehte den Schlüssel um und brauste davon.
Julia sah ihn schüchtern von der Seite an. Er war etwa einen Kopf größer als sie, hatte langes, schwarzes Haar, das sorgfältig frisiert in seinen Nacken fiel. Seine dunkelbraunen Augen waren von langen, schwarzen Wimpern gerahmt. Er hatte eine ungewöhnlich gerade Nase und ein sehr markantes Kinn. Hinter seinen schön geformten, vollen Lippen blitzten schneeweiße, gerade Zähne wie Perlen hervor.
„Ich muss aber um zehn Uhr zu Hause sein“, bemerkte Julia.
„Kein Problem“, entgegnete Marian und mit einem Blick auf seine Armbanduhr stellte er fest, dass man ja noch sechs Stunden Zeit habe. Wieder lächelte er Julia an und schlug vor, auf den Rummelplatz der nahegelegenen Nachbarstadt zu fahren.
Alle waren einverstanden und ein schöner Nachmittag begann. Eine rasante Autofahrt, flotte Musik der Rolling Stones im Autoradio und dann ein ausgedehnter Bummel über den Rummelplatz. Wie selbstverständlich nahm Marian Julias Hand und er ließ sie den ganzen Nachmittag nicht mehr los.
Irgendwann legte er den Arm um sie, küsste sie sanft auf die Wange und flüsterte ihr zärtlich ins Ohr: „Ich habe mich verliebt, kleines Mädchen.“
Ja, Julia war ein kleines Mädchen. Zwar maß sie 1,65 Meter, aber sie wirkte ausgesprochen zart. Sie hatte große blaue Augen, ein hübsch geschnittenes Gesicht mit zwei reizenden Grübchen in den Wangen und langes, goldblondes Haar, das ihr bis zu den Hüften reichte. Mit ihren siebzehn Jahren hatte sie noch nicht viel erlebt. Vor einem Jahr hatte sie ihren besten Freund Alexander verloren. Seit ihrer Kindheit waren sie zusammen und gerade als sie entdeckte, dass sie im Begriff war, sich in ihn zu verlieben, riss ihn ein schrecklicher Unfall aus ihrem Leben. Julia wollte damals mit ihm sterben und es dauerte einige Zeit bis sie begriff, dass das Leben auch ohne ihn weitergehen musste.
„Du gefällst mir“, sagte sie leise zu Marian und wunderte sich selbst über ihren Mut, so etwas zu sagen.
Beide wussten aber in diesem Augenblick, dass sie sich unsterblich ineinander verliebt hatten.
„Wir müssen langsam an den Nachhauseweg denken“, sagte sie, „lass uns zum Parkplatz gehen.“
Claudia und Daniel schlenderten langsam Arm in Arm und ohne Kommentar hinter den beiden her. Sie waren so mit sich selbst beschäftigt, dass ihnen wohl alles recht war.
Vor dem blauen Auto angekommen, packte Marian Julia plötzlich grob am Arm. Sie erschrak.
„Nichts wie weg hier“, rief er aufgeregt, „die Bullen kommen.“
Die Autotüren waren noch nicht zu, da startete er das Fahrzeug und fuhr wie ein geölter Blitz davon – hinter ihm der Polizeiwagen mit laufender Sirene.
„Was ist los?“, schrie Claudia, „was habt ihr?“
Julia konnte nichts sagen, sie war wie gelähmt. Ein ungutes Gefühl kam in ihr auf.
„Ich habe das Auto gestohlen, aber verdammt noch mal, sie kriegen uns nicht!“
Marian stieß diesen Satz mit einem leichten Grinsen um die Mundwinkel heraus. Julia blieb der Atem stehen. Ein dicker Kloß setzte sich in ihrer Kehle fest, Angst stieg in ihr auf.
Viel zu schnell fuhren sie kreuz und quer durch die Straßen, bis von dem Streifenwagen nichts mehr zu sehen war.
„Die haben wir abgehängt“, sagte Marian erleichtert. Er lachte und war sichtlich mit sich selbst zufrieden.
„Lass uns da oben in den Wald fahren“, raunte nun Daniel von hinten hervor, „wir müssen uns eine Weile verstecken.“
„Du weißt also, dass das Auto gestohlen ist?“ Julia richtete diese Frage an Daniel.
„Alle wissen es, außer dir“, sagte Claudia, bevor Daniel antworten konnte und zuckte beiläufig mit den Schultern.
Julia war erschüttert, sagte aber nichts mehr. Ein Blick auf Marian verriet ihr, dass dieser jetzt wohl doch ein schlechtes Gewissen hatte. Ob ihr gegenüber oder weil er das Fahrzeug gestohlen hatte, das konnte sie nicht erkennen. Er sah sie durchdringend an, sagte aber kein Wort.
Es fing an zu regnen und der Wagen drang immer tiefer in den Wald ein. Marian fuhr rücksichtslos über gesperrte Waldwege. Äste schrammten am Blech, der Regen wurde immer stärker und irgendwann ging es nicht mehr weiter. Die Reifen hatten sich festgefahren. Der aufgeweichte Boden nahm das Fahrzeug in sich auf, zog es tief hinunter und ließ es nicht mehr raus.
„Was nun?“, fragte Claudia.
Marian zuckte mit den Schultern und sah in Julias trauriges Gesicht.
„Verzeih mir bitte Kleines, es wird alles wieder gut, das verspreche ich dir.“
„Aber ich muss um Zehn zu Hause sein. Mein Vater ist sehr streng“, sagte sie leise, hatte aber keine Hoffnung, dass es klappen würde, denn es war bereits viertel vor.
Daniel sagte, dass es besser sei zu warten bis der Regen nachlasse. „Dann sehen wir weiter“, gab er noch bestimmend dazu.
Marian zog Julia zu sich hinüber, legte seinen Pullover um ihre Schultern und flüsterte zärtlich, während der Sender im Radio die Sommerhits des Jahres spielte:
„Lehne dich an mich und sei still, mir wird schon etwas einfallen.“
Es fiel ihm natürlich nichts ein und als es längst zehn Uhr vorbei war und der Regen noch immer wie verrückt auf das Autodach und die Scheiben prasselte, sagte niemand mehr etwas. Im Radio sang jetzt Elvis Presley und Julia lehnte an Marians Schulter, an der Schulter des Autodiebes, in den sie sich verliebt hatte. Sie fror in ihrem dünnen Sommerkleidchen aus leichter Baumwolle und es wurde immer kälter, obwohl es mitten im August war. Das Paar auf dem Rücksitz war dicht aneinander gekuschelt eingeschlafen. Daniels regelmäßige Atemzüge waren laut und tief zu hören.
Mit dem Morgengrauen hörte der Regen langsam auf. Claudia und Daniel schlummerten selig, immer noch eng aneinander gekuschelt und mit ihren Jacken bedeckt. Marian zog genüsslich an einer Zigarette, während Julia mit ihrem Kopf auf seinem Schoß lag. Ihre Knie hatte sie ganz hoch auf ihren Sitz gezogen. Ihre Hand lag unter ihrer Wange und sie starrte vor sich hin.
„Herr Ober, einen Kaffee bitte“, rief Daniel plötzlich. Er gähnte lange und streckte sich, so gut es eben ging, aus. Claudia und Marian lachten.
„Ich werde sehen, was sich da machen lässt“, sagte Daniel und stieg aus dem Wagen.
„Oh, scheiße“, rief er und sah an seinen Beinen hinunter. Seine Füße waren nicht mehr zu sehen, sie steckten bis zu den Knöcheln im Schlamm.
„Da kommen wir nie heraus, es sei denn, ich treibe einen Bauern auf, der uns mit dem Traktor herauszieht.“
„Das ist Unsinn, Daniel, er könnte zu viele Fragen stellen, sieh dich lieber hier einmal um“, murmelte Marian.
„Ich werde ein Stück gehen und nachsehen, wo wir hier sind“, meinte Daniel, „meine Füße sind eh schon nass.“
„Ich komme mit dir“, rief Claudia und war auch schon aus dem Wagen in den Matsch gesprungen.
Julia sah den beiden nach, bis sie hinter den dichter werdenden Bäumen verschwunden waren.
„Deine Eltern machen sich sicher Sorgen“, sagte Marian und hob mit dem Zeigefinger Julias Kinn sanft an. Ihr von Tränen gezeichnetes Gesicht blickte ihm entgegen. Er zog ein sauber zusammengelegtes, weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche, entfaltete es, kurbelte das Autofenster herunter, befeuchtete es mit den auf der Kühlerhaube angesammelten Regentropfen und wischte ihr damit das Gesicht ab.
Ein zaghaftes „danke“ und ein tiefer Seufzer waren ihre Antwort.
Während der nächsten Stunde erzählte Marian von sich und seinem, wie er sagte, krankhaftem Trieb, Autos zu stehlen.
Gelernt hatte der nun neunzehnjährige Automechaniker in der Werkstatt seines Vaters. Sein Beruf machte ihm sehr viel Freude, waren doch Motoren und Geschwindigkeit seine große Leidenschaft. Eigentlich wollte er Rennfahrer werden, meinte er, aber sein Vater war dagegen. Eines Tages brachte ein Kunde einen sehr schnellen, knallroten italienischen Sportwagen zur Reparatur. Marian konnte der Versuchung nicht widerstehen. Er setzte sich in das Auto um eine kleine Spritztour damit zu machen. Die Autobahnausfahrt nahm er dann viel zu schnell und fuhr das teure Kundenfahrzeug zu Schrott. Marian getraute sich danach nicht mehr nach Hause. Tagelang trieb er sich in der Gegend herum. Natürlich hatte man den demolierten Ferrari längst gefunden und der Besitzer des edlen Gefährtes ließ Marian mit der Polizei suchen. Sein Vater war so böse, dass er zunächst nicht bereit war, mit seinem Sohn zu sprechen. Der Kunde ließ sich nicht erweichen, verklagte Marian wegen Autodiebstahls und auch sein Vater konnte nichts dagegen unternehmen. Sechs Monate lang saß Marian dann in Jugendarrest und erst, als er seine Strafe verbüßt hatte, konnte er seine Ausbildung beenden. Sein Vater hatte ihm verziehen und schenkte ihm zum achtzehnten Geburtstag den Führerschein und nach bestandener Prüfung einen gebrauchten Golf mit fünfundsiebzig Pferdestärken. Dieser war dem Möchtegern-Rennfahrer jedoch zu langsam. Kurzerhand frisierte er den Wagen auf und baute damit zwei Wochen später einen Totalschaden. Aus Angst, seinen Vater wieder enttäuschen zu müssen, ließ er das Fahrzeug verschwinden, klaute einen gleichfarbigen Golf, schraubte seine Nummernschilder darauf und glaubte, dass das gut gehen würde.
Zwei Wochen später flog der Schwindel auf und Marian aus der Werkstatt. Sein Vater kannte diesmal keine Gnade und steckte ihn in das Sägewerk eines Freundes. Dort musste er den Schaden abarbeiten. Weil er zu der Zeit aber kein Geld zur Verfügung hatte und er seine Finger nicht von Autos lassen konnte, stahl er sich von Zeit zu Zeit ein Fahrzeug, fuhr ein bis zwei Stunden damit auf die Autobahn und stellte es dann wieder ab. Bisher sei er dabei niemals erwischt worden und nur heute habe er eine Ausnahme gemacht und das Auto länger als zwei Stunden behalten. Wenn er seine Schulden bei seinem Vater abbezahlt habe, dann wolle er sich wieder ein eigenes Auto kaufen.
Mit trauriger Stimme versicherte er Julia, dass er oft versucht habe, der Versuchung zu widerstehen, es gelinge ihm aber nicht. Es war wie eine Sucht.
„Wenn ich aus dem verdammten Wald heraus bin, dann wird sich alles ändern, glaube mir“, sagte er ruhig und Julia, die die ganze Zeit schweigend zugehört hatte, ohne ihn zu unterbrechen, wollte ihm so gerne glauben.
Die Situation aber, in der sich die beiden jungen und verliebten Menschen befanden, ließ es nicht zu, Marians Leben sofort zu ändern.
Vielleicht war Julia blind vor Liebe, denn sie sah nicht, dass sie sich spätestens jetzt von ihm hätte trennen müssen, um schleunigst den Nachhauseweg zu nehmen. Bis zur nächsten Straße war es sicher nicht weit und irgendjemand hätte sie sicher mitgenommen.
„Die beiden kommen nicht wieder», sagte er plötzlich, „es ist schon fast Mittag. Es ist wohl besser, wir machen uns auf den Weg.“
Sie ließen das gestohlene Fahrzeug im Schlamm stecken und kämpften sich Hand in Hand durch den morastigen Boden, genau in die Richtung, in die Claudia und Daniel verschwunden waren. Nach etwa zwanzig Minuten standen sie plötzlich auf einem Parkplatz, der zur Bundesstraße gehörte. Ohne zu überlegen und wie selbstverständlich probierte Marian verschiedene Autotüren, ob sie sich öffnen ließen. Julia sah ihm zu und erkannte nicht wirklich, was er da tat. Natürlich war ihr irgendwie bewusst, dass das Unrecht war, dass er nicht einfach fremde Autos stehlen konnte, aber sie war nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. Sie ließ ihn gewähren. Ihr war auch in diesem Moment nicht klar, dass sie sich selbst schuldig machte, dass sie zur Mithelferin eines schwerwiegenden Vergehens wurde.
Marian hatte Glück, die Türe eines grauen Opel ließ sich öffnen und nur zehn Sekunden später sprang das Fahrzeug an.
„Komm“, rief er Julia zu.
„Aber du hast doch versprochen, dass du kein Auto mehr stiehlst, vor einer halben Stunde hast du das versprochen.“
Das war Julias letzter Versuch, Marian davon abzubringen, etwas Unrechtes zu tun und obwohl sie genau wusste, dass es sinnlos war, konnte sie sich dennoch nicht dazu durchringen, ihn jetzt und auf der Stelle zu verlassen, denn das wäre genau das, was sie hätte tun müssen.
„Ja, ich weiß und glaube mir bitte, das ist das letzte Mal, wir müssen doch irgendwie hier weg kommen.“
„Wir könnten doch per Anhalter fahren.“
„Damit man uns mit dem Auto im Wald in Verbindung bringt, bist du verrückt? Das ist doch viel zu gefährlich. Willst du, dass die Polizei auf uns kommt, wenn sie nach dem Autodieb fahndet? Bitte komm jetzt, steig ein, ich fahre nicht ohne dich.“
„Wir könnten doch zu Fuß gehen.“
„Was glaubst du, wie viele Leute uns unterwegs sehen könnten? Wir kommen aus der Richtung, wo das gestohlene Auto steht. Bitte sei jetzt Vernünftig, ich weiß schon, was ich tue.“
Julia zögerte noch einen Augenblick, stieg dann aber aus irgendeinem Zwang heraus zu ihm in den Wagen. Mit quietschenden Reifen fuhr er vom Parkplatz. Julia hatte Angst nach Hause zu fahren, ihr Vater würde sie sicher schlagen und für mindestens eine Woche einsperren. Sie wusste nicht, was sie jetzt tun sollte und aus irgendeinem Grund, vielleicht weil es so einfach war, ergab sie sich Marian völlig. Sie sah zu, wie er alle zwei bis drei Stunden ein anderes Auto stahl und fuhr mit ihm durch halb Deutschland, von einer Stadt zur anderen. Marian kaufte eine Wolldecke und sie schliefen aneinander gekuschelt auf dem Rücksitz des jeweiligen Fahrzeuges, mit welchem sie sich die Nacht über im Wald versteckten. Das nötige Kleingeld besorgte Marian, indem er Zigarettenautomaten aufbrach und die Zigaretten in Tanzlokalen und irgendwelchen Kneipen zum halben Preis verkaufte. Julia sah zu. Sie hatte Angst vor der Polizei und vor ihren Eltern, die sie sicher längst suchen ließen. Marian hatte bei Daniel angerufen und erfahren, dass Claudia ihn überzeugt hatte, nach Hause zu gehen. Sie erzählte aber nicht, was aus Julia geworden war. Julias Eltern log sie vor, sie wüsste nichts, weil sie sich auf dem Rummelplatz aus den Augen verloren hatten.
Claudia hatte es also geschafft, nach Hause zu kommen. Julia dachte darüber nach, dass es die Freundin immer sehr viel leichter hatte als sie. Claudia wurde für solche Dinge nicht bestraft. Ihrer Mutter war es ziemlich gleichgültig, was sie tat. Immer wenn sie zusammen unterwegs waren und Julia darauf drängen musste, pünktlich zu Hause zu sein, lachte Claudia sie aus und nannte sie eine Memme. Irgendwie war Claudia auch ganz anders als sie. Viel selbstbewusster und auch überhaupt nicht ängstlich. Sie tat einfach was sie wollte und kam immer irgendwie damit durch. Das war schon in der Schule so. Sie wurde niemals für irgendetwas bestraft.
Julia wusste nun, dass ihre Eltern aus Sorge um sie die Polizei informiert hatten. Mehr als einmal kam ihr die Idee, ihre Mutter anzurufen. Alleine der Gedanke, dass man Marian dann einsperren würde und sie eine fürchterliche Strafe von ihrem Stiefvater zu erwarten hatte, hielte sie davon ab, das einzig wirklich Vernünftige zu tun.
Sie dachte auch daran, sich einfach in einen Zug zu setzen und heimzufahren, aber sie konnte sich nicht von Marian trennen. Der Gedanke daran versetzte sie in eine unerklärliche Panik und sie wusste plötzlich, dass ihr nichts auf der Welt so wichtig war, wie dieser Mann. Der erste, den sie liebte.
Und dass es Liebe war, glaubte sie daran zu erkennen, dass ihr der Gedanke, sich von ihm trennen zu müssen, unendlich weh tat. Der Gedanke, dass sie vielleicht plötzlich alleine war und ihn irgendwo einsam in einer Gefängniszelle wusste, löste Atemnot bei ihr aus. Schnell verwarf sie diese schrecklichen Gedanken und schmiegte sich in seine Arme.
Immer und immer wieder flüsterte er ihr unsagbar schöne Worte ins Ohr, küsste sanft ihre Augen und Lippen und bat sie, für immer bei ihm zu bleiben. Das Mädchen konnte nicht anders handeln, niemals hatte sie derartiges erlebt, niemals so schöne Worte gehört und niemand hatte sie jemals so zärtlich in die Arme genommen. Und immer und immer wieder sagte der schöne junge Mann, dass er sie brauche und nicht mehr ohne sie leben wollte.
Diese sonderbare Reise war, abgesehen von dem kriminellen Aspekt, dass die beiden Verliebten sich fremde Fahrzeuge aneigneten und stahlen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, irre romantisch. Die einsamen Nächte in den Wäldern, die gemeinsamen Abendmahlzeiten unter Bäumen, die sich jedes Mal wie ein romantisches Picknick gestalteten. Marian sorgte dafür, dass es ihnen an nichts fehlte. Er besorgte Kerzen, Wein und einen kleinen Kassettenrekorder. Kassetten mit leisen, sehr romantischen Instrumentalhits von Mantovani oder klassischen Klavierstücken, die ans Herz gingen. Eingekuschelt in ihre Wolldecke lagen sie unter freiem Himmel, den Blick in die Sterne gerichtet. In diesen Stunden sprachen sie kaum ein Wort. Sie lauschten der Musik und ergaben sich völlig ihren Träumen. Träume, die man nur als junger, unendlich verliebter Mensch haben kann.
Am siebten Tag ihrer aufregenden Reise in gestohlenen Fahrzeugen lagen sie an einem strahlend schönen Nachmittag Arm in Arm auf einer winzigen, von Blumen übersäten, kreisrunden Wiese auf einer kleinen Lichtung im Wald. Das Auto hatten sie am Waldrand stehen lassen. Die Sonne schickte hier und da ihre Strahlen durch das dichte Laub und wärmte das junge Glück. Hier war es auch, wo Julia zum ersten Mal die Liebe in ihrer Vollendung erlebte. Marian war zärtlich und sanft, umarmte sie viele Stunden und gab ihr das Gefühl, geborgen zu sein. Der Schmerz, den sie fühlte, als er sie zur Frau machte war unerheblich gegen den Schmerz, den sie empfand, als plötzlich zwei uniformierte Polizisten die Beiden dort fand. Dieser Schock bohrte sich tief in Julias Herz und sie empfand die Worte des Beamten „Was macht ihr beiden denn da?“ wie einen fürchterlichen Schlag ins Gesicht.
Voller Scham bedeckte sie hastig ihren nackten Körper mit ihrem längst schmutzig gewordenen Kleid und sah die Polizisten mit großen Augen an. Von Marian war nur ein leises „Scheiße“ zu hören. Er ergriff aber ihre Hand und drückte sie ganz fest. Als sie dann beide hinten im Streifenwagen saßen, nahm er sie zärtlich in die Arme und flüsterte ihr ins Ohr
„Wir gehören jetzt zusammen, für immer. Was auch geschieht, denke daran, dass ich dich liebe und immer für dich da sein werde.“
Die Besatzung des Streifenwagens hatte das gestohlene Fahrzeug am Waldrand entdeckt. Die Beamten brauchten nicht weit zu gehen, um das diebische Liebespaar zu stellen.
Wieder stand Julia auf und trommelte gegen die Zellentüre. Immer und immer wieder. Eine Frauenstimme rief, sie solle endlich still sein, denn andere wollten schließlich schlafen.
Schlafen – wenn sie das nur könnte. Sie wusste, gegenüber im Gebäude auf der anderen Seite des Hofes saß Marian in seiner Zelle. Sie stellte den einzigen Stuhl, der sich im Raum befand, unter das Fenster, stieg hinauf, öffnete den Metallriegel und hielt sich mit beiden Händen an den außen angebrachten Gitterstäben fest. So laut sie konnte rief sie seinen Namen: „Marian“ und noch einmal „Mariaaan.“
Es kam keine Antwort. Im Männergefängnis drüben blieb es so still, als stünde es leer. Kein Lichtschein war zu sehen. Ob er sie gehört hatte? Und wenn, warum antwortete er nicht? Langsam stieg sie wieder von dem Stuhl herunter, setzte sich auf das Bett, vergrub ihr Gesicht in beide Hände und dann endlich, endlich brach es aus ihr heraus. Ihr ganzer Schmerz, ihre Liebe, ihre Verzweiflung. Diesmal waren es keine lautlosen Tränen. Die hatte sie gestern Abend, als man sie von Marian trennte, vergossen. Die ganze Zeit über hatte Marian ihre Hand gehalten und die Polizisten verzweifelt angefleht, Julia gehen zu lassen. Er beteuerte immer wieder, sie hätte nichts mit den Autodiebstählen zu tun. Die Polizisten glaubten ihm nicht. Und sie glaubten auch Julia nicht. Zwei kräftige Beamte mussten Julia und Marian gewaltsam voneinander trennen. Bis zur letzten Sekunde hielt Marian sie ganz fest. Danach wurde sie in eine kleine Zelle im Keller der Polizeistation gesperrt, bis ein Jugendpfleger und eine Psychologin eintrafen. Doch Julia sagte zu beiden kein Wort, beantwortete keine Fragen, reagierte nicht auf Anschuldigungen. Sie war nicht in der Lage zu sprechen. Als die Sprache auf Marian kam, traten ihr die Tränen aus den Augen und kullerten ihr lautlos die Wangen hinunter. Ihren starren Blick hatte sie auf das kleine Fenster im Raum gerichtet.
Nun aber, hier in ihrer Gefängniszelle, weinte sie laut und bitterlich. Ein Stein hätte sich erweichen lassen, hätte er es gehört. Stunde um Stunde lag sie dann schluchzend auf ihrem Bett. Als der Morgen graute, waren alle Tränen versiegt. Von nun an wollte sie nicht mehr weinen.
Die Wochen zogen sich unendlich lange dahin. Julia hatte kaum mit jemanden Kontakt, lediglich der tägliche Hofgang ließ kleine Unterhaltungen mit anderen Mädchen zu.
Irgendwie waren diese Mädchen und jungen Frauen aber anders als Julia. Allein der in Julias Augen menschenverachtende Umgangston, den sie miteinander pflegten, die derbe Sprache und die groben körperlichen Übergriffe schreckten Julia dermaßen ab, dass sie es, obwohl sie sehr einsam war, vorzog, lieber keinen engeren Kontakt mit diesen Mädchen zu haben. Lediglich eine junge, vielleicht ebenfalls siebzehnjährige Türkin lächelte ihr freundlich zu, als sie zum ersten Mal auf den Hof kam. Ihr Name war Yasemin. Sie war sehr hübsch. Irgendwie das genaue Gegenstück zu Julia. Große dunkle Augen, lange Wimpern und langes, schwarzes Haar, das sie meist zu einem langen Zopf, der ihr den Rücken herunter hing, sorgfältig geflochten trug. Manchmal erzählte sie ein wenig von sich. Sie war mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, als sie noch klein war. Die strengen, traditionellen Sitten in ihrer Familie machten ihr es aber unmöglich, sich frei zu entfalten. Sie ging ins Gymnasium, wollte Abitur machen und studieren, später wollte sie vielleicht Lehrerin werden. Ihr Vater und ihre zwei älteren Brüder hatten allerdings andere Pläne mit ihr. Sie verheirateten sie, als sie gerade 16 Jahre alt wurde, gegen ihren Willen mit einem reichen türkischen Geschäftsmann, der fünfundzwanzig Jahre älter war als sie. Dieser Mann hatte Yasemin wie eine Sklavin behandelt, sie geschlagen und vergewaltigt. Bei ihrer Familie fand sie keine Hilfe, weil sie der Meinung waren, sie müsse ihrem Mann gehorchen. So kam es, dass Yasemin es eines Tages nicht mehr aushielt und ihrem Mann Rattengift ins Essen mischte. Der Mann überlebte, erlitt aber schwere Verletzungen an den inneren Organen. Yasemin saß nun wegen Mordversuch hinter Gittern in Untersuchungshaft. Ihr Prozess sollte nächsten Monat sein. Auch Yasemin hatte keinen Kontakt zu ihren Mitinsassinnen. Sie wurde von den anderen als „Ausländerschlampe“ bezeichnet und verspottet.
So kam es, dass die beiden Mädchen jeden Tag im Hof aufeinander warteten und miteinander sprachen, bis man sie wieder trennte. Eine vermutliche Autodiebin und eine eventuelle Mörderin. Beide Mädchen aber waren in ihren Herzen, nach ihrer eigenen Meinung und auch der ihres vom Staat gestellten Pflichtverteidigers, der sie besuchte, unschuldig.
Die Bitte der beiden Mädchen, eine Zelle teilen zu dürfen, lehnte man ab. Untersuchungsgefangene wurden hier in Einzelhaft gehalten, um ihnen bis zum Prozess keine Möglichkeit zu geben, Absprachen nach draußen zu treffen.
So erfuhr Julia dann auch nicht, was aus Yasemin wurde, als sie einen Monat später ihren Prozess hatte und danach in ein anderes Gefängnis überführt wurde.
Eine Vollzugsbeamtin, die Julia nach Yasemin fragte, sagte ihr nur, dass sie ihre gerechte Strafe erhalten habe.
Julia nahm sich vor, nach ihrer Entlassung nach ihr zu suchen. Aber sie fehlte ihr, denn jetzt wurde es sehr einsam um sie.
Vier Monate waren vergangen, bis Julia von ihrer Mutter begleitet, im Gerichtssaal vorgeführt wurde. Vier lange Monate voller Einsamkeit und den Liebesbriefen von Marian, die sie feinsäuberlich mit einem Band zusammenhielt. Vier lange Monate in dieser abscheulichen Gefängniszelle. Nur eine halbe Stunde pro Tag holte man sie in den Gefängnishof, um etwas frische Luft zu atmen. Vier lange Monate sprach Julia mit keinem Menschen, außer im ersten Monat mit Yasemin, dem netten Jugendpfleger, der sie von Zeit zu Zeit besuchte und dem sie alles erzählte und den zwei Männern von der Kriminalpolizei, die in den vier Monaten zweimal kamen, um sie zu vernehmen. Julia hatte dann auch alles gesagt, was sie wusste. Sie hatte nichts verheimlicht und nichts weggelassen, denn man hatte ihr gesagt, es würde ihr und Marian helfen, wenn sie die Wahrheit sagen würde.