Der Zukunft eine Zukunft geben

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Der Zukunft eine Zukunft geben
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Fabian Moos

Eine Spiritualität der sozialökologischen Umkehr

Ignatianische Impulse Herausgegeben von Stefan Kiechle SJ, Willi Lambert SJ und Stefan Hofmann SJ Band 91

Ignatianische Impulse gründen in der Spiritualität des Ignatius von Loyola. Diese wird heute von vielen Menschen neu entdeckt.

Ignatianische Impulse greifen aktuelle und existentielle Fragen wie auch umstrittene Themen auf. Weltoffen und konkret, lebensnah und nach vorne gerichtet, gut lesbar und persönlich anregend sprechen sie suchende Menschen an und helfen ihnen, das alltägliche Leben spirituell zu deuten und zu gestalten.

Ignatianische Impulse werden begleitet durch den Jesuitenorden, der von Ignatius gegründet wurde. Ihre Themen orientieren sich an dem, was Jesuiten heute als ihre Leitlinien gewählt haben: Christlicher Glaube – soziale Gerechtigkeit – interreligiöser Dialog – moderne Kultur.

Fabian Moos

Der Zukunft eine Zukunft geben

Eine Spiritualität der sozialökologischen Umkehr



Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei unseren Büchern auf Folienverpackung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

© 2021 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05650-6

978-3-429-05168-6 (PDF)

978-3-429-06537-9 (ePub)

Inhalt

Einleitung

Spiritualität der Schöpfung

Spiritualität der Umkehr

Spiritualität der Unterscheidung

Exkurs: Die Perspektive der Transformation

Spiritualität des Engagements

Spiritualität der Hingabe

Spiritualität der Hoffnung

Schluss

Zur weiteren Vertiefung

Einleitung

Klima-Fachleute sind sich einig: Die Menschheit steht an einem Scheideweg. Entweder es gelingt in den unmittelbar nächsten Jahren eine grundlegende Transformation unserer Art und Weise, den Planeten Erde zu bewohnen, oder wir steuern auf eine humanitäre und biologische Katastrophe globalen Ausmaßes zu. Dabei sind wir bereits in einer allgemeinen Krisensituation, die eine extreme soziale Ungleichheit und eine wachsende Gefährdung der Demokratie einschließt. Die Herausforderung, vor der wir stehen, könnte kaum größer sein.

Immer mehr Menschen stellen sich angesichts dieser Situation spirituelle Fragen: Wie kann ich mit der Schwere der Krise persönlich umgehen? Wie kann ich mein Leben tatsächlich und ausreichend radikal ändern? Wie mich mit einer guten Haltung und ohne dabei kaputtzugehen für einen positiven Wandel einbringen? Wie mit den Frustrationen, den unlösbaren Konflikten und der um sich greifenden Hoffnungslosigkeit umgehen? Wo ist Gott in dem Ganzen? Um diese spirituellen Fragen soll es in diesem Buch gehen. Ein wesentlicher Punkt scheint mir dabei die Fähigkeit zu sein, freudig und kreativ an einer lebbaren Zukunft mitzubauen. Vor uns liegt ein überaus spannendes Kapitel der Menschheitsgeschichte! Papst Franziskus spricht davon in seinem Buch Wage zu träumen! (2020), in dem er dazu einlädt, die Chance tiefgreifender Veränderungen nach der Corona-Krise kreativ zu nutzen. Es entspricht auch meiner Erfahrung mit den vielen v.a. jungen Menschen, denen ich in der alternativen Business-Hochschule Campus de la Transition in Forges südlich von Paris begegne. Dort werden seit 2018 Studierende verschiedener Hochschulen sowie Menschen, die sich beruflich umorientieren, für die sozialökologische Transformation der Gesellschaft ausgebildet. Christinnen und Atheisten, Handwerker und Doktorinnen, Ingenieurinnen und Literaturstudenten, Konservative, Liberale und Linke begegnen sich dort, leben eine Zeit lang bei uns mit und kommen – hoffentlich – etwas ins Träumen. Die Welt von morgen wird bereits heute von ihnen erfunden. Ihnen sowie den vielen anderen, denen ich in zahlreichen Workshops, Vorträgen und Austauschgruppen zu dem Thema begegnet bin oder die ich ein Stück ihres Weges begleiten durfte, verdanke ich enorm viel. Sie sind eine wesentliche Inspirationsquelle für dieses Buch.

Doch die wichtigste Inspiration sind für mich die sog. Exerzitien (EB = Exerzitienbuch) von Ignatius von Loyola sowie die Umwelt- und Sozialenzyklika Laudato Si’ (LS) von Papst Franziskus. Eine der prägendsten Erfahrungen meines Lebens war es, anhand der Exerzitien Jesus Christus, seinen Beziehungsstil und seine Botschaft ganz neu zu entdecken und so mein Leben mit Gott zu vertiefen. Man kann die Exerzitien (»geistliche Übungen«) als einen Umkehrprozess beschreiben, um sich von lebensschädlichen Haltungen zu lösen und sich neu auf den Gott des Lebens auszurichten. Laudato Si’ wiederum ist ein leidenschaftlicher Appell des Papstes, sich für die Erde, unser »gemeinsames Haus«, zu engagieren. Seit seinem Erscheinen 2015 begleitet mich dieser Text und ich entdecke immer wieder überraschende Seiten an ihm.

Im vorliegenden Buch nutze ich die Struktur der Exerzitien und kombiniere sie mit wichtigen Einsichten der Enzyklika und weiterer Texte des Papstes. Mein Grundgedanke ist, dass die verschiedenen »Phasen« des Exerzitienprozesses helfen können, wesentliche Aspekte einer »sozialökologischen Umkehr« zu verstehen, die den »Schrei der Erde« und den »Schrei der Armen« gleichermaßen hört und ernst nimmt. Ich richte mich primär an Leserinnen und Leser im deutschsprachigen Raum mit den bei uns spezifischen Bedingungen und Herausforderungen der Umkehr.

Nutzen Sie das Buch ganz so, wie es Ihnen hilfreich erscheint! Am Ende jedes Kapitels gibt es jeweils eine Reihe von Fragen und Übungen, die in die Tiefe führen wollen. Zögern Sie nicht, das Buch gemeinsam in einer Gruppe zu lesen und sich regelmäßig mit anderen über die Fragen und Übungen auszutauschen. Ein solcher Austausch wird meist als sehr hilfreich erlebt. Er ist auch bereits ein Teil der Antwort auf die gegenwärtige Krise, die uns herausfordert, »mit Netzen der Gemeinschaft« zu reagieren (LS 219). Sie finden außerdem verschiedene Literaturhinweise zur Vertiefung, v.a. aus Laudato Si’.

Ein Hinweis zur sprachlichen Form: Aus Gründen der Gendergerechtigkeit verwende ich hin und wieder eine feminine generische Form (»Expertinnen«), bei der alle Geschlechter mitgemeint sind.

Dieses Buch ist die Frucht eines vielfältigen Austausches mit anderen. Darum danke ich hier herzlich für die unschätzbar wertvollen Rückmeldungen auf mein Manuskript von Katharina, Jörg, Thomas, Moritz, Jonas, Arianna und Georg; danke auch an Sebastian, Claudia, Katharina, Garrett, Julien, Kathrin, Jacques und Gabriel für ihre Zeugnisse sowie an Willi und Stefan für die geduldige und fruchtbare redaktionelle Begleitung. Allen Aktivistinnen und Aktivisten, die mir Hoffnung und Lust machen, weiterzugehen: Vergelt’s Gott!

So bleibt mir nur noch, Ihnen ein offenes und großzügiges Herz und eine anregende Lektüre zu wünschen!

Spiritualität der Schöpfung

Das Leben ist ein Geschenk! In jedem Augenblick, bei jedem Atemzug empfangen wir uns neu. Die Hände, mit denen Sie gerade dieses Buch halten. Die Augen, mit denen Sie den Text lesen. Die Beine und die Sitzfläche. Den Atem, wie er kommt und geht.

Wir empfangen aber noch mehr: das Licht, das Ihnen das Lesen ermöglicht. Die Sitzgelegenheit, auf der Sie es sich bequem gemacht haben. Die Stille um Sie herum, aber auch die Nebengeräusche, die Ihnen zeigen, dass Sie nicht allein sind auf der Welt. Und schließlich das Buch selbst, das zu schreiben ich eine Weile gebraucht habe, an dem der Verlag weitergearbeitet hat, für das einige Bäume ihr Leben lassen mussten, das gedruckt, ausgeliefert und nun von Ihnen geöffnet wurde. Die kleinsten Bestandteile der Moleküle, aus denen dieses Buch besteht, waren schon kurz nach dem Urknall vorhanden. Sie liegen jetzt nur in einer anderen Zusammensetzung vor Ihnen. Der unglaublich riesige Rest der Materie ist irgendwo anders im gewaltigen Universum verstreut – oder in den Zellen, die Ihren eigenen Körper bilden. All dies – unser Leib, unsere menschlichen und nichtmenschlichen Beziehungen, die Erde, aus der wir gemacht sind, auf der wir uns tagaus, tagein bewegen und zu der wir eines Tages zurückkehren – und noch viel mehr ist uns geschenkt. Moment für Moment. Keiner von uns hat es »verdient«, es ist einfach da. Es geschieht als unaufhörlicher, komplexer Prozess, dessen Teil wir sind.

 

Der buddhistische Mönch und Schriftsteller Thich Nhat Hanh wiederholt oft die Aussage: »Das eigentliche Wunder ist, dass wir leben!« Er meint damit, dass wir die Wunder nicht in außergewöhnlichen Ereignissen suchen sollten, sondern im Bewusstsein, was uns hier und jetzt geschenkt ist. Das gilt auch für uns Christinnen und Christen. Wir glauben, dass dieses Geschenk des Lebens einen Geber, einen Ursprung hat: Gott. Er ist für uns mehr als ein »erster Beweger«, der das Universum ins Rollen gebracht und sich dann zurückgezogen hat – er schafft weiter, unaufhörlich, Augenblick um Augenblick. Er trägt die Welt durch seine liebende Gegenwart. Sofern ich das glaube – glaube ich es nur »mit dem Kopf« oder auch »mit dem Herzen« und »mit dem Leib«, d.h., sehe ich etwas davon in meinem eigenen Erleben der Schöpfung? In meinen Sinneswahrnehmungen und meinen inneren Reaktionen darauf, im Hören auf die Stimme der anderen Geschöpfe? Papst Franziskus schreibt: »Das Universum entfaltet sich in Gott, der es ganz und gar erfüllt. So liegt also Mystik in einem Blütenblatt, in einem Weg, im morgendlichen Tau, im Gesicht des Armen« (LS 223).

Am Beginn des Exerzitienprozesses legt Ignatius dar, dass der Sinn des menschlichen Lebens im Loben, Staunen (»Verehren«) und liebevollen Dienen liegt (vgl. EB 23). Das bezieht sich zunächst auf Gott. Doch wir wissen, dass die Gebote der Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe innig miteinander verbunden sind (vgl. Mk 12,29–31). Man kann noch weiter gehen und sagen: Es sind drei Dimensionen, die stets gemeinsam wachsen. Papst Franziskus nimmt als vierte Dimension auch die Schöpfungsliebe hinzu:

»Wenn … das Herz wirklich offen ist für eine universale Gemeinschaft, dann ist nichts und niemand aus dieser Geschwisterlichkeit ausgeschlossen … Das Herz ist nur eines… Alles ist aufeinander bezogen, und alle Menschen sind als Brüder und Schwestern gemeinsam auf einer wunderbaren Pilgerschaft, miteinander verflochten durch die Liebe, die Gott für jedes seiner Geschöpfe hegt und die uns auch in zärtlicher Liebe mit ›Bruder Sonne‹, ›Schwester Mond‹, ›Bruder Fluss‹ und ›Mutter Erde‹ vereint« (LS 92).

Was kann uns helfen, diese wesentliche Erfüllung des Menschseins – Staunen, Loben, Dienen – in unserem Alltag zu entdecken und immer mehr »Fleisch werden« zu lassen? Ich meine, dass das ein zentraler Punkt ist. Man kann nur in dem Maße einen guten Umkehrprozess vollziehen, wie man »gut verwurzelt« ist, wie ein Baum, der einen festen Stand hat und dann getrost den Herausforderungen von Wind und Wetter trotzen kann.

Staunen: die Welt zu uns sprechen lassen

Um zu staunen, eine ehrfürchtige Haltung gegenüber etwas in der Wirklichkeit zu entwickeln, muss man zunächst da sein, im Hier und Jetzt. Franziskus schreibt:

»Wir sprechen von einer Haltung des Herzens, das alles mit gelassener Aufmerksamkeit erlebt; das versteht, jemandem gegenüber ganz da zu sein, ohne schon an das zu denken, was danach kommt; das sich jedem Moment widmet wie einem göttlichen Geschenk, das voll und ganz erlebt werden muss. Jesus lehrte uns diese Haltung, als er uns einlud, die Lilien des Feldes und die Vögel des Himmels zu betrachten, oder als er in der Gegenwart eines unruhigen Mannes diesen ansah und ihn liebte (vgl. Mk 10,21). Ja, er war jedem Menschen und jedem Geschöpf gegenüber ganz da, und so zeigte er uns einen Weg, die krankhafte Ängstlichkeit zu überwinden, die uns oberflächlich, aggressiv und zu hemmungslosen Konsumenten werden lässt« (LS 226).

Ich erinnere mich an eine Situation in meiner Studienzeit in Erlangen: In meinem letzten Studienjahr verbrachte ich viele Tage in der Bibliothek und lernte für die Abschlussprüfungen. Doch mit der Zeit wuchs ein Gefühl von Panik, weil mir bewusst wurde, dass ich niemals alles lesen und behalten konnte, was zu lernen war. Je länger die Lernzeiten pro Tag wurden, desto verspannter wurde ich und desto größer wurde die Panik. Was mir sehr geholfen hat, war, jeden Tag kurze Spaziergänge durch den Botanischen Garten zu machen und einfach zu schauen und wahrzunehmen. Wie viel gibt es in einem Garten im Frühling zu bestaunen! Ich konnte spüren, wie sich dabei die Verspannungen lösten. Die Angst war dadurch nicht weg, aber entmachtet, und ich konnte danach wieder klarer sehen, was wesentlich war.

Ganz in der Gegenwart zu sein ist sehr einfach, aber nicht unbedingt leicht. Es beginnt damit, die Aufmerksamkeit für eine gewisse Zeit bewusst auf die eigenen Körperempfindungen und Wahrnehmungen zu richten – ohne gleich darüber nachzudenken oder etwas zu bewerten. Gefühle und Gedanken dürfen sein, man kann sie freundlich annehmen und wieder ins Wahrnehmen zurückkehren. Später ist wieder Zeit zum Nachdenken über die Probleme in unserem Leben und in der Welt.

Obwohl wir leibliche Wesen sind, werden wir in unserer Kultur häufig nicht ermutigt, ganz in der Gegenwart zu sein. Zum einen sollen wir uns dem Multitasking widmen und so unsere Aufmerksamkeit auf viele Dinge auf einmal verteilen. Eine gelassene Aufmerksamkeit auf eine einzelne Sache, eine einzelne Person, die uns jetzt gegenübersteht, ist selten der Fall, wir sind es schlicht nicht gewohnt. Zum anderen wissen wir, wenn wir einmal im Hier und Jetzt angekommen sind, häufig nicht, wie wir mit der Gedankenflut aus dem Gestern und dem Morgen umgehen können. Aus der Vergangenheit kommt oft ein Gefühl von Ärger (über andere, über uns selbst, über die Welt) oder ein Schwelgen in schönen Erinnerungen. Die Zukunft drängt mit Angstgefühlen oder mit Tagträumen in unser Bewusstsein.

Im Jetzt aber ist Fülle. Angst, Ärger, Erinnerungen und Träume treten in den Hintergrund. Im Hier und Jetzt habe ich Zugang zu Gott, und zwar über meinen Leib, der »Tempel des Heiligen Geistes« ist (1 Kor 6,19). Gott ist dann kein Resultat meines Nachdenkens, sondern er zeigt sich. So wie sich mir die Wirklichkeit öffnet, wenn ich wahrnehmend dabei verweile.

Vielen hilft es, regelmäßig Sport, Achtsamkeitsübungen, Yoga oder Qi Gong zu machen, zu tanzen, zu wandern, zu singen – oder irgendeine andere Form von körperlicher oder handwerklicher Übung zu pflegen, die ins Hier und Jetzt holt. Menschliche Beziehungen, zweckfreie gemeinsam verbrachte Zeit und tiefe Begegnung, in denen man das miteinander teilt, was einen bewegt, sind ein weiterer Zugang in die Gegenwart Gottes. Wenn ich solchen Dingen Raum gebe, merke ich, wie die Welt mehr und mehr zu sprechen beginnt, wie ihr Zauber erwacht. Die Haltung der Ehrfurcht bei Ignatius, das Staunen, ist die Fähigkeit, bei diesem Zauber zu verweilen. Wage ich es, in meinem Alltag Zeiten für ein solches Verweilen freizuhalten, für ein »qualifiziertes Nichtstun« (Simon Peng-Keller) jenseits der Alternative von zielgerichteter Aktivität oder Schlaf?