Loe raamatut: «Gehen und staunen»

Font:

Ferdinand Karer

Gehen
und staunen

Mein Pilgerweg nach Rom


Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

© 2019 Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung und Layout: Tyrolia-Verlag, Innsbruck

Lithografie: Artilitho, Trento (I)

Druck und Bindung: Gorenjski-Tisk, Slowenien

ISBN 978-3-7022-3750-9 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3762-2 (E-Book)

E-Mail: buchverlag@tyrolia.at

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Teil

Ich gehe ein Stück mit dir

Dachsberg – Innsbruck

2. Teil

Du gehörst dazu

Innsbruck – Padua

3. Teil

Ich höre dir zu

Padua – La Verna

4. Teil

Ich bete für dich

La Verna – Montelibretti

5. Teil

Ich besuche dich

Ankommen in Rom

6. Teil

Ich rede gut über dich

Begegnung mit Papst Franziskus

7. Teil

Ich teile mit dir

Daheim

„Das Staunen ist der Anfang des Denkens.“

Aristoteles

Meinem Novizenmeister

P. Alois Bachinger

und meinem ersten Provinzial

P. Isidor Fecher

Vorwort

Pilgern und schreiben: ein Reflektieren – ein Zurückgehen – ein tägliches Einüben – und so gar keine Pflicht, lediglich ein Probieren, ein Versuch, vom äußeren Gehen zur inneren Pilgerschaft zu gelangen. Pilgern hat mit Suchen zu tun. Suchen ist uns Menschen ureigen. Es gehört vom Wesen her zu unserem Menschsein. Suchen heißt Einlassen, heißt auch Probieren, sich zu verwandeln, zu verändern, zu bewegen, einmal einen anderen Gedanken zuzulassen, einmal zu hören, zu verstehen oder auch überhaupt nichts zu verstehen, Suchen heißt auch, neugierig zu bleiben.

Tagebuch schreiben ist sehr intim für mich: Es noch einmal anders mit meinem Gott und den Menschen probieren, in Versuchung geraten, mich neu in Gott zu verlieben oder diesen Gott aus meinem Leben streichen. Aber vielleicht ist dieser Gedanke gar nicht mehr zulässig in einer Zeit, die Gott kaum noch kennt, auch nicht mehr vorgestellt bekommt und eigentlich nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Sich mit Gott abzugeben ist äußerst unbequem, weil es einem zunächst eine vermeintliche Sicherheit nimmt. Gott ist zum Wagnis geworden. Gott zulassen nimmt Halt – aber macht frei, führt weg vom Ich, hin zum Außergewöhnlichen.

Es liegt einige Jahre zurück, da sprach Roland Adrowitzer, langjähriger ORF-Korrespondent, in einer Diskussionsrunde nach den Terrorakten in Brüssel mit Tränen in den Augen und einer fast gebrochenen Stimme von seinem Sohn, der damals in Brüssel ein Praktikum machte. Auf die Frage seines Vaters, ob er denn nicht nach Hause kommen wolle, habe sein Sohn Aristoteles zitiert: „Wer die Sicherheit der Freiheit vorzieht, ist zu Recht Sklave.“

Ich bin überzeugt: Jeder Mensch will in Freiheit leben. Wir Menschen sind zur Freiheit geboren und machen uns oft freiwillig zu Sklaven des immer funktionieren müssenden Alltags. Je mehr Big Data unser Leben bestimmt, desto mehr gehen wir in die freiwillige Abhängigkeit, sind Teil eines Systems von Algorithmen, die unser Denkvermögen längst überstiegen haben.

Das macht unfrei – macht vielleicht so manches Bankkonto fetter, das Sich-leisten-Können des überflüssigen Unnützen einfacher, aber das Leben sehr mager. Das Bewusstsein geht verloren. Glück ist nicht kaufbar. Das Funktionieren raubt mir meine Freiheit.

Ich durfte bereits einmal einen weiteren Weg gehen. Im Herbst 2011 pilgerte ich von Le Puy nach Santiago, gut 1600 Kilometer. Gedanken aus beiden Wegen fließen in meinem Reisebericht zusammen. Über Wochen hin gehen zu dürfen, ist wahrer Luxus. Ich weiß, viele haben das auch schon vorgehabt, aber es war nicht möglich. Mir ist es möglich gemacht worden, wofür ich mehr als dankbar bin. Und ich habe erfahren, dass das Gehen eine ganz große Erfahrung von Freiheit ist.

Tagsüber bin ich gegangen und abends habe ich geschrieben. Und immer wieder haben mich am Abend die Gedanken fast überrannt. Beim Gehen sind die Gedanken frei, man kann frei entscheiden, was man denkt, und ist nicht mehr getrieben, das zu denken, was die Alltagsherausforderungen verlangen. Das ist groß.

Ich lade Sie ein, liebe Leserin, lieber Leser, meinen Weg nach Rom mitzugehen. Es ist eine innere Pilgerschaft, eigentlich ist es ein Weg in mein Inneres, ein Weg zurück in meine Kindheit, vielleicht ein Weg zu Gott – ich ringe mit diesem Begriff. Oder öffnet das Pilgern die Seele, so dass Gott zu mir gehen kann? Pilgern hat auf alle Fälle mit Offenheit zu tun, einer Offenheit einem größeren Du und etwas ganz anderem gegenüber.

1. Teil

Mein Rucksack und ich – hoffentlich vertragen wir uns

Das ist mein Rucksack, geliehen von Michael, einem Kollegen und Freund. Darin mein Hab und Gut für die nächsten zwei Monate. Ich geize, schließlich muss ich ja alles tragen: ein Paar Turnschuhe, Flip-Flops, zwei Paar Socken, zwei Unterhosen, zwei Wanderhosen, zwei T-Shirts fürs Gehen, ein Shirt für die Nacht und ein Langarmleiberl aus Merinowolle für die kälteren Tage. Trekkingschuhe. Da die Fleecejacke, eine leichte Windjacke und ein Regenponcho, ein Hüttenschlafsack – auch er ist geliehen – und ein Funktionshandtuch, Zahnpaste und Zahnbürste, eine Kernseife, eine Tube Hirschtalg für die Füße. Das ist mein Rucksack, mein Begleiter, ja, dann ein E-Book: Ich habe den Wanderführer eingescannt, um Gewicht zu sparen. Dann ein Handy mit einer Wander-App, der Fotoapparat und, ganz wichtig, mein unbeschriebenes Moleskine-Buch mit vielen Seiten. Eigentlich gar nicht so bescheiden, wie anfangs gedacht. Natürlich gibt es dann noch die Bankomatkarte und auch die E-Card der Krankenversicherung fehlt nicht. Eigentlich bin ich gut abgesichert. Knapp acht Kilogramm wiegt mein Rucksack.

Es gibt ein Gedicht von Günter Eich, ein Gedicht am Ende des Krieges, 1945, es heißt Inventur. Da schreibt er, was er noch hat:

Dies ist meine Mütze,

dies ist mein Mantel,

hier mein Rasierzeug

im Beutel aus Leinen.

Er hat nicht viel, ihm ist nicht mehr geblieben. Der Krieg hat alles genommen. Was geblieben ist, waren Trümmer. Ja, und die Liebe zum Schreiben:

Die Bleistiftmine

lieb ich am meisten:

Tags schreibt sie mir Verse,

die nachts ich erdacht.

Vollkommen konträr zu damals, natürlich nicht vergleichbar. Damals nahm der Krieg, heute versucht man freiwillig, sich von vielem zu trennen, damit man wieder mehr hat – denkt man. Hoffentlich auch richtig gedacht. Es ist nicht viel, was ich mitnehme. Ich schultere meinen Rucksack, geh im Gang unseres Ordenshauses einmal auf und ab. Ein komisches Gefühl. Irgendwie noch fremd auf meinem Rücken. Aber er wiegt nicht schwer. Die Schuhe scheinen zu passen. Sind neu und eigentlich nicht erprobt.

Frankenburg, 21. August

Bin gestern weggegangen. Papst Franziskus hat ein „Heiliges Jahr der Barmherzigkeit“ ausgerufen und in diesem Jahr möchte ich von Dachsberg in Oberösterreich nach Rom gehen. Gute tausendfünfhundert Kilometer. Ich lass eine Baustelle an unserer Schule zurück. Hoffentlich geht sich das bis Schulbeginn aus. Irgendwie plagt mich ein schlechtes Gewissen, eigentlich möchte ich noch bleiben, bis das Ende der Um- und Neubauarbeiten in Sichtweite ist.

Vor mir liegen unendlich viele Schritte der Unabhängigkeit, Schritte des freien Willens und hinter mir doch noch ziemlich viel Staub, Unfertiges. Hier neue Räume in unserer Schule in Dachsberg und dort ein unendlich weiter Raum, in dem ich mich zu Fuß bewege. So viele Wege, Kilometer, Berge, Ebenen und ein Körper, der schon einmal deutlich trainierter war. Ich gehe, Schritt für Schritt, denke viel, noch ist es ein Wirrwarr.

Die Baustelle hätte ich irgendwie noch gern zu Ende gebracht, aber von Ferdinand Treml, dem Autor von Der Pilgerweg nach Rom, an dessen Route ich mich ab Innsbruck halten will, kam der Rat, Mitte August aufzubrechen, damit es vor Rom nicht zu kalt und zu nass wird.

Bevor ich weggehe, treffen wir uns um acht Uhr in der Kapelle, meine Mitbrüder und unsere Köchin Renate mit ihrem Mann und unserem Schulwart Bruno. Aufmunternde Worte gibt mir unser Rektor P. Hans Schurm mit: „Pilgern meint, Gott entgegengehen. Und: Gott ist der eigentliche Pilger, er möchte in die Herzen der Menschen.“ Das kann ein langer und mühsamer Weg sein. Ich bekomme den Reisesegen. Renate sagt mir noch: „Bitte, denk an uns!“

So machen wir uns auf den Weg, mein Rucksack und ich, vorbei am Friedensmahnmal unserer Schule, auf die Baustelle schaue ich nicht mehr. Eine Erinnerung an voriges Jahr kommt mir in den Sinn: Am 8. Mai hatte unsere gesamte Schulgemeinschaft im Gedenken an siebzig Jahre Frieden bemalte Steine beim Mahnmal abgelegt. Auf dem stählernen Mahnmal saßen vier Schüler: Xaver, Paul, Martin und Maxi. Sie trommelten gute fünf Meter über der Erde mit Hämmern einen Rhythmus, der bewegte. Im Echo klang es wie in Stahlgewittern. Ein symbolischer Akt mit achthundert jungen Menschen, der unter die Haut ging. Eine große Sehnsucht nach Frieden und Freiheit. Und irgendwie – beim Vorbeigehen – möchte ich alle achthundert und dazu unsere gut achtzig Lehrerinnen und Lehrer und unsere Angestellten, die gesamte Schule auf meinem Weg mitnehmen. In Gedanken sind sie mit dabei. Ich möchte auch für sie gehen, ich mag unsere Schule und all die Menschen, die hier aus- und eingehen, wir haben ein tolle Mannschaft.

Schnell gehe ich weiter.


8. Mai 2015 – „70 Jahre Frieden“ Gedenkfeier beim Friedensmahnmal unserer Schule

Ich beginne meinen Weg mit Dankbarkeit, dass mein Orden mir diese Auszeit ermöglicht und dass unser Administrator Hans Angleitner seinen Pensionsantritt aufschiebt und mich als Direktor vertritt. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Es ist schon ein großes Privileg, so viel Zeit zu bekommen. Zwei Monate liegen vor mir und ein Weg in die Ewige Stadt.

Nach zehn Kilometern frühstücke ich bei guten Freunden in Pollham. Maria, meine Hausärztin, feiert heute Geburtstag, Wolfgang, ihr Mann, unterrichtet bei uns und ist Diakon. Zusammen mit ihrem ältesten Sohn Lukas begleiten sie mich ein Stück des Weges. Wir gehen gemeinsam bis Grieskirchen und dann noch einen Teil der St. Georgener Allee, bis sie kehrtmachen. Eine herzliche Umarmung, Menschen, die mir nahe sind!

Ich geh allein weiter. Nach ein paar Schritten bekomme ich nasse Augen. Was ist in mich gefahren? Allein nach Rom? Irgendwie schmerzt jetzt schon mein Körper. Hab ich den Mund zu voll genommen? Ich weiß nicht, ob ich mein Vorhaben umsetzen kann. Es wird sehr schnell verdammt einsam. Aber die Einsamkeit suche ich halt auch. Immer wieder. Und doch ist in meinem Herzen eine Ursehnsucht, eine ganz große Bitte, dass niemand an Einsamkeit zu Grunde gehen muss. Einsamkeit – wenn dich niemand mehr braucht, sieht, anerkennt, wenn du das Gefühl hast, im Leben nicht mehr vorzukommen. Und wenn niemand dir gegenüber barmherzig ist.


Zwei ziemlich gute Freunde. Maria und Wolfgang begleiten mich auf meiner ersten Etappe.

Ich gehe im Jahr der Barmherzigkeit nach Rom, im Willen, auch darauf aufmerksam zu machen, es zu sagen, davon zu schreiben. Meine zwei T-Shirts habe ich beflockt mit dem Schriftzug Jahr der Barmherzigkeit und Anno della Misericordia. Ich möchte darauf hinweisen, dass ich für mehr Barmherzigkeit auf dieser Welt gehen möchte.

An einer kleinen Kapelle bleibe ich stehen. Eltern von Zwillingen haben sie gebaut, nachdem sie ihre jugendlichen Kinder in einer Silvesternacht verloren haben. Sie sind bei der Explosion eines selbstgebastelten Böllers ums Leben gekommen. Schon wird die Barmherzigkeit auf die Probe gestellt. Großartig die Eltern, dass sie die Kraft hatten, an diesem Ort des Sterbens eine Kapelle zu bauen, dass sie offensichtlich die Kraft hatten, das Schlimmste, das man sich vorstellen kann, in die Hände Gottes zu legen.

Ein paar Schritte weiter kommt mir Alois entgegen, ein Lehrerkollege und guter Freund. Er wird mich bis Weibern begleiten. Ich merke schon meine knapp zwanzig Kilometer in den Beinen. Er ist noch fit. Ich versuche, sein Tempo zu halten. Mir nur nichts anmerken zu lassen. Eigentlich ziemlich kindisch. Wir gehen noch gut fünfzehn Kilometer. Und weit und breit nichts zu trinken. Äußerst müde kommen wir in Weibern an. Ich gehe früh schlafen und im Bett liegend denke ich mir: „Wie kann ich ohne größeren Gesichtsverlust aus dem Unterfangen wieder aussteigen?“ Vollkommen erledigt und mit Schmerzen liege ich im Bett, schlafe aber bald ein, freilich mit der Ungewissheit, wie das Unternehmen weitergehen soll.

Ich hab erstaunlich gut geschlafen, bin aber skeptisch aufgewacht. Silke, die Frau von Alois, hat meine Wäsche gewaschen und nach einem mehr als reichhaltigen Frühstück breche ich auf.

Es hat die Nacht über kräftig geregnet, jetzt fallen nur noch wenige Tropfen, die nicht stören. Bis Geboltskirchen gehe ich auf Asphalt, ehe es in den Kobernaußerwald geht. Mehr oder weniger zwei Tage geh ich im Wald, eigentlich bis Schneegattern. Der Wald macht das Gehen angenehm. Vom Regen kommen nur wenige Tropfen durch die fast dichten Baumkronen. Mein rechter Schuh drückt beim Knöchel. Ich müsste mit der Ferse ein bisschen höher stehen und lege ein Taschentuch unter die Einlage meines Schuhs. Das hilft. Ich gehe bis Frankenburg und spüre, dass ich mich gestern, an meinem ersten Tag, überanstrengt habe.


Mit dem Eintauchen in den Kobernaußerwald kommt etwas Ruhe in mein Gehen.

Peter, ein alter Schulkollege, ruft mich an. Er wird mich am Abend in Frankenburg abholen, ich kann bei ihnen zuhause übernachten. In Frankenburg kehr ich beim Dorfwirt ein, bestell mir eine Leberknödelsuppe und schlafe umgehend am Gastzimmertisch sitzend ein. Der Wirt weckt mich freundlich, als er mit der Suppe kommt. Wie soll ich je in Rom ankommen? Peter holt mich. Redend kämpfe ich mit dem Schlaf. Jeder Gedanke fällt schwer. Eigentlich bin ich vollkommen kaputt. Ich schlafe tief, aber werde hin und wieder stark schwitzend wach. Nach einem guten Frühstück brechen wir auf. Peter wird ein paar Tage mitgehen. Seine Frau bringt uns zum Ausgangspunkt, zum Dorfwirt. Noch bin ich irgendwie nicht pilgernd unterwegs.

Pfongau, 22. August

Auch die dritte Nacht verbringe ich bei Bekannten, diesmal in Pfongau. Ein lustiger Abend mit Sandi, einer Lehrerin von uns, und ihrem Freund Maxi. Seine Eltern geben uns Quartier. War es bisher eher ein körperlicher Kampf, wird es jetzt besser.

Beeindruckend, welche Wege wir gehen. Nie hätte ich geglaubt, am Weg nach Salzburg so viele wunderschöne Wanderwege durch Wälder zu finden. Peter und ich reden am Weg nicht viel, vereinbaren auch, dass jeder in seinem Tempo geht, zum Reden gibt es abends genug Zeit. Der nächste Tag soll uns schon nach Salzburg bringen. Der Flachgau besticht durch seine Wiesen, die Bauern sind mit dem Heuen beschäftigt. Man sieht keinen einzigen Acker – nur Milchwirtschaft. Der Geruch des schön langsam zu Heu trocknenden Grases steigt in die Nase. Jeder Schritt eine Wonne. Sonnige Tage. Und plötzlich geht es sich leicht, ganz leicht.

Ein Kind fährt mit einem alten Steyr-Traktor, so wie ich sie aus meiner eigenen Kindheit kenne. Ein Schwader hängt an seinem Traktor, und der Junge, vielleicht zehn oder elf, arbeitet äußerst konzentriert. Er will nicht von der Fahrtrichtung abkommen, sondern alles Gras auch wirklich erwischen, damit es, vom Heuwender durch die Luft gewirbelt, schneller trocknet und zu Heu werden kann. Da darf nichts übersehen werden. In den Augen des Jungen merke ich, dass er ganz bei der Arbeit ist, da gibt es keinen Blick seitwärts auf irgendwelche Wanderer. Er steht fast auf dem Traktor, zum gemütlichen Sitzen keine Zeit. Am Ende der Mahd hebt er mit der Hydraulik den Schwader, kehrt um und lässt das Gerät wieder sanft auf der Wiese aufsitzen. Er scheint zufrieden mit seiner Arbeit, und es ist die Konzentration, die fasziniert. Eigentlich tolle Ferien, die er da erlebt. Keine Ablenkung. Kein Kopfhörer mit Musik, ein Ganz-bei-sich-Sein im Tun, kein Handy, das Stress erzeugt, auf irgendwelche nichtssagenden Postings antworten zu müssen. Er fährt mit seinem uralten Traktor und wendet das Gras. Das hat schon was.

Salzburg, 23. August

Wir wandern auf Salzburg zu, ich komme das erste Mal in meinem Leben nach Maria Plain, dem berühmten Salzburger Wallfahrtsort. Wir gehen dort durch die heilige Pforte, und dann ist in Salzburg der erste Weg zum Dom. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, verbotenerweise auf die Jedermann-Bühne zu steigen, einmal dort zu stehen, wo das Spiel vom Leben und Tod, von Macht und Gier und letztlich von Barmherzigkeit Jahr für Jahr den Mittelpunkt der Salzburger Festspiele bildet. Ich gehe in den Dom, setze mich ziemlich erschöpft in eine Bank. Hier sitze ich gut. Vier Tage sind es, seit ich weggegangen bin. Mit jedem Tag ist es besser geworden.

Festspielzeit ist eine teure Zeit in Salzburg. Hab kein Verlangen, länger zu bleiben. Schlängle mich durch die vor der Felsenreitschule ankommenden Gäste. Die Oper Faust wird gegeben. Irgendwie bin ich nicht passend gekleidet.

Am nächsten Tag gehen wir um sechs Uhr dreißig zur Frühmesse in den Dom, und sehr schnell liegt Salzburg hinter uns. In einer wunderbaren Landschaft überqueren wir bei Marzoll fast ungeahnt die Grenze, ein kurzes Verweilen in der Kirche und wir gehen auf schönen Wegen durch das kleine deutsche Eck.


Ein Traum wird wahr: einmal in Salzburg auf der Jedermann-Bühne stehen (freilich ohne Publikum)

Eine Etappe entlang der Saalach. Das Rauschen und Tosen des Wassers zeugen von der im Moment ruhenden Macht. Man sieht und hört, wozu Wasser fähig sein kann.

Ich finde eine Bank. Peter geht weiter.

Es ist ein Geschenk, hier zu sitzen, ein noch größeres Geschenk, von alldem, was einen durch den Alltag treibt, ablassen zu dürfen, vergessen zu dürfen. Einfach frei gehen. Mit jedem Schritt wird die Seele leichter, der Rucksack vielleicht schwerer und die Füße müder, aber es ist eine zufriedene Müdigkeit.

„Die Freiheit ist der kostbarste Teil des Menschen“, sagt unser Ordensstifter, der heilige Franz von Sales. Dieser Satz steht in großen Lettern in der Mehrzweckhalle unserer Schule. Die große Sehnsucht des Menschen ist die Freiheit. Er möchte in der Freiheit zuhause sein und baut und baut, damit sein Zuhause endlich ein Zuhause wird. Und irgendwann ist er gefangen in seinem Zuhause, unfrei. All das Streben und Mühen mit einer durchaus richtigen Absicht kann auch in ein Gefängnis führen. Lebendig eingemauert im so gut gemeinten Zuhause. Was bleibt, ist Gewohnheit. Die vertrauenslose Sorge um das Daheim-sein-Können kann uns Menschen zu Maurern werden lassen, zu Abkapslern, zu Menschen, die sich in der Gewohnheit einsperren und Heimat dazu sagen.


An der Saalach. Über Wochen werden mich fließende Gewässer begleiten. Beruhigend verändern und formen sie.

Gewohnheit macht müde, ja sie macht traurig, weil in der Gewohnheit die Chance, auf einen Gott, ich meine damit auf etwas Besonderes, auf etwas ganz Anderes, zu treffen, immer weniger wird. Und innerhalb dieser Mauern wird es immer enger, immer unfreier und trostloser.

Ich möchte gehen, damit alle diese Mauern fallen, damit alles, was mich gefangen nimmt und gefangen hält, sich öffnet, damit all das zusammenbricht, was nur mehr Gewohnheit ist und die Feigheit nährt. Ich möchte auf den Grund gehen, auch wenn manches dabei zugrunde geht. Ich möchte gehen, damit ich nach Hause komme, in eine Heimat ohne Mauern. In ein Haus ohne Ziegel. Ich möchte heimgehen. Im Gehen sesshaft werden. In der Ferne Rast erfahren. Im Gehen still werden. In der Stille gehen, auf den Grund kommen, dorthin, was mich ausmacht, was ich bin.

Im Gehen setze ich mich dem Wind aus, er soll all den Nebel, der meine Seele verdeckt, der das Bild von mir trübt, wegblasen. Vom Winde verweht sei all das Täuschende, all das Verschleiernde, das immer eine Entschuldigung vorgibt. Ich möchte ganz zu mir kommen und das dann auch aushalten. Im Gehen Wurzeln finden, Wurzeln, die Leben spenden. Gehen – das Wohl ergehen … Wohlergehen.

Meine Schultern schmerzen, Peter wird schon im Quartier sein. Wir werden uns dann etwas Gutes zu essen kaufen und morgen weitergehen. Mit Peter lässt sich gut reden. Es ist seine Herzlichkeit, die ihm auch der Beruf nicht hat nehmen können.

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