Loe raamatut: «Die Ex-Prinzessin»

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Die Ex-Prinzessin
der Grenz-Chroniken, Volume 1
Fiona West and Carolin Kern
Published by Tektime, 2020

This is a work of fiction. Similarities to real people, places, or events are entirely coincidental.

DIE EX-PRINZESSIN

First edition. April 3, 2020.

Copyright © 2020 Fiona West.

Written originally in English by Fiona West.

Translated into German by Carolin Kern.

LANDKARTE

KAPITEL EINS


ALS ABELIA AM GLEIS stand, die Vibration der Ankunft der öffentlichen Stadtbahn erwartete, hätte sie sich niemals vorstellen können, dass es das letzte Mal sein würde.

Es war ein Mittwoch, also liefen diejenigen ohne Zugbewilligung zur Arbeit, strömten schnell vorbei wie die Wasser eines Bachs, die meisten davon plapperten in ihre Telefone. Sie packte ihren Thermobecher mit Kaffee mit der einen Hand und stopfte die andere tief in ihren Arbeitsanzug, um menschlichen Kontakt zu vermeiden, während sich die Leute um sie herum drängten. Es machte keinen Sinn sich auf der Arbeit umzuziehen, besonders wenn man im Zug in etwas Klebrigem sitzen könnte.

Abbie liebte es Zug zu fahren. Sie liebte es die freien Räume zwischen den Vororten vorbeifliegen zu sehen. Sie liebte den Retrolook der Sitze und die Schaffner mit ihren kleinen Hüten, die auf den Telefonen der Menschen die Tickets scannten. Sie hatte kein Smartphone, also grub sie in ihrer übergroßen Tasche nach ihrem Papierschein herum.

Sie liebte es in der entgegengesetzten Richtung der meisten Menschen zu fahren. Es brauchte überhaupt keine Zeit die Stadt morgens zu verlassen, verglichen mit all den Trotteln, die in die Innenstadt fuhren und wie Vieh zusammengepfercht dastanden. Sie fuhr von Tanner’s Point durch Binderville, vorbei an Cottage Grove und Blakewood. Der Wald war herrlich zu dieser Jahreszeit; der Frühling stellte sich gerade ein und die Bäume waren voller Knospen und Möglichkeiten. Es ließ sie an einem Flüsschen sitzen und die Fische beim Springen beobachten wollen. Das Fenster, aus welchem sie blickte, schien stillzustehen, als die Bäume und Gebäude sich vorbeidrängten. Die Stimme vom Tonband kündigte Beaver Landing, die letzte Haltestelle, an und sie verdrückte sich.

Die Arbeit war eine andere Geschichte. Es war heiß unter der Erde—weniger wie in der Sonne und mehr wie in einer Sauna zu sein. Einer übelriechende Sauna. Die Arbeitsanzüge waren erstickend aber vorgeschrieben, deren Farbe zeigte den Rang an und ihr Gewebe sog unerwünschte Chemikalien aus der Luft auf. Sie wurden speziell entwickelt, aber sie funktionierten nicht so gut, wie die Hersteller behaupteten. Und das Schlimmste, den ganzen Tag über da drin zu sein machte ihre weiße sommersprossige Haut noch blasser, als diese von Natur aus wäre. Andererseits würde eine Abfallrückgewinnungs-Anlage nie ein attraktiver Arbeitsplatz sein.

»Fangt unten am Ende an und arbeitet auf mich zu«, rief Abbie ihrem Team über die zischende Luft, die aus den Entlüftungen kamen, hinweg zu. »Wir sollten in der Lage sein diese Ladung vor dem Mittagessen fertig zu bekommen. Achtet auf das Aluminium, ihr habt gestern etwas davon übersehen.« Als sie sich zerstreuten, wandte sie sich wieder ihrem Klemmbrett zu und begann die Kontingente des Tages durchzusehen.

»Abbie?«

»Jo«, antwortete sie ohne aufzusehen. Jemand räusperte sich.

»Abelia Olivia Jayne Venenza Ribaldi Porchenzii?«

Hierbei blickte sie langsam auf, ihr Stift schwebte noch über dem Papier. Zwei

Menschen, die aussahen als ob sie miteinander verwandt waren, lächelten sie an, dann sich selbst. Ihre blasse Haut sah unter dem fluoreszierenden Licht beinahe grün aus .

»Eure Hoheit, dem Woznick sei Dank, wir haben Euch gefunden! Wir müssen mit Euch sprechen.«

Abbies Mund wurde zu einer harten Linie. »Ich bin beschäftigt.« Sie drehte sich um

und ging ohne ein weiteres Wort zu ihrem Büro zurück.

Sie folgten ihr.

»Eure Hoheit«, begann die Frau, aber Abbie wirbelte herum, während sie eine Hand

zügelnd hochhob.

»Ich habe diesen Titel vor langer Zeit hinter mir gelassen. Bitte verwenden Sie ihn

nicht.«

»Wie sollen wir Euch dann nennen? Licht unserer Herzen? Barmherzige? Euer

Gnaden?« Die Frau hörte sich vollkommen ernst an. Abbie versuchte nicht die Augen zu verdrehen.

»Einfach nur Abbie ist in Ordnung«, sagte sie, während ihr Blick zum Klemmbrett

zurückkehrte.

»Das geht nicht an«, flüsterte die Frau dem Mann zu. Sie schnippte mit den Fingern.

»Dann nennen wir Euch Schwester?«

»Sind Sie in einer Sekte? Denn ich habe kein Interesse an Sekten. Kaffee ist meine

Religion.«

Der Mann nahm seinen Hut ab. »Möglicherweise möchte Eure Hoheit das an einem

etwas privateren Ort diskutieren?«

Abbie zwang sich dazu höflich zu lächeln. Nachdem Sie ihr Klemmbrett an die Wand

gehängt hat, verschaffte sie sich mit ihnen mit einem Ausweis Zugang zum Korridor der Büros, wo es ein wenig besser roch, und führte sie zu ihrem, schloss die Tür hinter ihnen.

»Bitte erlaubt mir uns vorzustellen«, sagte der Mann. »Ich bin Rubald Jerrinson und

das ist meine liebste Frau, Rutha.« Er sprach es »Ruut-ah« aus, ein Name den Abbie in

ihren 21 Jahren zuvor noch nie gehört hatte. Er räusperte sich nervös, als sie durch den Stapel Papiere in ihrem Postkorb blätterte. »Wir sind auf einer diplomatischen Mission von Orangiers«, fuhr er fort, »eine Mission von enormster Wichtigkeit.«

Hierbei flogen Abbies Augenbrauen nach oben. »Sie sind dann weit gereist.«

»Ja, Hoheit.«

»Ich dachte wir hätten uns auf Schwester geeinigt, Mr. Jerrinson«, sagte Abbie,

obwohl sie sich auf nichts dergleichen geeinigt hatten. Sie stieß einen Seufzer aus. »Ich will nicht, dass diese Leute wissen wer ich … war.«

In Wahrheit war Gardenias Hauptstadt ein beliebter Fleck für ehemalige Prinzen und Prinzessinnen aller Art und sie kannte einige, obwohl keiner aus so großen und mächtigen Ländern wie Brevspor kam. Die meisten waren ewige Studenten an der Universität mit Hauptfach Philosophie, die von treuhänderischem Vermögen lebten. Indem sie in der Fabrik arbeitete, war sie in der Lage gewesen ihre Identität unter Verschluss zu halten. Bis jetzt.

»Ja, Entschuldigung, ähm, Schwester,« sagte Rubald mit einem nervösen kleinen Husten. »Wir wurden geschickt, um Euch dazu zu bringen Eure vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen Seine Königliche Hoheit, Zweitgeborener von Orangiers, Prinz Edward Kenneth Keith Francis Benson Broward, zu heiraten. Wir müssen so schnell wie möglich aufbrechen.«

Abbie stand auf und ging in die Ecke ihres Büros, wo ein Mini-Kühlschrank und eine

Kaffeekanne hausten. Sie zog ein pinkes Gebäck für den Toaster heraus, ihr verlässliches-wenn-ich-völlig-gestresst-bin-Essen, und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein. Sie setzte sich zurück an ihren Schreibtisch ohne den zwei Abgesandten etwas anzubieten.

»Der Vertrag ist ungültig geworden, als ich auf meinen Titel und meine Position in der Thronfolge verzichtet habe«, sagte sie während ihrem ersten riesigen Bissen vom Gebäck. Trotz ihrer größten Bemühungen begann ihr Puls zu klettern.

Das Paar lächelte sich wissend an und Rutha zog einen dünnen Stapel Papier aus

einer Umhängetasche, von der Abbie nicht bemerkt hatte, dass sie diese trug. »Diese Kopie des Vertrags besagt etwas anderes«, sagte die Frau. »Ihr könnt es selbst lesen, wenn Ihr möchtet, Eure Ho—äh, Schwester. Wir haben nur die hervorstechenden Konditionen dort markiert, unter ‚Konditionen der Braut’ … Euer royaler Stand ist keine davon. Bitte denkt daran, dass internationale Heiratsverträge in jedem Land auf dem Kontinent oder über das Funkelnde Meer hinweg durchsetzbar sind, Eure Anwesenheit in einem anderen Land ist also kein Hindernis. Wir haben mit den Anführern von Gardenia im Privaten gesprochen und sie haben zugestimmt Euch an Orangiers auszuliefern, falls notwendig.«

Ein Schraubstock zog sich in Abbies Brust zusammen, ihre Angst stieg schnell in einer

stürmischen, panischen Welle. »Ich brauche etwas Zeit, um diesen Vertrag durchzuschauen«, sagte sie, ihre Stimme überraschend flach in ihren eigenen Ohren. Sie stand auf und ging zur Tür. »Würden Sie beide bitte morgen wiederkommen, sagen wir um zehn Uhr herum, so dass wir dies weiter diskutieren können?« Ihre Gedanken rasten bereits zur ihrer besten Freundin Lauren mit ihrem rechtswissenschaftlichen Diplom voraus, zu einem großen Glas Wein und zur »Lauf-Tasche« mit einem Stapel neuer Identitäten in einem Schließfach im Bahnhof, welches sie seit fünf Jahren gemietet hatte. Alles außer dem furchterregenden Gespenst einer Hochzeit in einer Kirche für tausend Personen und wieder einem goldenen Diadem auf ihrem Kopf.

»Es gibt noch etwas, Schwester.« Rubald hielt inne. Sein blasses Gesicht war ernst. »Es geht um Euren Vater.« Hierbei querte sie zum Schreibtisch und setzte sich wieder hin. Rutha erhob sich und schloss leise die Tür, die sie offen gelassen hatte.

»Er hat Euch einen Brief geschrieben. Ich habe ihn hier.« Sie streckte die Hand aus

und nahm den großen braunen Umschlag, den Rubald ihr darbot. Das Wachssiegel ihres Vaters überspannte die Lasche. Sie brach es schnell und nahm den feinen Bogen aus Leinen heraus. Er war kürzer, als sie erwartet hatte.



LIEBSTE ABBIE,

du wirst mehr vermisst, als du dir vorstellen kannst. Die Dinge laufen hier nicht gut und deine Hilfe wird benötigt. Ich bin krank. Die Menschen wünschen nicht, dass dein Bruder den Thron besteigt. Brevspor ist seit sechzehn Generationen ein Matriarchat gewesen und die Menschen akzeptieren die Art und Weise nicht, wie die Dinge jetzt sind. Sie haben meine Herrschaft, nachdem deine Mutter verschieden war, akzeptiert, da sie gewusst haben, dass du zu jung warst, um eine solche Verantwortung zu schultern, aber nicht länger.

Sie haben mir eine Petition eingereicht, dass ich deinen Heiratsvertrag erzwingen soll. Sie glauben, dass Brevspor unter deiner gemeinsamen Herrschaft mit Edward florieren würde, und ich stimme, natürlich, zu. Brevspor würde mit dir als Verwalterin als Territorium unter die Kontrolle von Orangiers kommen und sie hätten einmal mehr eine Porchenzii Königin, der sie vertrauen.

Es gibt noch mehr. Andere herrschende Mächte wissen welche mächtige Allianz dies wäre und arbeiten rasch daran dies zu verhindern. Du bist in Gefahr dort, wo du bist. Mir tut dies leid, aber ich dachte es ist besser, dass du es weißt.

Komm und verabschiede dich von mir, meine liebe Tochter, und nimm deinen rechtmäßigen Platz ein … um unser aller Willen.

In Liebe,

Paul Daniel Trevor Washington Frakes Porchenzii … alias Papa



ALLE KÖNIGLICHE AUSBILDUNG der Welt war nicht genug, um ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten. Fünf Jahre des Schweigens, das mit solchen Neuigkeiten gebrochen wurde. Sie konnte die Tränen, die ihr Sichtfeld verschwimmen ließen, nicht aufhalten und sie streifte sie mit wütenden Wischbewegungen ab. Sie las die ersten Zeilen wieder und wieder: Du wirst mehr vermisst, als du dir vorstellen kannst.

»Welche Art von Krankheit ist es?«, fragte sie leise.

Mr. Jerrinson zuckte mit den Schultern, sein Gesichtsausdruck hilflos. »Es tut mir leid, Hoheit, ich weiß es nicht.« Sie bemühte sich nicht ihn zu korrigieren. Plötzlich fiel ihre Aufmerksamkeit auf eine andere Zeile. Sie wischte den Rotz, der aus ihrer Nase trat, auf ihren Ärmel und fragte: »Was bedeutet das, ›deine gemeinsame Herrschaft‹? Ist Edward jetzt als Zweitgeborener an erster Stelle der Thronfolge?«

Rubald nickte. »Der Erstgeborene, Lincoln Atticus Jonathan Norris Bryant Broward versuchte die Macht an sich zu reißen, bevor sein Vater seine Absicht zurückzutreten verkündet hat. Er wurde als untauglich zu regieren erachtet und sitzt momentan im Exil in Op’ho’lonia. Er stellt dort sogar jetzt eine Armee auf, um einen weiteren Putsch zu versuchen—das heißt bis sein Bruder Euch heiratet und den Vorteil der Kräfte Eures Territoriums erlangt, an welchem Punkt er …«

»Unbedeutend sein wird«, beendete sie.

Es gab ein Klopfen an der Tür und ohne nachzudenken rief sie: »Herein!«

Zwei Arbeiter niedriger Stufe standen mit großen Augen in der Türöffnung. »Ähm, wir hatten eine Frage zur Temperatur des Abwassers was die Durchführbarkeit der Rückgewinnung des Quecksilbers betrifft …«, begann einer, aber verstummte allmählich, als er Abbies tränenverschmierte Wangen bemerkte.

»Wir kommen noch einmal«, sagte der andere und die Tür schloss sich einmal mehr.

Abbie wischte sich noch einmal über ihr Gesicht, die Tränen weigerten sich noch immer aufzuhören. Rutha bot ihr ein Taschentuch an, welches sie dankbar annahm.

»Verflixt«, flüsterte sie. »Verflixt und zur Jersey.«

»Majestät«, sagte Rutha leise, »wenn man die Gefahr bedenkt, von welcher Euer Vater gesprochen hat, glauben wir, dass Ihr beabsichtigen solltet hier so schnell wie möglich wegzugehen.«

»Nein«, gab sie zurück, putzte ihre Nase. Sie starrte sie durch gerötete Augen an, die zu ihrem Haar passten, bis sie wegsahen. »Sie können jetzt gehen.«

Zwei schockierte Gesichtsausdrücke erschienen auf den Gesichtern des Paars, aber Rubald fand zuerst seine Stimme wieder. »Majestät, wir beide haben das Gefühl—«

Abbie stand auf und ließ ihre Handflächen auf den Schreibtisch krachen, verstreute dabei Papiere und die Verpackung des Gebäcks auf dem Fußboden. »Mir ist egal, was Sie beide für ein Gefühl haben, oder was Sie denken, oder was Sie wollen«, sprach sie langsam und deutlich aus. »Ich habe dieses Leben permanent hinter mir gelassen. Ich werde niemals zu einem royalen Leben zurückkehren. Sie können gerne versuchen mich auszuliefern, wenn Sie es wagen.«

»Meine Güte«, murrte Rutha und Rubald schüttelte nur seinen Kopf. Sie starrten sie an, Rubalds Gesicht wurde fleckig rot, aber sie bewegten sich nicht, bis sie sich räusperte.

»Lassen Sie mich deutlicher werden. Raus hier.«

KAPITEL ZWEI


ABBIE SAGTE IHREM VORGESETZTEN, dass sie krank war und floh. Sie war sich sicher, dass sie so krank aussah, wie sie sich fühlte, also war es keine Lüge—nicht, dass sie es überhaupt ein bisschen störte jetzt gerade zu lügen. Sie machte sich zum Bahnhof auf, spähte über ihre Schulter, um zu sehen, ob Rubald und Rutha sich herumgedrückt haben; hatten sie nicht.

Ihre Finger juckten etwas zu tun und sie klammerte sich mit beiden Händen an die Träger ihrer Tasche. Die anderen Fußgänger ignorierten sie größtenteils, ihre Augen auf ihre Telefone gerichtet—ein Stück Schleier-Technologie, gewährt durch den magischen Vorhang, der diesen Teil des Landes umhüllte. Was er nicht erlaubte, waren motorisierte Fahrzeuge; die Verschmutzung sammelte sich im Inneren des Schleiers an und machte seine Bewohner krank. Sie hatte darüber nachgedacht in die Schleier-Tech anstatt der Abfallwirtschaft zu gehen, aber letztendlich hatte ihre Liebe zur Natur über die bessere Bezahlung von ST gesiegt.

Sie ging durch den Damsey Park, große Eichen überragten sie, um deren Füße Knollige Seidenpflanzen, Astern und Wilde Bergamotte ordentlich gepflanzt waren. Gardenia war bekannt für seine Naturpracht—es war, was sie in den letzten fünf Jahren, die sie in diesem Land verbracht hatte, am meisten genossen hatte. Während sie ging, ertappte sie sich dabei, wie sie in die Erinnerung purzelte, als sie hier angekommen war, verzweifelt und alleine.

Hungrig. Sie war niemals zuvor so hungrig gewesen; es hatte sich angefühlt, als ob sich ihr Inneres nach außen kehrte. Es hat sie nachts wach gehalten, wie sie eingerollt auf dem rauen Beton in ebendiesem Park lag, bis ein Polizist ihr gesagt hatte, dass sie ihrer Wege gehen soll. Ein Mann in einer dicken karierten Jacke hatte sie, seit was hätte Abendessenszeit sein sollen, beobachtet. Er lehnte an einem Baum und nickte dem Polizisten kurz zu, der nickte kurz zurück, sagte aber nichts zu ihm. Abbie hatte finster dreingeblickt. Was machte diesen Typ besonders? Sie war es noch immer nicht gewohnt wegen ihres Geschlechts wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden; in Brevspor waren die Frauen in der sozialen Hierarchie wichtiger als die Männer. Es gab keine andere Art und Weise das zu sagen. Das war hier eindeutig nicht der Fall und sie war mit diesem Fakt auf zahlreiche Arten in Berührung gekommen: bei der Zoll- und Einwanderungsbehörde beiseitegeschoben zu werden, von Polizisten Mäuschen genannt zu werden, im Zug in ihr Hinterteil gekniffen zu werden … es ärgerte sie maßlos.

Der junge Mann war langsam auf sie zugekommen und sie fragte sich beiläufig, ob er für ihre Mutter arbeitete, ob er hierher geschickt worden war, um nach ihr zu suchen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, als sie auf ihre Füße kam. Nie im Leben. Sie würde gegen ihn mit bloßen Fäusten kämpfen, bevor sie zulassen würde, dass sie zurück nach Hause befördert wurde. Als er ihre Körperhaltung sah, wurde er langsamer und hielt die Hände hoch.

»Wollte nur reden.« Seine Kleidung war schäbig, dreckig, aber sein Gesicht und seine Hände waren sauber und er behielt seine Augen auf ihrem Gesicht. Sie hielt ihre Wirbelsäule gerade, ihre Füße machten sich bereit zu kämpfen oder zu fliehen.

»Dann rede.«

»Ich bin Ward. Wie ist dein Name?«

»Geht dich nichts an.«

Er gluckste. »Richtig. Nicht aus der Gegend, was?«

»Was bringt dich da drauf?«

Er hatte ihr rotbraunes Haar und die helle Haut wahrgenommen. »Dein Teint, deine Haarfarbe. Dein Akzent.«

»Und?«

»Könnte jemanden brauchen, der aussieht, als ob er nicht hier aus der Gegend ist. Biete Essen im Tausch.«

»Ich mache für Essen nicht die Beine breit.«

Der Mann war einen Schritt näher gekommen, schmunzelte und kalter Schweiß brach entlang ihrer Wirbelsäule aus. »Nicht was ich wollte, aber gut zu wissen.« Er hatte sich dann umgeschaut, so als ob er ein Geheimnis teilte. »Finde einen netten Typen, der dich beschützt, oder du wirst diese Wahl vielleicht nicht haben.« Während er zurückwich, schenkte ihr der Mann einen bedeutungsvollen Blick, drehte sich dann, um zu gehen. Abbie schauderte.

»Warte …«

Durch das Knacken und Summen der elektronischen Ansage, die die Ankunftszeiten herausrief,  aus ihrem Schwelgen in Erinnerungen wachgerüttelt, blickte Abbie sich benebelt um. Sie war am Bahnhof angekommen. Sie setzte sich auf eine hölzerne Bank, beobachtete die Türen, um zu sehen, ob ihr jemand hinein gefolgt war. Sie erkannte niemanden wieder, weder an ihrem Gesicht noch an ihrer Körpersprache. Nach ein paar Momenten, in welchen sie sich beruhigte, erhob sich Abbie und ging zu ihrem Schließfach, dem einen, welches die ganze Zeit ihr Notfallplan gewesen war. Sie durchwühlte es, bis sie das Bargeld, das Pfefferspray und das Dörrfleisch und Studentenfutter gefunden hat, was wahrscheinlich zumindest noch immer grenzwertig essbar war, verstaute dann alles in ihrer Tasche. Aber als sie zu den Reisepässen kam, kamen die Tränen wieder zurück.

Ich entscheide mich allen Kontakt mit Lauren, mit Melinda, mit Davis, mit Ward, Patty, Jenny zu verlieren. Ich entscheide mich wieder von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck zu leben … einen neuen Job finden, und bäh, Jersey—auch neue Ärzte. Meinen Namen ändern. Ich entscheide mich meinen Vater sterben zu lassen ohne mich verabschiedet zu haben. Das ist, für was ich mich gerade entscheide.

Sie fühlte nach dem gleichen stählernen Entschluss, den sie gefasst hatte, als Ward in jener Nacht zum ersten Mal im Park auf sie zugekommen war, die gleiche innere Stimme, die ihr versprach, dass sie ihr eigenes Leben kontrollieren konnte, dass sie für das, was sie wollte, kämpfen konnte—und ging leer aus. Das war nicht richtig. Sie legte den Reisepass zurück und schlug das Schließfach zu. Es würde einen anderen Weg geben müssen.

KAPITEL DREI


BEVOR SIE DEN BAHNHOF verließ, benutzte Abbie ein öffentliches Telefon, um Lauren anzurufen.

»Hey, ich bin in großen, großen Schwierigkeiten. Ich brauche deine Hilfe. Kannst du gleich von der Arbeit weg und mich bei mir zuhause treffen?«

»Ähm, okay?«, antwortete Lauren langsam, die Stimme voller Besorgnis.

»Großartig, bis gleich«, sagte Abbie, legte auf, bevor Lauren anfangen konnte sie ins Kreuzverhör zu nehmen.

Gehen war zu langsam; sie nahm lieber eine Kutsche anstatt öffentliche Verkehrsmittel zu riskieren. Lauren wartete bereits draußen vor dem Gebäude, als sie dort ankam. Abbie schloss die Außentür zu ihrem schmuddeligen Gebäude auf, blickte dabei zum, wie es sich anfühlte hundertsten Mal, über ihre Schulter. Jeder der fünf unbeweglichen Männer, die auf der Straße herumhingen, könnte sie beobachten. Sie schob Lauren zur Seite. »Mensch, pass auf den Anzug auf, Abs. Ich muss zur Arbeit zurück, ohne dass die Leute denken, dass das eine telefonische Verabredung zum Sex war.«

»Hör einmal auf Witze zu machen. Ich bin hier wirklich in Schwierigkeiten«, zischte Abbie, milderte dann ihren Tonfall ab, ihre Schultern sackten zusammen. »Mein altes Leben hat mich eingeholt.«

Laurens Augenbrauen schossen hoch. »Was? Warum bist du dann nicht auf dem Weg zum Bahnhof? Ich dachte du hättest einen Plan.«

»Es gibt … Komplikationen.« Abbie schloss ihr Apartment auf. Sie brachte Lauren auf den neuesten Stand, während sie Kaffee in der Mikrowelle warm machte und Lauren leise den Vertrag durchlas. Schließlich legte sie den dünnen Stapel Papier ab und seufzte.

»Dieses Ding ist ein Kunstwerk, Abbie. Er fußt vollständig auf etwas, das sich Hapsburg-Test nennt, welcher deine Abstammung verfolgt und sie mit der deines vorgeschlagenen Ehemanns vergleicht. Die Linien dürfen nicht zu nahe beieinander liegen, oder der Test scheitert. Mitglieder des Königshauses zu finden, die nicht bereits verwandt sind, wird schwieriger und schwieriger.«

»Was bedeutet das also für mich?«

»Das bedeutet—oder zumindest denke ich, dass es bedeutet—dass der einzige Weg aus diesem Vertrag herauszukommen ist sich neue Eltern zu suchen. Nicht machbar. Es basiert vollständig auf deiner Genetik; deine Rolle als potentielle Königin von Brevspor war nebensächlich, wirklich.«

»Es gibt keine Reinheits-Klausel?«

Laurens Mund klappte auf und sie schoss Abbie einen lasziven Blick zu. »Mädchen, bist du endlich flachgelegt worden?«

Abbie schüttelte ihren Kopf. »Das lässt sich allerdings beheben.«

Lauren nahm ihre Brille ab und starrte sie an. Sie lehnte sich nach vorne über den Tisch. »Ist das dein Ernst?« Abbie schaute aus dem Fenster und sagte nichts. »Wir haben noch nie wirklich über diesen Teil deines Lebens gesprochen. War es so schlimm? Warum bist du gegangen?«

Abbie war für eine lange Zeit ruhig. Als sie wieder sprach, fühlten sich die Worte an, als ob sie durch irgendeine unsichtbare Kraft aus ihr herausgezogen wurden. »Als ich dreizehn war, haben sich die Dinge plötzlich verändert. Ich war nicht dafür vorgesehen die Nachfolge meiner Mutter anzutreten, aber meine Schwestern …« Abbie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Sie räusperte sich. »Meine Schwester Allegra war dazu vorgesehen den Thron zu besteigen.«

»Allegra? Hast du mir von ihr erzählt?«

Abbie fuhr den Rand ihrer Tasse gedankenverloren mit einem Finger nach und schüttelte ihren Kopf.

»Warum nicht?«

Abbie zuckte mit den Schultern, starrte in ihre Tasse. Die gute Sache war, sie war von früher ausgeweint. »Sie ist nicht mehr da, Laur. Es gab einen Unfall und sie … sie sind gestorben.«

Abbie blickte nicht zu ihrer Freundin hoch, da sie nicht den Gesichtsausdruck von Schock und Mitleid sehen wollte, der sie sicherlich begrüßen würde, wenn sie es tat. Einen Moment später spürte sie das Gewicht einer anderen Hand auf ihrer eigenen.

»Es tut mir leid, Süße«, sagte Lauren sanft. »Ich hätte nicht herumschnüffeln sollen. Aber das lässt die Bedingungen des Vertrags mehr Sinn machen. Sogar wenn du den Thron in deinem Königreich besteigst, würde Edward nicht für das Besteigen des Throns in seinem Königreich bedacht werden, also gäbe es keinen Konflikt.«

»Königinnenreich«, korrigierte Abbie. »In einem Matriarchat nennt man es Königinnenreich, beginnend mit Patrice Evelyn Georgina Deering Fletcher Compagnia in 37 Anno Tobak.« Sie konnte nicht glauben wie einfach diese lächerliche Information, welche seit ihrer Kindheit pflichtbewusst in ihren Kopf hineingehämmert worden war, nach all dieser Zeit zurückgekehrt war.

Lauren drückte ihre Hand. »Mädchen, bist du in Ordnung? Was kann ich tun? Wein? Toastergebäck? Schokolade?« Abbie schüttelte ihren Kopf. Sie saßen still da, als die Hochbahn vorbeifuhr, eine Lampe oben auf dem Bücherregal schwanken und die Vorhänge schwingen ließ.

Ein Gedanke zischte in Abbies Kopf, als das Rumpeln des Zugs verklang. »Warte, du hast etwas über … du hast gesagt, dass mein einziger Ausweg neue Genetik wäre.«

Lauren setzte sich ihre Brille wieder auf. »Richtig. Dieser Vertrag basiert auf deinen Genen. Aber ich denke nicht, dass es jetzt schon wissenschaftlich möglich ist—«

»Wer braucht das, wenn ich es auf altmodische Weise tun kann?«

Lauren runzelte die Stirn. »Ich kann dir nicht folgen, Süße.«

»Wenn ich meinen Vater dazu bringen könnte seine Elternschaft zu bestreiten, würde das funktionieren?«

Lauren zog ein skeptisches Gesicht. »Na ja, ich denke schon, aber wird das deinem Vater nicht richtig wehtun? Ich meine, im Grunde bittest du deinen Vater für dich zu lügen.«

Abbie schüttelte ihren Kopf. »Es ist sehr wahrscheinlich, dass meine Mutter ihm untreu war. Ich bin vielleicht überhaupt nicht seine Tochter. Er könnte sagen, dass sie gelogen haben, was bedeutet, dass sie herausbekommen müssten wer mein wirklicher Vater ist, um den Test noch einmal zu machen. Diese Verzögerung erkauft mir Zeit Edward Kenneth Keith Francis Benson Broward zu überzeugen, dass er diese Heirat sowieso nicht will und jemand anderen zu finden, der meinen Platz einnimmt.«

Lauren blickte wieder zerknirscht drein. »Ich weiß, dass dir deine Freiheit wichtig ist, aber damit wirst du das nicht erreichen. Im besten Fall ist das fadenscheinig und es gibt sehr wenige Präzedenzfälle dafür. Kannst du nicht einfach, ich weiß nicht, ihnen die Wahrheit sagen?«

»Die Wahrheit darüber, warum ich das nicht tun kann?«

»Ja. Ist das so unzumutbar?«

»Weißt du was für einen Shitstorm sie über mich bringen würden? Über meine Familie?«

Lauren neigte ihren Kopf auf eine Seite, warf ihren Blick über die Second-Hand Möbel des Wohnzimmers. »Ich verstehe das, aber das ist … das ist einfach …«

»Kaltschnäuzig? Kaltherzig? Unethisch? Abso-super-lut. Und das ist genau warum ich das tun werde.« Sie stand auf, mit gestrafften Schultern und einer Grimasse auf dem Gesicht. »Ich gehe nach Brevspor, um das Herz meines sterbenden Vaters zu brechen.«

Es gab ein kraftvolles Klopfen an der Tür und die zwei Frauen blickten einander mit großen Augen an. »Hast du die Tür verschlossen?«, flüsterte Lauren, fischte nach ihrem Handy. Abbie schüttelte ihren Kopf.

»Eure Hoheit, wir wissen, dass Ihr hier drin seid!«

Abbies Schultern entspannten sich und sie ließ einen Atemstoß heraus, von dem sie nicht wusste, dass sie ihn angehalten hatte. »Das sind nur diese Abgesandten von Orangiers, das geht in Ordnung«, flüsterte sie.

»Keine Hoheiten hier«, rief sie durch den Raum, täuschte Selbstvertrauen vor, »nur eine Müllfrau mittlerer Stufe und ihre Anwältin. Gehen Sie weg.«

Es gab eine gedämpfte Beratschlagung vor der Tür. »Majestät, bitte. Uns ist eine Mission übertragen worden und wir beabsichtigen sie zu erfüllen. Es ist eine Sache der Ehre. Zwingt uns nicht die Behörden einzuschalten. Das wäre eine steinige Weise Ihre Regentschaft zu beginnen.«

Abbie stürmte zur Tür und riss sie auf, schreckte damit das Paar auf, das schnell von der Tür weggetreten war. »Ich beabsichtige nicht zu regieren. Und Sie können dem Zweitgeborenen Sohn sagen, dass—«

»Eigentlich wünscht Seine Hoheit selbst mit Euch zu sprechen«, sagte Rubald, hielt dabei ein Smartphone hoch und Abbie sah, das es bereits verbunden war.

»Anruf abgelehnt. Sie können ihm sagen, dass—«

»Er kann Euch hören. Ihr könnt es ihm selbst sagen.«

Ihre Stimme verhärtete sich. »Unterbrechen Sie mich nicht. Sie können ihm sagen, dass ich heute Abend nach Brevspor fliegen werde, um dieses Durcheinander ein für alle Mal in Ordnung zu bringen.«

»Nein!« Abbie schreckte zusammen, als drei Stimmen, inklusive der einen am Telefon, sie alle auf einmal anschrien, besonders da sie erwartet hatte, dass sie von diesen Neuigkeiten entzückt wären.

»Euer Gnaden, Ihr könnt nicht fliegen. Schützen an der Grenze von Gratha schießen alle Luftschiffe ab, die versuchen ihre Grenze zu überschreiten, und die trellavische Regierung durchkämmt die Landschaft nach Euch. Sie sind entschlossen diese Vereinigung um jeden Preis zu verhindern. Versteht Ihr nicht?« Rubalds Stimme hatte einen flehenden Tonfall angenommen. »Es ist hier für Euch nicht sicher, noch an irgendeinem Ort zwischen Brevspor und Orangiers.«

»Aber es würde Wochen dauern über Land zu gehen!«

»Wir haben Pferde«, meldete sich Rutha zu Wort, als ob das die Situation reizvoller machen würde.

»Ja, danke, Rutha«, sagte Rubald nickend. »Wir haben Pferde und können aller Voraussicht nach mindestens dreißig Meilen am Tag schaffen. Wir schätzen, dass es höchstens drei Wochen wären.«

Abbie massierte ihre Schläfen. »Ich werde meinen Job verlieren«, murmelte sie.

»Seid realistisch, Liebchen! Ihr braucht keinen Job, wenn Ihr eine Königin seid«, sagte Rutha heiter, wurde dann ernster, nachdem sie Abbies stechenden Blick als Antwort sah. Abbie schloss die Tür zur Hälfte und sagte leise zu Lauren: »Also, was diese Reinheits-Klausel angeht …«

Lauren blätterte schnell durch das Dokument, ließ ihre Augen vor und zurück schnellen, schüttelte dann ihren Kopf.

Abbie öffnete die Tür und zog eine Grimasse. »Ich würde gerne so früh wie möglich abreisen.«

»Wundervoll. Habt Ihr das gehört, Eure Hoheit?«, fragte er, legte das Handy an sein Ohr und drehte sich von der Türöffnung weg. Rutha stand grinsend da, ihre Hände vor ihrer Brust ineinandergelegt. »Darf ich hereinkommen und Euch beim Packen helfen?«

Abbie schloss die Türe wieder zur Hälfte und schenkte Lauren einen flehenden Blick.

»Schau mich nicht an«, sagte sie, ihre Augen noch auf dem Vertrag. »Ich glaube nicht an einen durch einen Anwalt unterstützen Selbstmord.«

»Bitte kommen Sie herein«,  antwortete Abbie Rutha, als sie die Tür öffnete.

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