Loe raamatut: «Fjodor Dostojewski: Hauptwerke», lehekülg 50

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Der General stand von seinem Stuhl auf.

»Oh, im Gegenteil!« stammelte der Fürst. »Sie haben mich so schön unterhalten, und ... Ihre Mitteilungen waren so interessant; ich bin Ihnen so dankbar!«

»Fürst!« sagte der General, indem er ihm wieder schmerzhaft die Hand drückte und ihn mit glänzenden Augen unverwandt anblickte, wie wenn er selbst auf einmal zur Besinnung gekommen und von einem plötzlichen Gedanken überrascht wäre. »Fürst! Sie sind ein so guter, ein so harmloser Mensch, daß Sie mir manchmal geradezu leid tun. Ich sehe Sie mit inniger Rührung an; Gott segne Sie! Möge Ihr Leben in Liebe beginnen und erblühen! Das meinige ist abgeschlossen! Oh, verzeihen Sie, verzeihen Sie!«

Er ging schnell hinaus, das Gesicht mit den Händen bedeckend. An der Aufrichtigkeit seiner Erregung konnte der Fürst nicht zweifeln. Er verstand auch, daß der Alte wie berauscht von seinem Erfolg wegging; aber er ahnte doch, daß dieser Mensch zu der Sorte derjenigen Lügner gehörte, die zwar bis zur Wollust und Selbstvergessenheit lügen, aber sogar auf dem Gipfelpunkt ihres Rausches doch im stillen argwöhnen, daß man ihnen nicht glaubt und nicht glauben kann. Es war denkbar, daß der Alte in seiner jetzigen Lage zur Besinnung kommen, sich über die Maßen schämen, den Fürsten im Verdacht tiefen Mitleids mit ihm haben und sich beleidigt fühlen werde. »Habe ich auch nicht schlecht daran getan, daß ich ihn bis zu solcher Begeisterung kommen ließ?« fragte sich der Fürst beunruhigt, konnte sich aber im nächsten Augenblick nicht mehr halten und brach in ein gewaltiges, wohl zehn Minuten anhaltendes Gelächter aus. Er wollte sich wegen dieses Gelächters Selbstvorwürfe machen, sah aber sofort ein, daß er dazu keinen Anlaß habe, weil ihm ja der General unendlich leid tat. Seine Ahnung ging in Erfüllung. Schon am Abend desselben Tages erhielt er einen sonderbaren Brief, der ebenso kurz wie energisch war. Der General teilte ihm darin mit, daß er sich auch von ihm für alle Zeiten trenne; er achte ihn und sei ihm dankbar; aber auch von ihm könne er nicht »Mitleidsbezeigungen annehmen, die die Würde eines ohnehin schon unglücklichen Mannes noch weiter herabdrückten«. Als der Fürst hörte, daß der Alte sich bei Nina Alexandrowna eingeschlossen habe, fühlte er sich seinetwegen beinahe beruhigt. Aber wir haben bereits gesehen, daß der General auch bei Lisaweta Prokofjewna Unheil anrichtete. Wir können hier keine Einzelheiten mitteilen; aber wir bemerken in aller Kürze, daß der Kernpunkt bei dieser Zusammenkunft darin bestand, daß der General Lisaweta Prokofjewna in Angst versetzte und durch seine bitteren Andeutungen in betreff Ganjas ihre Entrüstung erregte. Er wurde mit Schimpf und Schande aus dem Haus gewiesen. Das war der Grund, weshalb er dann eine so schlechte Nacht und einen so schlechten Morgen hatte, allen Verstand verlor und zuletzt beinah geisteskrank auf die Straße lief.

Kolja begriff immer noch nicht recht, was eigentlich vorging, und hoffte sogar durch Strenge etwas bei seinem Vater zu erreichen. »Na, was denken Sie denn nun eigentlich, wohin wir unsere Schritte lenken sollen, General?« fragte er. »Zum Fürsten wollen Sie nicht; mit Lebedjew haben Sie sich verzankt; Geld haben Sie nicht, und ich habe nie welches: da sitzen wir nun jetzt auf dem Trockenen, mitten auf der Straße.«

»Man sitzt angenehmer im Trockenen als auf dem Trockenen«, murmelte der General. »Mit diesem Wortspiel habe ich Begeisterung erregt ... in einer Offiziersgesellschaft ... im Jahre vierundvierzig ... Im Jahre tausend ... achthundert ... vierundvierzig, ja ...! Ich entsinne mich nicht ... Oh, erinnere mich nicht daran, erinnere mich nicht daran! ›Wo ist meine Jugend, meine Frische!‹ wie jemand ausrief ... Wer hat das doch ausgerufen, Kolja?«

»Das kommt bei Gogol in den ›Toten Seelen‹ vor, Papa«, antwortete Kolja und schielte ängstlich nach dem Vater hin.

»Tote Seelen! O ja, tote Seelen! Wenn du mich begraben läßt, dann schreib auf mein Grab: ›Hier ruht eine tote Seele!‹ ›Der Schande kann ich nicht entrinnen!‹

Wer hat das gesagt, Kolja?«

»Das weiß ich nicht, Papa.«

»Jeropegow soll nicht existiert haben? Jerofei Jeropegow ...!« rief er ganz außer sich und blieb auf der Straße stehen. »Und das ist mein Sohn, mein leiblicher Sohn! Jeropegow, ein Mann, der elf Monate lang wie ein Bruder mit mir zusammen gelebt hat, für den ich ein Duell gehabt habe ... Fürst Wygorjezki, unser Hauptmann, sagte zu ihm, als wir bei der Flasche saßen: ›Du, Grischa, wo hast du denn deinen Anna-Orden erworben? Das möchte ich wirklich wissen.‹ ›Auf den Schlachtfeldern meines Vaterlandes, da habe ich ihn erworben!‹ Ich rief: ›Bravo, Grischa!‹ Na, daraus entstand dann ein Duell. Und dann heiratete er Marja Petrowna Su ... Sutugina und wurde auf dem Schlachtfeld erschossen ... Die Kugel prallte von dem Kreuz ab, das ich auf der Brust trug, und fuhr ihm gerade in die Stirn. ›Ich werde dich in Ewigkeit nicht vergessen!‹ rief er und fiel tot nieder. Ich ... ich habe mit Ehren gedient, Kolja; ich habe als anständiger Mann gedient; aber ›der Schande kann ich nicht entrinnen!‹ Kommt ihr beide, du und Nina, zu meinem Grab ... ›Arme Nina!‹ so habe ich sie früher genannt, Kolja, es ist schon lange her, noch in der ersten Zeit, und sie hörte das so gern ...! Nina, Nina! Was habe ich dir für ein Schicksal bereitet! Wofür kannst du mich noch lieben, du geduldiges Herz? Deine Mutter hat das Herz eines Engels, Kolja; hörst du wohl? Das Herz eines Engels!«

»Das weiß ich, Papa. Papa, liebster Papa, lassen Sie uns nach Hause zurückkehren, zu Mama! Sie ist uns ja nachgelaufen! Na, was stehen Sie denn so da? Als ob Sie es nicht begriffen ... Na, warum weinen Sie denn?«

Kolja weinte selbst und küßte seinem Vater die Hände.

»Du küßt mir die Hände, mir?«

»Nun ja, gewiß, gewiß. Was ist daran wunderbar? Na, warum heulen Sie denn mitten auf der Straße? Und dabei nennen Sie sich einen General und wollen ein Soldat sein; na, nun kommen Sie!«

»Gott segne dich, lieber Junge, dafür, daß du dich gegen deinen mit Schande bedeckten Vater respektvoll benommen hast ... ja, gegen einen mit Schande bedeckten alten Mann, deinen Vater ... Mögest du einmal einen ebensolchen Sohn haben ... le roi de Rome ... Oh, mein Fluch komme über dieses Haus!«

»Aber was soll denn dieses Wesen hier eigentlich vorstellen?« brauste Kolja auf einmal auf. »Was ist denn passiert? Warum wollen Sie jetzt nicht nach Hause zurückkehren? Wovon sind Sie denn so verrückt geworden?«

»Ich werde es dir erklären, werde es dir erklären ... ich werde dir alles sagen. Schrei nicht so; die Leute hören es ... le roi de Rome ... Ach, mir ist so übel, und ich bin so traurig!

›Wo ist dein Grab, du alte Kinderfrau?‹

Wer hat so gerufen, Kolja?«

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht, wer so gerufen hat! Kommen Sie gleich nach Hause, gleich! Ich werde Ganja durchprügeln, wenn es nötig ist ... Aber wo wollen Sie denn wieder hin?«

Der General schleppte ihn nach der Freitreppe eines nahen Hauses.

»Wo wollen Sie hin? Das ist ein fremdes Haus!«

Der General setzte sich auf die Stufen und zog Kolja immer an der Hand zu sich heran.

»Bücke dich herab, bücke dich herab!« murmelte er. »Ich will dir alles sagen ... die Schande ... bücke dich herab ... mit dem Ohr, mit dem Ohr; ich will es dir ins Ohr sagen ...«

»Aber was ist Ihnen denn?« rief Kolja ganz erschrocken, hielt aber doch sein Ohr hin.

»Le roi de Rome ...«, flüsterte der General, der ebenfalls am ganzen Leib zitterte.

»Was ...? Was haben Sie nur mit Ihrem roi de Rome ...?«

»Ich ... ich ...«, flüsterte der General wieder, indem er sich immer fester an die Schulter seines Sohnes klammerte, »ich ... will ... ich will dir ... alles ... Marja, Marja ... Petrowna Su-su-su ...«

Kolja riß sich los, faßte selbst den General bei den Schultern und blickte ihn wie ein Irrsinniger an. Der Alte wurde dunkelrot; seine Lippen färbten sich bläulich; leichte, krampfhafte Zuckungen liefen über sein Gesicht. Auf einmal bog er sich zusammen und begann sachte in Koljas Arme zu sinken.

»Ein Schlaganfall!« rief dieser über die ganze Straße hin, da er endlich gemerkt hatte, um was es sich handelte.

V

In Wahrheit hatte Warwara Ardalionowna in dem Gespräch mit ihrem Bruder die Zuverlässigkeit ihrer Nachrichten über die Verlobung des Fürsten mit Aglaja Jepantschina ein wenig übertrieben. Vielleicht sah sie als scharfsichtige Frau das, was in naher Zukunft geschehen mußte, vorher; vielleicht hatte sie sich darüber geärgert, daß der schöne Zukunftstraum, an den übrigens sie selbst in Wirklichkeit nicht geglaubt hatte, wie ein Rauch zerflattert war, und mochte sich nun, was ja nur menschlich ist, das Vergnügen nicht versagen, durch Übertreibung des Mißgeschicks noch mehr Gift in das Herz ihres Bruders zu gießen, den sie übrigens aufrichtig liebte und bemitleidete. Aber jedenfalls hatte sie unmöglich von ihren Freundinnen, den Fräulein Jepantschin, so bestimmte Nachrichten erhalten können; es lagen nur Andeutungen, unvollendete Sätze, bedeutsames Stillschweigen und rätselhafte Redewendungen vor. Vielleicht hatten aber Aglajas Schwestern auch absichtlich ein Wörtchen zuviel gesagt, um selbst etwas von Warwara Ardalionowna in Erfahrung zu bringen; möglich war schließlich auch, daß auch sie sich nicht hatten das echt weibliche Vergnügen versagen wollen, ihre Freundin, und wenn es auch eine Freundin aus der Kinderzeit war, ein klein wenig zu foppen; denn in so langer Zeit hatten sie doch notwendigerweise wenigstens ein bißchen von den Absichten der Freundin merken müssen.

Andrerseits hatte sich auch der Fürst vielleicht geirrt, als er, in der Meinung, durchaus die Wahrheit zu sagen, Herrn Lebedjew versicherte, er habe ihm nichts mitzuteilen, und es habe sich mit ihm schlechterdings nichts Besonderes zugetragen. Tatsächlich war mit allen etwas sehr Seltsames vorgegangen: es hatte sich nichts zugetragen und gleichzeitig doch auch gewissermaßen sehr viel zugetragen. Letzteres hatte auch Warwara Ardalionowna mit ihrem zuverlässigen weiblichen Instinkt erraten.

Wie es aber zugegangen war, daß in der Familie Jepantschin alle einmütig auf ein und denselben Gedanken gekommen waren, daß sich nämlich mit Aglaja etwas Wichtiges zugetragen habe und ihr Schicksal sich nun entscheide, dies ordnungsmäßig darzulegen ist sehr schwer. Aber kaum war dieser Gedanke bei allen gleichzeitig aufgeblitzt, als sofort alle zusammen behaupteten, sie hätten das alles schon längst und deutlich vorhergesehen; alles sei schon zur Zeit des »armen Ritters«, ja schon früher klar gewesen, nur hätten sie damals an eine solche Abgeschmacktheit noch nicht glauben mögen. Das versicherten die Schwestern; natürlich hatte auch Lisaweta Prokofjewna früher als alle andern alles vorhergesehen und er kannt, und es hatte ihr schon längst »das Herz weh getan«; aber mochte das nun schon längst der Fall gewesen sein oder nicht, jedenfalls war ihr der Gedanke an den Fürsten jetzt sehr unbehaglich, in der Hauptsache deswegen, weil dieser Gedanke ihre gesamte Denktätigkeit in Verwirrung brachte. Es trat ihr hier eine Frage entgegen, die unverzüglich entschieden zu werden verlangte; aber es war nicht nur die Entscheidung unmöglich, sondern die arme Lisaweta Prokofjewna war trotz aller Bemühungen nicht einmal imstande, die Frage mit völliger Klarheit zu formulieren. Die Sache war sehr schwierig: war der Fürst akzeptabel oder nicht? War diese ganze Geschichte gut oder nicht? Wenn sie nicht gut war (und das unterlag keinem Zweifel), inwiefern war sie dann eigentlich nicht gut? Wenn sie aber vielleicht doch gut war (was ebenfalls im Bereich der Möglichkeit lag), inwiefern war sie dann wieder gut? Das Oberhaupt der Familie selbst, Iwan Fjodorowitsch, war selbstverständlich zuerst höchst erstaunt, gestand dann aber auf einmal, daß auch ihm immer schon so etwas geahnt habe, wenigstens ab und zu. Er verstummte sofort unter dem drohenden Blick seiner Gattin; aber wenn er auch am Vormittag verstummt war, so sah er sich doch am Abend, als er mit seiner Gattin unter vier Augen war, wieder genötigt zu reden und brachte mit besonderer Kühnheit einige überraschende Gedanken zum Ausdruck. Im Grunde, wie stehe die Sache denn ...? (Hier schwieg er eine Weile.) All das sei ja gewiß sehr sonderbar, vorausgesetzt, daß es wahr sei, und er wolle nicht darüber streiten, aber ... (Er schwieg von neuem.) Andrerseits, wenn man die Dinge mit offenen Augen ansehe, sei ja der Fürst wirklich ein prächtiger Bursche, und ... und, und, na, schließlich komme auch ihr Name in Betracht, der Familienname Jepantschin; die Heirat werde sozusagen als eine Hebung dieses in den Augen der Welt niedrig stehenden Namens erscheinen, das heißt, von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, das heißt, weil ... natürlich die Welt; die Welt sei eben die Welt. Der Fürst sei doch auch nicht ohne Vermögen, wenn es auch nicht sehr bedeutend sei. Er habe auch ... auch ... auch ... (Hier schwieg er lange und verstummte endgültig.) Nachdem Lisaweta Prokofjewna diese Äußerungen ihres Gatten angehört hatte, durchbrach ihr Affekt alle Schranken.

Ihrer Meinung nach war alles, was vorgegangen war, ein unverzeihlicher, geradezu verbrecherischer Unsinn, ein dummes, abgeschmacktes Hirngespinst. Erstens sei dieser Jammerfürst ein kranker Idiot, zweitens ein Dummkopf; er kenne weder die Welt, noch besitze er eine Stellung in der Welt; wem solle man ihn präsentieren, wo mit ihm bleiben? Er habe eine ganz unerlaubte demokratische Gesinnung und nicht den geringsten Dienstrang, und ... und ... was werde die alte Bjelokonskaja dazu sagen? Ob sie für Aglaja einen solchen Mann sich ausgemalt, einen solchen Mann in Aussicht genommen hätten? Das letztgenannte Argument war selbstverständlich das wichtigste. Das Herz der Mutter zitterte bei diesem Gedanken und schwamm in Blut und Tränen, wiewohl gleichzeitig im Innern dieses Herzens sich etwas regte und zu ihr sagte: »In welcher Hinsicht ist eigentlich der Fürst kein solcher Schwiegersohn, wie ihr ihn braucht?« Und gerade diese Erwiderungen ihres eigenen Herzens waren es, die der armen Lisaweta Prokofjewna am meisten zu schaffen machten.

Aglajas Schwestern gefiel der Gedanke an den Fürsten nicht übel; ja, dieser Gedanke schien ihnen nicht einmal besonders seltsam; kurz, es war nicht ausgeschlossen, daß sie plötzlich auf die Seite des Fürsten träten. Aber sie entschieden sich beide dafür, zu schweigen. Man hatte in der Familie ein für allemal die Beobachtung gemacht: je eigensinniger und hartnäckiger in einer die ganze Familie betreffenden Streitfrage Lisaweta Prokofjewnas Widerspruch und Widerstand war, um so mehr konnte dies allen als ein Anzeichen dafür dienen, daß sie vielleicht schon mit ihnen in dieser Streitfrage einverstanden war. Übrigens konnte Alexandra Iwanowna sich nicht völlig schweigsam verhalten. Die Mama, von der sie schon seit langer Zeit als Ratgeberin anerkannt war, rief sie jetzt alle Augenblicke zu sich und verlangte ihre Meinung zu hören; namentlich aber mußte Alexandra ihr mit ihrem Gedächtnis aushelfen. Die Mutter fragte zum Beispiel: wie das alles gekommen sei? Warum das niemand gesehen habe? Warum sie damals nicht geredet hätten? Was damals dieser widerwärtige »arme Ritter« zu bedeuten gehabt habe? Warum sie, Lisaweta Prokofjewna, allein dazu verurteilt sei, für alle zu sorgen, auf alles aufzupassen und alles vorauszusehen, während alle übrigen nur Maulaffen feil hielten? usw. usw. Alexandra Iwanowna verfuhr anfangs vorsichtig und bemerkte nur, sie halte Papas Ansicht für ganz richtig, daß in den Augen der Welt die Wahl des Fürsten Myschkin zum Gemahl einer der Jepantschinschen Töchter möglicherweise als eine sehr vernünftige Handlung erscheinen werde. Allmählich redete sie sich in Eifer und fügte hinzu, der Fürst sei überhaupt kein Dummkopf und sei nie ein solcher gewesen, und was die Stellung in der Gesellschaft anlange, so könne noch kein Mensch wissen, was man nach einigen Jahren bei uns in Rußland für die gesellschaftliche Stellung eines anständigen Menschen als notwendig erachten werde, ob die Bekleidung eines höheren Amtes, die bisher für obligatorisch gegolten habe, oder irgend etwas anderes. Zur Antwort auf all diese Bemerkungen begann die Mama sofort zu schelten, Alexandra sei ein Freigeist, und all das komme von der verdammten Frauenfrage her. Eine halbe Stunde darauf begab sie sich in die Stadt und von dort nach der Kamenny-Insel, um die alte Bjelokonskaja zu besuchen, die zufällig gerade in dieser Zeit nach Petersburg gekommen war, aber bald wieder abreisen wollte. Sie war Aglajas Patin.

Die alte Bjelokonskaja hörte Lisaweta Prokofjewnas fieberhafte, verzweifelte Bekenntnisse sämtlich an, ohne sich durch die Tränen der fassungslosen Familienmutter im geringsten rühren zu lassen; ja, sie blickte diese sogar recht spöttisch an. Sie war eine schreckliche Despotin; sie konnte sich nicht dazu verstehen, ihre Freundinnen, mochte auch die Freundschaft noch so alt sein, als ihr gleichstehende Personen zu behandeln, und auf Lisaweta Prokofjewna blickte sie, gerade wie vor dreißig Jahren, immer noch wie auf ihre protégée herab und konnte sich in die Schroffheit und Selbständigkeit des Charakters derselben nicht finden. Sie bemerkte ihr unter anderem, sie schienen da alle nach ihrer ständigen Gewohnheit zu entgegenkommend gewesen zu sein und aus einer Mücke einen Elefanten gemacht zu haben; sie habe sich trotz genauesten Zuhörens nicht davon überzeugen können, daß bei ihnen tatsächlich etwas Ernsthaftes vorgegangen sei; ob es nicht das beste sei, noch ein Weilchen zu warten, bis sich etwas begebe; der Fürst sei nach ihrer Meinung ein anständiger junger Mann, wiewohl er krank, sonderbar und recht unbedeutend sei. Als das Schlimmste müsse betrachtet werden, daß er sich ganz offen eine Geliebte halte. Lisaweta Prokofjewna merkte sehr wohl, daß die alte Bjelokonskaja auf sie ein bißchen ärgerlich war, weil der von ihr warm empfohlene Jewgeni Pawlowitsch bei der Familie nicht reüssiert hatte. Ihre Stimmung war bei der Rückkehr nach Pawlowsk noch gereizter als vor dieser Fahrt, und alle bekamen sofort gehörig etwas ab, namentlich weil sie ganz verrückt geworden seien. In keiner Familie gehe es so zu wie bei ihnen. »Warum habt ihr es denn so eilig gehabt? Was ist denn vorgegangen? Trotz aller Umschau, die ich halte, kann ich nicht finden, daß wirklich etwas vorgegangen wäre! Wartet doch noch ein Weilchen, bis sich etwas begibt! Was ahnt Iwan Fjodorowitsch nicht alles! Aber man darf doch aus einer Mücke nicht gleich einen Elefanten machen«, usw.

Sie kam darauf hinaus, man müsse sich beruhigen, kaltblütig beobachten und abwarten. Aber leider hielt die Ruhe nicht zehn Minuten vor. Der erste Stoß wurde der Kaltblütigkeit durch die Nachrichten über das beigebracht, was sich zugetragen hatte, während die Mama nicht zu Hause, sondern auf der Kamenny-Insel gewesen war (Lisaweta Prokofjewnas Fahrt hatte an dem Tag stattgefunden, an welchem der Fürst, statt um zehn Uhr, um ein Uhr gekommen war). Die Schwestern antworteten auf die ungeduldigen Fragen der Mama sehr ausführlich. Es sei in ihrer Abwesenheit absolut nichts vorgefallen. Der Fürst sei gekommen; Aglaja sei lange, wohl eine halbe Stunde lang, nicht zu ihm hereingekommen; als sie endlich hereingekommen sei, habe sie dem Fürsten sofort eine Partie Schach angeboten; aber vom Schachspiel verstehe der Fürst so gut wie nichts, und Aglaja habe ihn sogleich besiegt; sie sei sehr lustig geworden, habe den Fürsten wegen seiner Unkenntnis arg verspottet und ihn dermaßen ausgelacht, daß er einem habe leid tun können. Dann habe sie ihm den Vorschlag gemacht, mit ihm Karten zu spielen, und zwar Schafskopf. Aber dabei sei das Resultat gerade das umgekehrte gewesen: der Fürst habe bei diesem Spiel eine solche Stärke bewiesen wie ... wie ein Professor dieser Kunst und habe ganz meisterhaft gespielt; Aglaja habe sogar gemogelt und Karten vertauscht und ihm vor seinen Augen Stiche gestohlen; er habe sie aber trotzdem jedesmal zum Schafskopf gemacht, fünfmal hintereinander. Aglaja sei ganz wütend geworden und habe alle Selbstbeherrschung verloren; sie habe dem Fürsten solche Anzüglichkeiten und Unartigkeiten gesagt, daß er nicht mehr gelacht habe; und als sie ihm schließlich gesagt habe, sie würde sich in diesem Zimmer nicht aufhalten, solange er darin sitze, und er müsse sich eigentlich schämen, daß er »nach allem Vorgefallenen« noch zu ihnen gekommen sei, und noch dazu zwischen zwölf und ein Uhr nachts, da sei er ganz blaß geworden. Darauf sei sie hinausgegangen und habe die Tür hinter sich zugeschlagen. Der Fürst sei so traurig wie von einem Begräbnis fortgegangen, obwohl sie ihn auf alle Weise zu trösten gesucht hätten. Auf einmal, ungefähr eine Viertelstunde, nachdem der Fürst weggegangen sei, sei Aglaja von oben nach der Veranda heruntergelaufen gekommen, so eilig, daß sie sich nicht einmal die Augen habe trocknen können, und ihre Augen seien ganz verweint gewesen; heruntergelaufen sei sie aber deswegen, weil Kolja gekommen sei und einen Igel gebracht habe. Sie hätten sich nun alle den Igel besehen; auf ihre Fragen habe Kolja erklärt, der Igel gehöre nicht ihm; er, Kolja, sei mit einem Kameraden, einem andern Gymnasiasten, nämlich Kostja Lebedjew, zusammen ausgegangen, der jetzt auf der Straße geblieben sei und sich geniere hereinzukommen, weil er ein Beil trage; sowohl den Igel als auch das Beil hätten sie soeben von einem ihnen begegnenden Bauern gekauft. Den Igel habe der Bauer ihnen angeboten und fünfzig Kopeken für ihn genommen; das Beil aber hätten sie selbst ihn überredet zu verkaufen, weil es sich gerade gut so getroffen habe, und es sei auch wirklich ein sehr gutes Beil. Nun habe Aglaja angefangen, Kolja mit Bitten zu bestürmen, er möchte ihr sogleich den Igel verkaufen; sie sei ganz außer sich gewesen und habe ihn sogar »lieber Kolja« genannt. Kolja habe lange nicht einwilligen wollen, schließlich aber doch nicht widerstehen können und Kostja Lebedjew hereingerufen, der wirklich mit dem Beil hereingekommen sei und sich sehr verlegen benommen habe. Aber nun habe sich auf einmal herausgestellt, daß der Igel überhaupt nicht ihnen gehöre, sondern einem dritten Knaben, namens Petrow, der ihnen beiden Geld gegeben habe, damit sie für ihn Schlossers Weltgeschichte von einem vierten Knaben käuflich erwürben, der sich in Geldverlegenheit befinde und dieses Werk billig losschlagen wolle; sie seien nun unterwegs gewesen, um Schlossers Weltgeschichte zu kaufen, hätten aber der Verlockung nicht widerstehen können und den Igel gekauft, so daß also sowohl der Igel als auch das Beil Eigentum jenes dritten Knaben seien, dem sie diese beiden Dinge nun an Stelle von Schlossers Weltgeschichte bringen wollten. Aber Aglaja habe ihnen so zugesetzt, daß sie schließlich nachgegeben und ihr den Igel verkauft hätten. Sowie Aglaja den Igel bekommen habe, habe sie ihn sogleich mit Koljas Hilfe in ein geflochtenes Körbchen gesetzt, mit einer Serviette zugedeckt und Kolja gebeten, ihn sogleich, und ohne unterwegs einzukehren, in ihrem Namen zu dem Fürsten zu bringen, mit der Bitte, ihn als »ein Zeichen ihrer größten Hochachtung« anzunehmen. Kolja habe freudig eingewilligt und sein Wort darauf gegeben, daß er ihn hinbefördern werde, aber sofort durchaus von ihr wissen wollen, was ein Igel oder ein ähnliches Geschenk bedeute. Aglaja habe ihm geantwortet, das gehe ihn nichts an. Er habe erwidert, er sei überzeugt, daß eine Symbolik dahinterstecke. Aglaja sei ärgerlich geworden und habe ihm in scharfem Ton geantwortet, er sei ein dummer Junge und weiter nichts. Kolja habe ihr sofort versetzt, wenn er nicht in ihr die Frau achtete und außerdem seine festen Grundsätze hätte, so würde er ihr auf der Stelle beweisen, daß er auf solche Beleidigungen sehr wohl zu antworten verstehe. Die Sache hätte übrigens damit geendet, daß Kolja doch mit Begeisterung davongegangen wäre, um den Igel hinzubringen, und Kostja Lebedjew hinter ihm hergelaufen wäre. Als Aglaja gesehen habe, daß Kolja mit dem Körbchen zu sehr schlenkerte, habe sie sich nicht enthalten können, ihm von der Veranda aus nachzurufen: »Bitte, liebster Kolja, lassen Sie ihn nicht hinausfallen!«, als ob sie sich nicht kurz vorher mit ihm gezankt hätte; Kolja sei stehengeblieben und habe, ebenfalls als ob er sich nicht mit ihr gezankt gehabt hätte, mit der größten Dienstbeflissenheit zurückgerufen: »Ich werde ihn schon nicht hinausfallen lassen, Aglaja Iwanowna; seien Sie ganz unbesorgt!« und sei wieder spornstreichs weitergelaufen.

Aglaja habe hierauf furchtbar gelacht, sei höchst zufrieden auf ihr Zimmer gelaufen und dann den ganzen Tag über sehr lustig gewesen.

Durch diese Nachricht wurde Lisaweta Prokofjewna geradezu betäubt. Man könnte meinen: was war denn an der ganzen Sache daran? Aber sie war nun einmal in eine solche Stimmung hineingeraten. Ihre Unruhe stieg nun auf den höchsten Grad, und die Hauptsache war der Igel; was bedeutete der Igel? Was steckte da dahinter? Was hatte das für einen geheimen Sinn? Was war das für ein verabredetes Zeichen, was für ein Telegramm? Dazu kam noch, daß der arme Iwan Fjodorowitsch, der zufällig bei dem Verhör zugegen war, durch eine von ihm gegebene Antwort die ganze Sache vollständig verdarb. Seiner Meinung nach war von einem Telegramm dabei überhaupt nicht die Rede, sondern der Igel sei einfach ein Igel, weiter nichts, und bedeute vielleicht außerdem Freundschaft, Vergessen der Kränkungen, Versöhnung; kurz, das Ganze sei ein mutwilliger Streich, aber jedenfalls ein harmloser und verzeihlicher.

In Parenthese bemerken wir, daß er damit durchaus das Richtige getroffen hatte. Als der Fürst, von Aglaja verhöhnt und weggejagt, nach Hause zurückgekehrt war, hatte er schon eine halbe Stunde in der düstersten Verzweiflung dagesessen, als auf einmal Kolja mit dem Igel erschien. Sofort klärte sich der Himmel auf; der Fürst erstand gleichsam wieder von den Toten; er fragte Kolja aus, klammerte sich an jedes Wort, das er sagte, erkundigte sich zehnmal nach derselben Sache, lachte wie ein Kind und drückte den beiden lachenden und ihn vergnügt anblickenden Knaben alle Augenblicke die Hände. Es war also klar, daß Aglaja verzieh und der Fürst gleich heute abend wieder zu ihr gehen konnte, und das war für ihn nicht nur die Hauptsache, sondern geradezu alles. »Was sind wir noch für Kinder, Kolja! Und ... und wie gut, daß wir noch Kinder sind!« rief er endlich entzückt aus.

»Es ist ganz einfach: sie ist in Sie verliebt, Fürst; weiter nichts!« antwortete Kolja nachdenklich mit der Miene eines Sachverständigen.

Der Fürst wurde dunkelrot, erwiderte aber diesmal kein Wort; Kolja aber lachte nur und klatschte in die Hände; einen Augenblick darauf fing auch der Fürst an zu lachen, und dann sah er bis zum Abend alle fünf Minuten nach der Uhr, ob schon viel Zeit vergangen sei, und wieviel noch bis zum Abend übrig sei.

Aber für Lisaweta Prokofjewna war die Erregung doch zu stark; sie konnte schließlich keinen Widerstand mehr leisten und überließ sich ihren hysterischen Empfindungen. Trotz aller Einwände ihres Gatten und ihrer Töchter ließ sie unverzüglich Aglaja rufen, um ihr die entscheidende Frage vorzulegen und von ihr eine klare, entscheidende Antwort zu erhalten. »Die ganze Geschichte soll mit einemmal ein Ende nehmen«, erklärte sie; »wir müssen die Last von den Schultern los werden, so daß künftig gar nicht mehr davon gesprochen wird! Sonst erlebe ich diesen Abend nicht mehr!« Erst in diesem Augenblick merkten alle, wie unsinnig weit sie die Sache hatten kommen lassen. Aber außer gekünstelter Verwunderung und Entrüstung sowie spöttischem Lachen über den Fürsten und alle Fragenden war von Aglaja nichts zu erlangen. Lisaweta Prokofjewna legte sich ins Bett und erschien erst zum Tee wieder, zu der Zeit, wo der Fürst erwartet wurde. Sie erwartete den Fürsten mit großer Unruhe, und als er erschien, bekam sie beinahe wieder einen hysterischen Anfall.

Aber auch der Fürst selbst trat schüchtern ein, sozusagen tastend; er lächelte seltsam, blickte allen in sonderbarer Art in die Augen und legte allen gewissermaßen eine Frage vor, weil Aglaja wieder nicht im Zimmer war, was ihn sofort beunruhigte. An diesem Abend war kein Fremder zugegen, sondern nur die Mitglieder der Familie. Fürst Schtsch. war noch in Petersburg, anläßlich der Angelegenheit von Jewgeni Pawlowitschs Onkel. »Wenn doch wenigstens der da wäre und etwas redete!« dachte Lisaweta Prokofjewna bekümmert. Iwan Fjodorowitsch saß mit sehr sorgenvoller Miene da; die Schwestern waren ernsthaft und schweigsam wie absichtlich. Lisaweta Prokofjewna wußte nicht, womit sie ein Gespräch anfangen sollte. Endlich begann sie kräftig auf die Eisenbahn zu schimpfen und sah dabei den Fürsten herausfordernd an.

Aglaja erschien leider immer noch nicht, und dem Fürsten sank der Mut. Stammelnd und verwirrt versuchte er seine Meinung dahin auszusprechen, daß Reparaturen der Strecke allerdings sehr nützlich sein würden; aber Adelaida brach plötzlich in ein Gelächter aus, und der Fürst war wieder wie vernichtet. In demselben Augenblick trat Aglaja herein, ruhig und würdevoll; sie erwiderte zeremoniös die Verbeugung des Fürsten und setzte sich feierlich auf den sichtbarsten Platz an dem runden Tisch. Sie blickte den Fürsten fragend an. Alle sagten sich, daß der Augenblick gekommen sei, wo alle unklaren Fragen ihre Entscheidung finden sollten.

»Haben Sie meinen Igel erhalten?« fragte sie ihn mit fester Stimme und beinah zornig.

»Ja, ich habe ihn erhalten«, antwortete der Fürst errötend und in ängstlicher Spannung.

»Sagen Sie unverzüglich, was Sie darüber denken! Das ist zu Mamas und unserer ganzen Familie Beruhigung unumgänglich notwendig.«

»Hör mal, Aglaja ...«, begann der General beunruhigt.

»Das überschreitet ja alle Grenzen!« rief Lisaweta Prokofjewna erschrocken.

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