Loe raamatut: «Fjodor Dostojewski: Hauptwerke», lehekülg 81
Zehntes Kapitel
I
Ich erwachte gegen halb elf und wollte lange Zeit meinen Augen nicht trauen: auf dem Sofa, auf dem ich am vorhergehenden Abend eingeschlafen war, saß meine Mutter und neben ihr die unglückliche Nachbarin, die Mutter der Selbstmörderin. Sie hatten einander an den Händen gefaßt und redeten flüsternd, wahrscheinlich um mich nicht aufzuwecken, und beide weinten. Ich stand vom Bett auf und ging geradeswegs zu meiner Mutter hin, um sie zu küssen. Ihr ganzes Gesicht strahlte auf, sie küßte mich und bekreuzigte mich dreimal mit der rechten Hand. Wir hatten noch nicht Zeit gehabt, ein Wort zueinander zu sagen, als die Tür aufging und Wersilow und Wassin hereinkamen. Mama stand sofort auf und führte die Nachbarin mit sich hinaus. Wassin reichte mir die Hand, aber Wersilow sagte kein Wort zu mir und setzte sich auf einen Lehnstuhl. Er und Mama waren anscheinend schon seit einiger Zeit da. Sein Gesicht war finster und sorgenvoll.
»Am meisten tut es mir leid«, begann er langsam zu Wassin, offenbar in Fortsetzung eines angefangenen Gesprächs, »daß ich nicht dazu gekommen bin, diese ganze Sache noch gestern abend in Ordnung zu bringen; wahrscheinlich hätte dann dieses schreckliche Ereignis nicht stattgefunden! Und die Zeit hätte noch ausgereicht: es war noch nicht acht Uhr. Kaum war sie gestern von uns weggelaufen, da kam mir sofort der Gedanke, ihr hierher zu folgen und sie umzustimmen, aber diese unvorhergesehene, unaufschiebbare Sache, die ich übrigens sehr wohl hätte bis heute aufschieben können ... sogar eine Woche – diese ärgerliche Sache hat alles verhindert und alles verdorben. So geht es nun einmal!«
»Vielleicht wäre es Ihnen doch nicht gelungen, sie umzustimmen; da war auch schon ohne Sie so vieles ins Brennen und Sieden geraten«, bemerkte Wassin obenhin.
»Nein, es wäre mir gelungen, es wäre mir sicher gelungen. Und es fuhr mir auch der Gedanke durch den Kopf, statt selbst hinzugehen, Sofja Andrejewna hinzuschicken. Aber das war nur so ein flüchtiger Einfall. Wenn Sofja Andrejewna allein hergekommen wäre, hätte sie sie zur Vernunft gebracht, und die Unglückliche wäre am Leben geblieben. Nein, nie wieder werde ich mich ... auf ›gute Taten‹ einlassen ... Und nur ein einziges Mal in meinem Leben habe ich mich darauf eingelassen! Und ich hatte gedacht, ich wäre noch nicht antiquiert und hätte Verständnis für die moderne Jugend. Aber kaum ist unsereiner reif geworden, so ist er auch schon rückständig. Beiläufig bemerkt, es gibt ja tatsächlich heutzutage außerordentlich viele Menschen, die sich gewohnheitsmäßig immer noch zur jungen Generation rechnen, weil sie noch gestern dazu gehörten, und die gar nicht merken, daß sie schon altes Eisen geworden sind.«
»Es hat hier ein Mißverständnis stattgefunden, ein ganz offenbares Mißverständnis«, bemerkte Wassin verständig. »Ihre Mutter sagt, es scheine, daß sie nach der schrecklichen Beleidigung in dem Bordell die gesunde Urteilskraft verloren habe. Nehmen Sie alle Umstände hinzu, die erste Beleidigung durch den Kaufmann ... all das hätte sich genau ebenso auch in früheren Zeiten ereignen können und ergibt meines Erachtens keineswegs ein der jetzigen Jugend besonders eigenes Charakteristikum.«
»Ein bißchen ungeduldig ist sie schon, die heutige Jugend, ganz abgesehen natürlich von dem geringen Verständnis für die Wirklichkeit, das allerdings der Jugend aller Zeiten eigen ist, aber doch der heutigen in besonders hohem Grade ... Sagen Sie, was hat eigentlich Herr Stebelkow hier angestellt?«
»Herr Stebelkow«, mischte ich mich auf einmal ins Gespräch, »ist an allem schuld. Wenn er nicht gewesen wäre, würde nichts passiert sein. Er hat Öl ins Feuer gegossen.«
Wersilow hörte aufmerksam zu, aber ohne mich anzusehen. Wassin machte ein finsteres Gesicht.
»Ich mache mir auch wegen eines lächerlichen Umstandes Vorwürfe«, fuhr Wersilow fort, indem er wie vorher ohne Eile sprach und die Worte dehnte. »Es scheint, daß ich nach meiner schlechten Gewohnheit mir damals ihr gegenüber eine gewisse Lustigkeit erlaubte, so ein leichtfertiges Lachen, kurz, daß ich nicht scharf, trocken und finster genug gewesen bin, drei Eigenschaften, die ja wohl auch von der heutigen jungen Generation sehr hoch bewertet werden. Kurz, ich habe ihr Anlaß gegeben, mich für einen vagierenden Scladon zu halten.«
»Ganz im Gegenteil«, fiel ich wieder in entschiedenem Ton ein, »die Mutter versichert ausdrücklich, daß Sie gerade durch Ihr ernstes, sogar strenges Wesen und durch Ihre Offenheit – das sind ihre eigenen Worte – einen vorzüglichen Eindruck gemacht haben. Die Verstorbene selbst hat Sie, als Sie weggegangen waren, in diesem Sinne gelobt.«
»Ja-a?« murmelte Wersilow und warf mir endlich einen flüchtigen Blick zu. »Nehmen Sie diesen Zettel; er wird für die Erledigung der Angelegenheit notwendig sein«, sagte er und reichte Wassin ein winziges Stück Papier hin. Dieser nahm es, und da er sah, daß ich neugierig hinblickte, gab er es mir zum Durchlesen. Es waren nur zwei unregelmäßige Zeilen, mit Bleistift gekritzelt, vielleicht im Dunkeln:
»Liebes Mamachen, verzeihen Sie mir, daß ich mein Lebensdebüt abgebrochen habe. Ihre Sie betrübende Olga.«
»Das ist erst am Vormittag gefunden worden«, fügte Wassin zur Erklärung hinzu.
»Was für ein sonderbares Schriftstück!« rief ich erstaunt.
»Wieso sonderbar?« fragte Wassin.
»Kann man denn in einem solchen Augenblick in humoristischen Ausdrücken schreiben?«
Wassin sah mich fragend an.
»Und es ist auch ein sonderbarer Humor«, fuhr ich fort, »ein Gymnasiastenjargon, wie er unter Schulkameraden gebräuchlich ist... Na, wer kann in einem solchen Augenblick und in einem solchen Schreiben an die unglückliche Mutter – und sie hat ihre Mutter doch offenbar geliebt – schreiben:›Ich habe mein Lebensdebüt abgebrochen‹?«
»Warum soll man das nicht schreiben können?« fragte Wassin, der noch immer nicht verstand.
»Humor steckt da überhaupt nicht darin«, bemerkte Wersilow endlich. »Der Ausdruck ist natürlich nicht passend, hat durchaus nicht den richtigen Ton und könnte tatsächlich aus dem Gymnasiastenjargon oder aus irgendeinem Feuilleton herstammen, aber die Verstorbene hat den falschen Ton sicher nicht bemerkt, und glaube mir, sie hat den Ausdruck in diesem schrecklichen Schriftstück ganz schlicht und ernsthaft verwendet.«
»Das ist nicht möglich; sie hat das Gymnasium absolviert und beim Abgang eine silberne Medaille bekommen.«
»Die silberne Medaille hat damit nichts zu tun. Die erhalten heutzutage viele beim Abgang.«
»Das zielt wieder auf die Jugend«, bemerkte Wassin lächelnd.
»Durchaus nicht«, erwiderte Wersilow, indem er sich von seinem Platz erhob und seinen Hut nahm. »Wenn die heutige Generation keine besonders große literarische Bildung besitzt, so besitzt sie dafür ohne Zweifel... andere Vorzüge«, fügte er mit ungewöhnlichem Ernst hinzu. »Außerdem sind ›viele‹ nicht ›alle‹; Ihnen zum Beispiel mache ich nicht den Vorwurf mangelhafter literarischer Bildung, und Sie sind doch auch noch ein junger Mensch.«
»Und Wassin hat ja auch an dem ›Debüt‹ nichts Schlechtes gefunden«, konnte ich mich nicht enthalten zu bemerken.
Wersilow reichte Wassin schweigend die Hand; dieser griff ebenfalls nach seiner Mütze, um mit ihm zusammen fortzugehen, und rief mir zu: »Auf Wiedersehen!« Wersilow ging hinaus, ohne sich um mich zu kümmern. Auch ich hatte keine Zeit zu verlieren: ich mußte schleunigst laufen und mir ein Zimmer mieten, das war jetzt notwendiger als je zuvor! Mama war nicht mehr bei der Wirtin, sie war weggegangen und hatte die Nachbarin mitgenommen. Ich trat in besonders munterer Stimmung auf die Straße hinaus... Ein neues, großes Gefühl war in meiner Seele erwacht. Und dazu kam noch, daß mir alles glückte, als wäre es vorausberechnet: es gelang mir außerordentlich schnell, eine mir völlig zusagende Wohnung zu finden; von dieser Wohnung will ich später noch reden, jetzt werde ich zuerst die Hauptsache zu Ende erzählen.
Es war eben erst etwas nach eins, als ich wieder zu Wassin zurückkehrte, um meinen Koffer zu holen; es traf sich gut, daß er wieder zu Hause war. Als er mich erblickte, rief er mit froher, offener Miene:
»Wie freue ich mich, daß Sie mich noch getroffen haben; ich wollte eben wieder weggehen! Ich kann Ihnen ein Ereignis mitteilen, das, wie ich meine, Sie sehr interessieren wird.«
»Davon bin ich im voraus überzeugt!« rief ich.
»Ei, wie munter und frisch Sie aussehen! Sagen Sie mal, haben Sie nichts von einem gewissen Brief gewußt, den Krafft in Verwahrung hatte und der gestern in Wersilows Hände gelangt ist, ein Brief, der sich auf die von ihm gewonnene Erbschaft bezieht? In diesem Brief erklärt der Erblasser seinen Willen in einem der gestrigen Gerichtsentscheidung entgegengesetzten Sinn. Der Brief ist schon vor langer Zeit geschrieben. Kurz, ich weiß nichts Genaueres darüber, aber wissen Sie nichts davon?«
»Selbstverständlich weiß ich. Gerade zu diesem Zweck hat mich Krafft vorgestern in seine Wohnung mitgenommen... von jenen Herren weg, um mir diesen Brief einzuhändigen, und ich habe ihn gestern Wersilow übergeben.«
»Ja? So hatte ich es mir auch gedacht. Denken Sie sich nur, die Sache, von der Wersilow vorhin hier sagte, daß sie ihn gestern abend verhindert habe, hierherzukommen und dieses junge Mädchen umzustimmen, diese Sache war gerade eine Folge dieses Briefes. Wersilow hat sich gleich gestern abend geradeswegs zu dem Rechtsanwalt des Fürsten Sokolskij begeben, ihm diesen Brief überreicht und auf die ganze Erbschaft, die er gewonnen hatte, verzichtet. In diesem Augenblick ist dieser Verzicht schon in die gesetzliche Form gebracht. Wersilow schenkt nicht, sondern erkennt in diesem Schriftstück das volle Recht der Fürsten an.«
Ich stand starr da, aber ich war entzückt. Ich war tatsächlich vollkommen davon überzeugt gewesen, daß Wersilow den Brief vernichten würde. Allerdings hatte ich zu Krafft gesagt, daß das unedel wäre, und hatte das für mich allein in dem Wirtshaus wiederholt und mir gesagt, daß ich ›zu einem sittlich reinen Menschen hergereist war, nicht zu diesem‹, – aber noch mehr für mich allein, das heißt im tiefsten Innern meiner Seele, war ich doch der Meinung gewesen, daß man gar nichts anderes tun könne, als das Schriftstück vollständig vernichten. Das heißt, ich hatte das für das allergewöhnlichste Ding von der Welt gehalten. Und wenn ich auch Wersilow nachher deswegen beschuldigt hätte, so hätte ich das nur in einer besonderen Absicht getan, nur zum Schein, nämlich um ihm gegenüber meinen höheren sittlichen Standpunkt zu behaupten. Aber als ich jetzt von Wersilows edler Tat hörte, geriet ich in das höchste, aufrichtigste Entzücken und verurteilte voll Reue und Scham meinen Zynismus und meine Gleichgültigkeit gegenüber der Tugend und stellte Wersilow moralisch hoch über mich: ich hätte Wassin beinahe umarmt.
»Was für ein Mensch! Was für ein Mensch! Welcher andere hätte das getan?« rief ich in meinem Freudenrausch.
»Ich stimme Ihnen darin bei, daß das nur sehr wenige getan hätten... und daß das unstreitig eine höchst uneigennützige Handlung ist...«
»Aber?... Sprechen Sie zu Ende, Wassin; Sie haben ein ›aber‹?«
»Ja, ein ›aber‹ habe ich allerdings; Wersilows Handlung ist meines Erachtens etwas zu hastig und nicht ganz ohne einen Hintergedanken«, antwortete Wassin lächelnd.
»Nicht ohne einen Hintergedanken?«
»Ja. Es spielt dabei eine Art von ›Piedestal‹ mit. Denn es wäre jedenfalls möglich gewesen, dasselbe zu tun, ohne sich selbst so stark zu schädigen. Auch jetzt hätte Wersilow, selbst bei der penibelsten Auffassung der Sache, wenn nicht die Hälfte, so doch unzweifelhaft einen Teil der Erbschaft für sich behalten können, um so mehr, als das Schriftstück keine entscheidende Bedeutung hat und der Prozeß bereits zu seinen Gunsten entschieden ist. Dieser Meinung ist auch der Anwalt der Gegenpartei selbst; ich habe soeben mit ihm gesprochen. Die Handlung würde ebenso schön bleiben, aber einzig und allein aus einer Anwandlung von Stolz hat Herr Wersilow es anders gemacht. Die Hauptsache ist: er ist ein bißchen hitzig geworden und hat sich übermäßig beeilt; er hat ja selbst vorhin gesagt, daß er die Sache eine Woche hätte aufschieben können ...«
»Wissen Sie was, Wassin? Ich kann nicht umhin, Ihnen zuzustimmen, aber... so ist es mir doch lieber! So gefällt es mir besser!«
»Nun, das ist Geschmackssache. Sie selbst haben mich zu einer Meinungsäußerung veranlaßt, sonst hätte ich geschwiegen.«
»Selbst wenn dabei ein ›Piedestal‹ mitspielt, auch dann ist es mir so lieber«, fuhr ich fort, »ein Piedestal ist ja zwar ein Piedestal, aber doch an und für sich etwas sehr Wertvolles. Dieses ›Piedestal‹ ist ja doch auch ein Stück Idealismus, und es ist kaum ein besserer Zustand, daß dieser heutzutage in mancher Seele nicht vorhanden ist: mag er auch mit einem kleinen Auswuchs behaftet sein, wenn er nur da ist! Und gewiß denken Sie auch selbst so. Wassin, liebster Wassin, bester Wassin! Kurz, ich rede natürlich lauter Unsinn zusammen, aber Sie verstehen mich ja doch. Dafür sind Sie eben Wassin, und jedenfalls will ich Sie umarmen und küssen, Wassin!«
»Vor Freude?«
»Ja, vor großer Freude! Denn dieser Mensch ›war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wiedergefunden worden‹. Wassin, ich bin ein törichter Junge und Ihrer nicht wert. Und eben deswegen gestehe ich, daß ich in manchen Augenblicken ein ganz anderer bin, höher und tiefer. Dafür, daß ich Sie vorgestern ins Gesicht gelobt hatte (das hatte ich aber nur getan, weil andere mich erniedrigt und herabgedrückt hatten), dafür habe ich Sie zwei ganze Tage lang gehaßt! Ich hatte mir gleich in jener Nacht vorgenommen, niemals zu Ihnen zu gehen, und bin gestern vormittag nur aus Bosheit zu Ihnen gekommen, verstehen Sie wohl, aus Bosheit. Ich saß hier allein auf dem Stuhl und kritisierte Ihr Zimmer und Sie und jedes Ihrer Bücher und Ihre Wirtin und gab mir Mühe, Sie zu erniedrigen und über Sie zu lachen ...«
aus Bosheit
»Das braucht man aber doch nicht zu sagen ...«
»Gestern abend schloß ich aus einer Ihrer Bemerkungen, daß Sie die Frauen nicht verstehen, und freute mich, daß ich Sie bei einem solchen Mangel ertappt hatte. Und vorhin, als ich Sie bei einer falschen Würdigung des Ausdrucks ›Debüt‹ erwischte – da freute ich mich wieder furchtbar, und das alles deswegen, weil ich selbst Sie damals gelobt hatte.«
»Ja, warum denn aber auch nicht?« rief Wassin endlich (er hatte immerzu gelächelt, ohne sich über mich im geringsten zu wundern). »Das kommt ja fortwährend vor, fast bei allen Menschen, und ist etwas ganz Gewöhnliches, nur gesteht es niemand ein, und es ist auch gar nicht nötig, daß man es eingesteht, weil dieses Gefühl in jedem Falle vorübergeht und keine weiteren Folgen hat.«
»Ist es wirklich bei allen Menschen so? Sind alle Menschen von der Art? Und Sie sagen das mit solcher Seelenruhe? Aber mit einer solchen Anschauung kann man doch nicht leben!«
»Nach Ihrer Meinung müßte es heißen:
›Den Irrtum, dessen Trug zum Himmel mich entzückt,
Zieh ich der Wahrheit vor, die mich zu Boden drückt‹?«
»Aber das ist ja doch wahr!« rief ich. »In diesen zwei Versen liegt ja ein heiliges Lebensprinzip beschlossen!«
»Ich weiß nicht; ich möchte nicht entscheiden, ob diese beiden Verse die Wahrheit sagen oder nicht. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit wie überall irgendwo in der Mitte: das heißt, in einem Fall ist es heilige Wahrheit und in einem anderen Unwahrheit. Mit Sicherheit weiß ich nur eines: daß dieser Gedanke noch lange einer der wichtigsten Streitpunkte unter den Menschen sein wird. Jedenfalls bemerke ich, daß Sie jetzt Lust haben zu tanzen. Nun schön, dann tanzen Sie doch: Bewegung ist gesund, und mir hat man gerade heute vormittag furchtbar viel Arbeit aufgepackt ... und ich habe mich mit Ihnen schon zu lange aufgehalten!«
»Ich gehe, ich gehe, ich mache, daß ich fortkomme! Nur noch ein Wort!« rief ich, indem ich schon nach meinem Koffer griff. »Wenn ich mich jetzt eben Ihnen wieder ›an den Hals geworfen‹ habe, so habe ich das nur deshalb getan, weil Sie mir, als ich hereinkam, mit so aufrichtigem Vergnügen dieses Ereignis mitteilten und ›sich freuten‹, daß ich Sie noch zu Hause getroffen hatte, und noch dazu nach der Geschichte von vorhin mit dem ›Debüt‹; durch dieses aufrichtige Vergnügen haben Sie mit einem Schlag mein ›junges Herz‹ wieder zu Ihren Gunsten umgestimmt. Na, leben Sie wohl, leben Sie wohl; ich werde mich bemühen, möglichst lange nicht wieder herzukommen, und weiß, daß Ihnen das sehr angenehm sein wird; das sehe ich Ihnen sogar an den Augen an, und das wird sogar für uns beide vorteilhaft sein ...«
Während ich so schwatzte und mich vor Eifer und Freude fast verschluckte, schleppte ich meinen Koffer hinaus und begab mich dann mit ihm nach meiner neuen Wohnung. Vor allem gefiel mir sehr, daß Wersilow vorhin zweifellos auf mich böse gewesen war und weder mit mir hatte reden noch mich ansehen wollen. Nachdem ich meinen Koffer hintransportiert hatte, eilte ich gleich zu meinem alten Fürsten. Ich muß gestehen, es war mir diese zwei Tage über ordentlich schwergefallen, den Verkehr mit ihm entbehren zu müssen. Auch über Wersilow hatte er gewiß schon etwas gehört.
II
Ich hatte es ja gewußt, daß er sich über mein Kommen ungeheuer freuen würde, und ich versichere, daß ich auch ohne die Wersilowsche Sache an diesem Tag zu ihm gegangen wäre. Es hatte mich an diesem und dem vorhergehenden Tag nur der Gedanke geängstigt, ich könnte dort am Ende mit Katerina Nikolajewna zusammentreffen; aber jetzt fürchtete ich mich vor nichts mehr.
Er umarmte mich voller Freude.
»Nun, und Wersilow! Haben Sie es schon gehört?« fing ich direkt mit der Hauptsache an.
»Cher enfant, mein lieber Freund, das ist so großartig, das ist so edel – kurz, sogar auf Kilian« (das war der Beamte unten) »hat es einen erschütternden Eindruck gemacht! Es ist ja unverständig von seiner Seite, aber eine glänzende Sache, eine große Tat! Den Idealismus muß man bewundern!«
»Nicht wahr? Nicht wahr? Darin sind wir beide, Sie und ich, immer einer Meinung gewesen.«
»Mein Lieber, wir beide sind immer einer Meinung gewesen. Wo warst du denn so lange? Ich wäre bestimmt selbst zu dir gefahren, aber ich wußte nicht, wo du zu finden warst... Denn zu Wersilow konnte ich doch nicht kommen... Jetzt allerdings, nach allem, was geschehen ist... Weißt du, mein Freund: gerade durch solche Handlungen hat er, wie mir scheint, auch die Frauen besiegt, gerade durch diesen Charakterzug, das ist unzweifelhaft...«
»Übrigens, um es nicht zu vergessen, ich habe es eigens für Sie im Kopf behalten. Gestern hat ein elender Possenreißer, als er mir ins Gesicht auf Wersilow schimpfte, über ihn gesagt, er sei ein ›Weiberprophet‹; was sagen Sie zu diesem Ausdruck? Ich habe ihn für Sie im Kopf behalten...«
»›Ein Weiberprophet‹! Mais ... c'est charmant! Haha! Aber das paßt so gut auf ihn, das heißt, es paßt durchaus nicht – pfui!... Aber es ist so treffend... das heißt, treffend ist es ganz und gar nicht, aber ...«
»Lassen Sie es gut sein, lassen Sie es gut sein; Sie brauchen nicht verlegen zu werden, betrachten Sie es lediglich als Bonmot!«
»Ein vorzügliches Bonmot, und, weißt du, es hat einen sehr tiefen Sinn... Ein durchaus richtiger Gedanke! Das heißt, wirst du es glauben... Kurz, ich will dir ein ganz kleines Geheimnis mitteilen. Hast du damals diese Olimpiada betrachtet? Kannst du es glauben, daß sie ein bißchen Herzweh um Andrej Petrowitsch hat, und zwar dermaßen, daß sie sich sogar, wie ich glaube, etwas Hoffnung macht...«
»Sie macht sich Hoffnung! Vielleicht würde ihr das hier recht sein?« rief ich empört und machte eine unanständige Handbewegung.
»Mon cher, schrei nicht so; das ist nun einmal so, und du hast am Ende von deinem Standpunkt aus recht. Übrigens, mein Freund, was war denn mit dir das vorige Mal, als Katerina Nikolajewna hier war? Du schwanktest ja ... ich dachte schon, du würdest fallen, und wollte schon zuspringen, um dich zu halten.«
»Davon ein andermal! Na, kurz, ich wurde einfach verlegen, aus einem gewissen Grund...«
»Du bist auch jetzt rot geworden.«
»Na, Sie müssen auch gleich wer weiß was daraus machen! Sie wissen doch, daß sie mit Wersilow verfeindet ist... na, und diese ganze Geschichte, na, und da geriet ich in Aufregung – ach was, lassen wir das, ein andermal!«
»Lassen wir es, lassen wir es; ich bin selbst froh, wenn ich das alles ruhen lassen kann... Kurz, ich habe ihr schweres Unrecht zugefügt und habe sogar, erinnerst du dich, damals im Gespräch mit dir auf sie gescholten... Vergiß das, mein Freund; auch sie wird ihre Meinung über dich ändern, das fühle ich mit Bestimmtheit voraus... Aber da ist ja auch Fürst Serjosha!«
Ein junger, schöner Offizier trat ins Zimmer. Ich betrachtete ihn mit lebhaftem Interesse, denn ich hatte ihn vorher noch nie gesehen. Das heißt, ich sage ›schön‹, wie das alle von ihm sagten, aber es lag in diesem jungen, schönen Gesicht etwas, was nicht gerade anziehend wirkte. Ich erwähne das als den Eindruck, den ich im allerersten Augenblick, beim ersten Blick auf ihn hatte und der mir für immer geblieben ist. Er war mager, vorzüglich gewachsen, dunkelblond und hatte einen frischen, wenn auch ein wenig gelblichen Teint und einen entschlossenen Blick. Seine schönen, dunklen Augen blickten etwas finster, selbst wenn er sich in ganz ruhiger Gemütsstimmung befand. Aber sein entschlossener Blick stieß gerade deshalb ab, weil man irgendwie das Gefühl hatte, daß diese Entschlossenheit ihn recht wenig kostete. Übrigens verstehe ich mich nicht auszudrücken ... Allerdings besaß sein Gesicht die Fähigkeit, sich auf einmal aus einem finsteren in ein erstaunlich freundliches, sanftes und zärtliches zu verwandeln, und zwar, was das wichtigste war, bei unbezweifelbarer Aufrichtigkeit der Verwandlung. Diese Aufrichtigkeit war es eben, die so anziehend wirkte. Ich möchte noch einen Charakterzug von ihm anführen: trotz aller Freundlichkeit und Aufrichtigkeit wurde dieses Gesicht nie lustig, selbst nicht, wenn der Fürst aus vollem Herzen lachte; man fühlte doch immer, daß eine echte, helle, leichte Lustigkeit nie sein Herz erfüllte... Übrigens ist es sehr schwer, eine Persönlichkeit so zu beschreiben. Ich verstehe das absolut nicht. Der alte Fürst beeilte sich nach seiner dummen Gewohnheit sofort, uns miteinander bekannt zu machen.
»Das ist mein junger Freund Arkadij Andrejewitsch« (wieder Andrejewitsch!) »Dolgorukij.«
Der junge Fürst wandte sich sofort mit doppelt liebenswürdigem Gesichtsausdruck zu mir hin, aber es war offensichtlich, daß ihm mein Name ganz unbekannt war.
»Er ist... ein Verwandter von Andrej Petrowitsch«, murmelte mein schrecklicher Fürst. (Was für Ärger einem diese alten Herren oft mit ihren Angewohnheiten machen!) Der junge Fürst erriet sogleich, wie sich die Sache verhielt.
»Ach! Ich habe schon vor längerer Zeit von Ihnen gehört ...«, sagte er schnell. »Ich hatte das außerordentliche Vergnügen, im vorigen Jahre in Luga die Bekanntschaft Ihrer Schwester Lisaweta Makarowna zu machen... Sie hat mir ebenfalls von Ihnen erzählt...«
Ich war ganz erstaunt: auf seinem Gesicht strahlte eine durchaus aufrichtige Freude.
»Erlauben Sie, Fürst«, sagte ich stockend, während ich meine beiden Hände auf den Rücken legte, »ich muß Ihnen aufrichtig sagen - und es freut mich, daß ich es Ihnen in Gegenwart unseres lieben Fürsten sagen kann -, daß ich sogar den Wunsch hatte, mit Ihnen zusammenzutreffen; und zwar hatte ich diesen Wunsch noch kürzlich, erst gestern noch, aber freilich in einer ganz anderen Absicht. Ich sage das geradeheraus, mögen Sie sich auch noch so sehr darüber wundern. Kurz, ich wollte Sie wegen der Beleidigung, die Sie vor anderthalb Jahren Wersilow in Ems zugefügt haben, zum Duell fordern. Und obwohl ich mir natürlich sagte, daß Sie meine Forderung vielleicht nicht annehmen würden, weil ich eben erst das Gymnasium verlassen habe und noch ein junger Mensch bin, so hätte ich die Forderung dennoch an Sie gerichtet, ganz gleich, wie Sie sie aufgenommen und was Sie darauf getan hätten... und ich muß gestehen, ich habe auch jetzt noch dieselbe Absicht.«