Der Heilige mit der roten Schnur

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Der Heilige mit der roten Schnur
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© Valeriu Cătălineanu

FLAVIUS ARDELEAN, *1985 in Braşov, ist ein rumänischer Fantastikautor und Übersetzer aus dem Deutschen und Englischen. Er ist Mitglied der Horror Writers Association und Drummer in verschiedenen Rockbands. Für seine Romane wurde er zweifach mit dem rumänischen Colin Award für fantastische Literatur ausgezeichnet. Außerdem wurde er für das beste Europäische Debüt beim Festival du Premier Roman in Chambery, Frankreich, sowie zweimal als bester Nachwuchsautor bei der Young Writers Gala in Bukarest nominiert.

EVA RUTH WEMME, *1973 in Paderborn, studierte Rumänistik, Germanistik, Philosophie und Musikwissenschaft in Köln, Berlin und Bukarest. Sie arbeitet als Übersetzerin aus dem Rumänischen, Autorin, Regisseurin und Migrationsberaterin in Berlin. Für ihre Übersetzungen erhielt sie mehrere Stipendien u.a. des Deutschen Übersetzerfonds. Für die Übersetzung Verlorener Morgen (Die andere Bibliothek) erhielt sie 2019 den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse.

DER HEILIGE MIT DER ROTEN SCHNUR

FLAVIUS ARDELEAN

AUS DEM RUMÄNISCHEN VON

EVA RUTH WEMME

ROMAN


Inhalt

ERSTER TEIL

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

ZWEITER TEIL

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

DRITTER TEIL

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

VIERTER TEIL

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

ENDE

DER HEILIGE MIT DER ROTEN SCHNUR

PROLEGOMENA ZUM

TRAKTAT ÜBER DEN WIDERSTAND DER

MATERIALIEN,

ÜBER GEBURT, LEBEN UND TOD

DES HEILIGEN TAUSH,

WILL HEISSEN

ÜBER SEINE ABENTEUERLICHEN REISEN VON

GAISTERŞTAT

BIS MANDRAGORA:

WAS ER GETAN, WAS ER GESAGT, WAS ER

GESEHEN

UND WAS ER ZWISCHEN WELT UND UN’WELT

GEFÜHLT HAT,

VORGEBRACHT VON DEM SKELETT

BARTHOLOMÄUS KNOCHENFAUST

SOWIE

HERAUSGEGEBEN VON

FLAVIUS ARDELEAN

Diese Geschichte über Freundschaft ist Alex Müntz gewidmet.

Wer könnte den tot nennen, dessen Worte uns immer noch

zurück ins Schweigen bringen

und dessen Gefühle uns noch immer bewegen?

Clive Barker, Weaveworld

An einem trüben Wintermorgen, irgendwo auf dem Weg zwischen Karkara und Todesbach, teilte die Spur eines einfachen Planwagens die verschneiten Felder in zwei Hälften. Die seit alters her befestigte Straße nach Adora und Visla über Alrauna und Izvorul Babei schlummerte verborgen unter dem Schnee, aber wer die Ebene kannte, wusste, in welche Richtung er gehen musste und was ringsum war, und nicht selten, ab und an, hielt ein Wanderer dort inne, wo er wusste, dass sich die Straße befände, und wartete, dass ein anderer Reisender mit einem Pferd des Wegs käme oder, wäre das Glück auf seiner Seite, gar mit zwei Pferden, um mit ihm die Ebene so schnell wie möglich zu verlassen.

Und tatsächlich ergab sich diese Möglichkeit dort in der Ebene, denn unser Reisender erkannte in der Ferne einen Wagen und den Schatten eines Menschen in langer, grauer Robe oben auf dem Bock, der hielt die Zügel in den Händen und lenkte eine erbärmliche Schindmähre, die in langen Jahren ganz abgemagert war. Der Kutscher hielt neben unserem Reisenden an und streckte ihm seine knochige Hand hin, um seinen Bruder auf dem Feld zu begrüßen.

»Wohin?«, fragte der Kutscher und sogleich bekam er Antwort.

»Alrauna.«

»Aha, Alrauna. Dorthin fahre ich auch, teurer Reisender. In den Mauern dieser Stadt habe ich eine schwere Schuld zu begleichen«, sagte er und zeigte mit den Knochen seiner Finger auf den von Lumpen und allen möglichen Stofffetzen bedeckten Haufen unter der Plane.

»Fährst du mich?«, fragte der Reisende.

»Wie sollte ich nicht, werter Reisender, wie nicht?«

Und hätte er unter seiner Kapuze nur ein Fleckchen Haut auf den Knochen gehabt, hätte sie sich in Falten gelegt, um ein Lächeln auf sein Gesicht zu zeichnen.

»Und was verlangst du als Lohn, guter Kutscher?«, fragte der Reisende, und das Skelett antwortete, es wäre hier und jetzt nicht an der Zeit für dergleichen, er sollte nur aufsteigen, bevor die Ebene noch schwieriger würde, und bis zu den Toren von Alrauna würden sie sich auch wegen des Lohns noch besprechen.

»Aber dass du mich nicht belügst, Kutscherlein, und dass du nicht mehr von mir verlangst, als ich geben kann.«

Das Skelett versicherte dem Reisenden, dass es nie mehr verlange, als ein Mensch zu geben hätte, und was es verlange, das hätte jeder Mensch.

»Es sind fünf Tage, die Pausen mitgerechnet, wenn wir uns hinlegen und schlafen«, sagte das Skelett, »aber wisse denn, lieber Reisender, ich bin ein Erzähler und ich lasse es mir gefallen, die langen Wege mit erfundenen und wahren Geschichten zu befrieden, und meine Erfindungen können die Wahrheit für einen anderen sein und umgekehrt, sodass du dich nicht ängstigen sollst, wenn du nicht mehr weißt, was was ist und wer wer, denn es ist nichts weiter als wahre Erfindung und erfundene Wahrheit.«

»Eine kleine Geschichte tut niemandem weh«, sagte der Reisende und hörte das Skelett mit den zahnfleischlosen Zähnen klappern, aber nicht vor Kälte, sondern vermutlich vor Freude. So schwieg er und lauschte ihm.

Er stieg auf den Karren neben das Skelett, warf einen Blick nach hinten und erkannte etwas in dem Haufen unter der Plane.

»Was bringst du den Brüdern in Alrauna?«, fragte er, aber das Skelett antwortete:

»Das, werter Reisender, ist nicht mehr deine Sache. Zurückzusehen ist nicht gut«, sagte es, »nichts Gutes gibt es für den Menschen hinter ihm. Halte deine Augen, oder dein eines Auge – es sei mir verziehen, ich bemerke es erst jetzt – besser auf den Weg gerichtet, und die Ohren richte auf mich, denn ich habe vor, dir eine der wichtigsten Geschichten dieser Ebene zu erzählen.«

»Welche, Kutscher?«, fragte der Reisende mit dem einen Auge.

»Ich werde dir von Alrauna erzählen, dem früheren Mandragora, damit du die Geschichte kennst, bevor du an seine Tore gelangst; wie es durch die Mühsal Derer-die-von-der-Tollkirschestammen entstand, und über den Heiligen Taush, den Schutzherren von Mandragora – wie er geboren wurde, wie er aufwuchs und wie er in die WELT hinausging, um Städte zu gründen, und bis wir die Mauern von Ferne sehen, so will ich meinen, dass du die ganze geheime und auch die sichtbare Geschichte von Mandragora und seinem Heiligen kennst. Aber vergiss nicht, lieber Reisender, die Klügeleien des einen sind die Wahrheiten des anderen und umgekehrt, und so du nicht weißt, was was ist und wer wer, so fürchte dich nicht, denn es ist nur Klügelei – also wahrhaftige Wahrheit.«

 

»Und der Lohn?«, fragte der Reisende wieder und bekam eine Antwort.

»Den Lohn werden wir heute Abend am Feuer aushandeln, wenn die Nacht hereinbricht. Bis dahin schweig und höre meine Geschichte.«

»Ich höre, Kutscherlein, ich höre, aber sag mir noch eine Sache, damit ich sie weiß: Woher kennst du das Leben und den Tod von Taush und die Geschichte seines Mandragora?«

»Ich kenne sie, denn mein Name ist Bartholomäus Knochenfaust, der gefürchtete Erzähler, und ich war dort. Also höre!«

Und da hub das Skelett mit der Erzählung an.

ERSTER TEIL

IN WELCHEM MAN AHNT

KAPITEL EINS

IN DEM WIR VON DER GEBURT TAUSHS IN DER STADT DER GEISTER ERFAHREN UND ALLES DANACH AUSSIEHT, ALS WÜRDE EIN BEDEUTENDER MANN AUS IHM; VON DEN DREI ZEICHEN SEINER GEBURT

Taush wurde in Gaisterştat geboren und kam zur WELT in jener Stunde zwischen Tag und Nacht, die zugleich erscheint und entschwindet, gerade noch siehst du sie und spürst sie, und im nächsten Augenblick ist sie dahin – und nur einen Moment der Leichtfertigkeit hätte es seine Mutter gekostet, ihn in diesem Augenblick zu verlieren, ihn zwischen den Schenkeln auszulassen, sodass das Kind in die Luft ringsumher ausgetreten wäre, und unsere Geschichte hätte geendet, bevor sie begonnen hätte, und aus. Aber die Ammen, antike und weise Weiber, sie wussten das Kind zu halten und was sie sagen mussten, um die Leere um sie zu vertreiben. Und der Augenblick verging und Taush blieb.

Sehr glücklich waren seine Mutter und sein Vater, denn, weißt du, er war das erste und würde ihr einziges Kind bleiben, und eine große Freude kam über ihr Haus, als sie von den Ammen erfuhren, dass der kleine Taush mit einem Glückshäubchen geboren war, zum Zeichen, dass ein bedeutender Mann aus ihm würde, und nicht nur für Gaisterştat. Nachdem sie die Stunden ihrer Plackerei verflucht hatte – denn gar schwer war Taush herausgekommen, als wäre die Welt, in der er das Leben vor dem Leben verbracht hatte, die allerbeste, und jene draußen nur ein Abgrund zum Fürchten –, sah sie all die guten Zeichen an ihm und um ihn herum, und sie bat ihn flüsternd um Vergebung und das ganze Haus vergoss Tränen um ihn, Tränen der Freude.

Welche Zeichen, fragst du? Nun, er war noch nicht ganz heraus, die Hälfte seines kleinen Körpers war noch in der Mitte der Frau, als das erste Zeichen sich offenbarte. Die Schreie der schmerzerfüllten Mutter und die anfeuernden Rufe der Ammen, alles verstummte, als Taush seinen Kopf hinaus auf die WELT streckte, und die, welche dort auf den Straßen, in den Häusern und auf den Plätzen waren, alle konnten später bezeugen, dass alles auf der WELT innehielt – nicht einmal der Wind wehte mehr, nicht einmal die Tiere wühlten mehr im Boden, nicht einmal die Kinder spielten, nicht einmal die Menschen sprachen mehr miteinander, nicht einmal die Käfer krochen mehr umher, weder war der Himmel wechselhaft noch jagten einander die Gedanken. Es wurde ruhig in ganz Gaisterştat und ringsum hub ein Schweigen an und alles stand still, bis Taush aus dem Körper der Frau gezogen und in ihre Arme gelegt wurde. Und alle fürchteten sich, als sie erwachten, weil sie in diese Welt zurückkehren mussten, denn es war, als wäre die Welt der Stille, in die der kleine Taush sie geworfen hatte, die wahrlich süßeste. Manche entschlossen sich, für immer zu schweigen und brachten kein Wort mehr hervor, ihre Bewegungen wurden seltener und klein, sie waren erfüllt von Sehnsucht nach den Augenblicken damals, als Taush den Kopf aus dem Bauch seiner Mutter streckte und voll Bitternis entschied, es sei ihm zu viel Lärm auf der Welt.

Und es gab wenige Tage nach der Geburt ein weiteres Zeichen, als alle in Gaisterştat morgens erwachten und sich ein paar Stunden den Kopf darüber zerbrachen, dass etwas nicht war, wie es für gewöhnlich war. Wie war es? Ich weiß nicht, aber es war und war nicht so. Erst gegen Abend begriffen sie, was war, und sie machten sich auf die Suche nach den kriechenden und fliegenden Insekten und Käferchen, in Kellern und Kammern, auf Dachböden und in Gärten, aber sie stießen in ganz Gaisterştat auf kein einziges. Niemand wurde mehr von Mücken gestochen, kein Floh biss mehr, die Bienen hörten auf zu summen, der Mistkäfer rollte keine Kugeln mehr. Einen ganzen Tag lang waren die Menschen in der Stadt ohne Summen und Brummen gewesen, bis sie verstanden, dass es die Stille war, die in ihren Schädeln lauter summte und brummte als jedwedes Insekt auf dem Erdball. Viele ergriff wohl die Furcht, sagt man, denn man wusste, das Insekt war schon lange vor dem Menschen auf der Erde, und man sagt, dass das Insekt noch lange nach dem Menschen der Herr der Erde sein und sich Schlösser und Gänge aus der Asche unserer Leiber bauen würde. Aber nun hatte in Gaisterştat scheinbar jede Art von Fliege dem Menschen den Rücken gekehrt und war verschwunden, sie hatten den Menschen schwach und verwaist zurückgelassen, und dies, so sagte man wohl, konnte nichts anderes bedeuten als das Ende von allem und jedem und von allem, was noch zwischen allem und jedem übrig blieb.

Aber die Furcht, von der wir sprechen, hielt nicht lange an, denn ein Junge stürmte auf den Platz und schrie lauthals, es herrsche in dem Hause, in dem vor wenigen Tagen der kleine Taush geboren worden wäre, ein solches Gekrabbel und Gewimmel, dass die Wände wackelten und die Fenster zitterten. Jeder lief, so schnell er konnte, durch die Straßen, und die ganze Stadt versammelte sich um das Haus des kleinen Taush und drängte sich hin, wo andere sich nicht hindrängten, und lauschte auf das Gelärm im Haus der armen Leute, die auf der Treppe standen und die Schultern zuckten und den Nachbarn sagten, das Kind hätte die ganze Nacht geweint, aber jetzt, da alle Käferchen bei ihm im Zimmer wären, würde es schlafen wie ein Engel. Und siehe, dies war das zweite Wunder zur Geburt des kleinen Taush, des Heiligen von Mandragora. Woher ich das weiß, fragst du, werter Reisender? Von meinem Vater, einem guten Erzähler, denn in meiner Familie fällt der Apfel nicht weit vom Stamm und der Knochen nicht weit vom Knochen.

Und das dritte, fragst du mich? Willst du das dritte Wunder hören? Ein drittes gab es auch, das hast du gut erraten, und es werden wohl noch andere gewesen sein, die der ein oder andere noch weiß – verflucht seien die Erzähler, die hören und nichts erzählen! Bevor ich dir vom dritten Wunder berichte, ist es nötig, dass du das ein oder andere vom Rat der Ältesten von Gaisterştat erfährst und was ihn damals in aller Munde sein ließ. Wie du weißt, mein lieber Weggefährte, ist es in diesen Teilen der Talpa lui Tapal üblich, dass jede Stadt ihren Ältestenrat hat, der die Tage ordnet und sie nächtens schützt, so wirst du es auch in Alrauna sehen, wohin wir gerade unterwegs sind, denn wissen kannst du es noch nicht; dort gibt es heutzutage auch einen Stadtrat, was immer das sei, aber mit dem, habe ich sagen hören, leg dich besser nicht an, und in seine Angelegenheiten steckst du besser nicht deine Nase. Folgendes sollst du nun über den Rat von Gaisterştat wissen, um das dritte Wunder zu begreifen, dass nämlich niemand ihn je gesehen hatte, denn er bestand nicht aus den Ältesten der Stadt, sondern aus den Allerältesten, älter ging es nicht mehr, sie waren so alt, dass sie tot waren. Ja, du hast dich nicht verhört – tot. Und nicht nur tot, sondern seit Langem tot, nicht seit gestern oder vorgestern – tot und verfault, die Asche verstreut und die Knochen zermalmt. Der Ältestenrat von Gaisterştat war insgesamt eine uralte Geisterversammlung.

He, starr mich nicht so an mit deinem Auge, ich sage nur, was ich gehört habe! Man sagt, hin und wieder wäre im Haus des Rates eine Geisterversammlung abgehalten worden und mal dies, mal das beschlossen worden, danach wäre eines von den Oberhäuptern der Stadt – kein Mitglied des Rates, aber in dessen Dienste stehend – auf den Platz hinausgetreten und hätte die Stadt über all das unterrichtet, was die Geister da in die Wege geleitet hätten, denn von ihren kühlen oder warmen Schatten, von ihrer Welt aus, die niemand kennt, führten sie Gaisterştat.

Warum ich dir das alles erzählt habe? Damit du verstehst, welch erhabener Tag es war, als sich auf den steinernen Stufen vor dem Haus des kleinen Taush das Oberhaupt der Stadt zeigte, von dem ich dir erzählt habe, und an die beiden Eltern gedrängt, die für ein paar Stunden aus dem Haus geschickt worden waren, zu der gaffenden Menge sprach, die sich vor ihnen versammelt hatte, dass sich zur selben Stunde die Geister von Gaisterştat zusammengefunden hätten und rings um das Körbchen Rat hielten, in dem das Kind Taush friedlich gurrte. Und der Rat tagte lang, denn erst am Abend verließ das Oberhaupt die Vortreppe, ohne an die Menge auch nur ein Wort zu richten, und er ruderte mit den Armen, um die Meute zu verscheuchen, als machte er Platz für seine unsichtbare Gefolgschaft, dann trat er ins Haus des Rates und schloss wenige Augenblicke später die Tür, als wohl all die abgeordneten Geister auch eingetreten waren. Was nun dort besprochen wurde in diesem seltsamen Rat, das wird niemand je sagen können, vielleicht nur die Käfer, aber wer fragt die schon?


Und sieh da, so verging das erste Jahr Taushs in Gaisterştat, und die Menschen begannen, sich einer nach dem anderen und nach und nach an die Ruhe und Reglosigkeit zu gewöhnen, die langsam über die Stadt gekommen war und wohl über die ganze WELT, auch an die Käfer, die manchmal ein paar Tage verschwanden und sich ins Zimmer des kleinen Taush begaben, wenn er nicht schlafen konnte oder wenn ihm das Bäuchlein wehtat, wie einem jeden Kind, oder daran, dass das Haus des Rates einen ganzen Tag leer stand und die Menschen das Oberhaupt auf den Steinstufen des Hauses sahen, in dem der kleine Taush gurrte und Rat mit der Luft ringsum zu halten schien.

KAPITEL ZWEI

IN DEM WIR VON DER KINDHEIT TAUSHS ERFAHREN, IN DER ER DREIMAL VON DER WELT VERSCHWINDET UND IMMER WEISER ZURÜCKKEHRT. ABER AUCH IMMER TRAURIGER; TAUSH SPINNT SEINE SCHNUR

Nun, da ich dir alle wunderlichen Begebenheiten um Taushs Geburt erzählt habe, glaube nur nicht, dass die Wunder damit aufgehört hätten; nein, denn nur kurze Zeit nachdem unser Taush drei Jahre alt wurde, der bis dahin, wie ich schon sagte, bei seinem Gebrabbel (denn Taush begann erst spät zu sprechen) von Krabbeltieren begleitet worden war und von den Geistern des Ältestenrats und von jener merkwürdigen Stille und Reglosigkeit, als wäre heimlich etwas Unausgesprochenes und Unbewegtes nach Gaisterştat zu Besuch bei Taush gekommen – wie gesagt, da er so drei Jahre verbracht hatte, wurde er schließlich sehr einsam und beschloss, ein aufs andere Mal zu verschwinden, und er versteckte sich in wer weiß welchen Winkeln im Haus.

Was tust du? Du gähnst? Nicht dass dich der Schlaf mir raubt, während ich erzähle, denn keiner meiner Ahnen hat jemals dergleichen geduldet! Wir schlafen und essen bei der Rast, habe ich gesagt, sonst steigst du ab und gehst zu Fuß nach Alrauna. Damit du es weißt, mein Großvater sagte oft: Junge, wenn ich in 87 Jahren etwas über den Menschen gelernt habe, sagte er, dann ist es das, dass der Mensch zu viel isst, trinkt und schläft. Sei nicht wie der Mensch! Und siehst du, ich bin nicht wie der Mensch.

So höre:

Und weil Taush nun immerzu verschwand, wenn man es am wenigsten erwartete, so hörte man seine Mutter weinen, o weh, wo ist mein Kindchen, gebt mir mein Kindchen wieder! Dann fand sie ihn unter einer Treppe, im Mehlfass, in der Kühle des Kellers, bei den Tauben auf dem Dachboden, manchmal saß er auf dem Käse in der Speisekammer, schwieg und regte sich nicht, wie nur er so ewig dasitzen konnte, und die Mutter konnte zehnmal, sogar hundertmal an jenem Tag die Kammer öffnen und die Hand hineinstecken, konnte sogar den Kopf nach dem Benötigten strecken, ohne ihn zu sehen. Bis der Junge blinzelte und die arme Frau einen dem Tode verwandten Schrecken bekam und aus den Tränen des Unglücks Freudentränen wurden. Mit der Zeit weinte sie nicht mehr und die Frau fand sich mit dem Gedanken ab, wie jeder Mensch sich mit jederlei Gedanken abfindet, ob gut, ob schlecht, dass ihr kleiner Taush eben so war. Und all das weiß ich von meiner Mutter, die zu jenen Zeiten wie eine Schwester für Taushs Mutter war.

 

Aber eines Tages schien die Sache doch gar zu sehr übertrieben, so wie mit Zucker gesüßter Honig gut ist, aber doch zu gut, um noch gut zu sein. Taush kam nicht aus seinem Versteck, selbst als es Nacht in Gaisterştat wurde, und er kam auch nicht ans Licht, als die Morgendämmerung hereinbrach, und dann noch einen Tag so, dann noch einer und noch einer, bis im leeren Haus eine Woche um war und große Trauer herrschte. Manche sagten und behaupteten, die Mutter wäre verrückt geworden und hätte mit ihren eigenen Händen den Wundern des kleinen Taush ein Ende gesetzt (denn damals wusste man nicht, ob Taushs Kräfte der WELT angehörten oder der UN’WELT); andere sagten, das könnte nicht sein, denn die Mutter liebte ihr Kind und viel eher hätte sich das Kind so gut versteckt, dass es sich selbst nicht mehr wiederfand; und wieder andere sagten, ein Tier wäre durch die offen stehende Tür ins Haus gedrungen und hätte ihn gefressen; manche sagten, jemand hätte ihn gestohlen und würde ihn auf dem Jahrmarkt zur Schau stellen (Kommt und seht das wundertätige Kind!); oder die Geister des Rates hätten ihn mitgenommen; oder dass er einfach verschwunden wäre und aus, was gäbe es da zu verstehen?, fragten sie. Wie alles, was der kleine Taush tat: Es war dem menschlichen Verstand nicht zugänglich. Hätten sie die Käfer gefragt, vielleicht hätten sie es erfahren, aber wer kann die Käfer fragen? Taush war der Einzige.

Ob er zurückkam, fragst du mich? Er kam zurück, denn wäre es nicht so, hätte ich dir nicht fünf Tage lang etwas zu erzählen, und du hättest nicht vier Nächte lang zu träumen, nicht wahr? Nach einer Woche kam er zurück, als wäre nichts geschehen, und seine Mutter fand ihn im Hof, wie er brav mit einer Nachbarkatze spielte. Sie nahm ihn in die Arme, weinte – große Freude! Sie wollte schon den Tisch für die Verwandten und Nachbarn decken, aber als die Frau ihren Sprössling genauer ansah, kam sie ins Grübeln und immer sorgenvoller saß sie drei Tage und schlaflose drei Nächte da, denn, so sagte sie wohl zu meiner Mutter, eine Frau kennt ihr Kind, nicht wahr?, und der kleine Taush war nicht mehr derselbe. Etwas war mit ihm geschehen, seine Augen schienen tiefer im Kopf zu sitzen, sein Blick weiser zu sein, denn wenn man sagte, bisher hätte Taush gewirkt, als läse er geheime Zeilen in der Luft, um die WELT in der Stille seines Kopfes Zeichen für Zeichen zu begreifen, dann wirkte er jetzt, als läse er zwischen diesen Zeilen, und als wäre dort verborgen, was hinter dem hinter der Welt Verbogenen lag, und dass es für ihn qualvoll und kalt war. Aber Taush schwieg und niemand erfuhr jemals, wohin er für eine Woche verschwunden war.

Aber die Ahnung der Frau, dass ihr kleiner Taush weiser, doch auch bedrückter dort aus der Wildnis oder von der Rückseite der WELT zurückgekommen wäre oder woher auch immer, die bewahrheitete sich, als sie neuerdings merkwürdige Dinge um ihn herum geschehen sah. Wenn sie sich zu Tisch setzten, schien der alt gewordene Käse plötzlich frisch zu werden; wenn Taush mit dem Brotfladen aus der Kammer kam und seine Mutter wusste, er war trocken und hart gewesen, dann brachte er ihn frisch und weich; wenn der kleine Taush aus dem Keller kam, war der Wein, von dem sie wusste, er war abgestanden, wieder neu und frisch aus den Reben gepresst; und so weiter und so weiter. Aber sobald die Frau begriff, was geschah, jammerte sie nicht mehr und erfreute sich an den Geschenken des Jungen, und diejenigen, die davon erfahren hatten, (denn so ist es in der WELT, die Menschen reden), die wurden von ihr gar zu Hause empfangen, damit sie ihre Speisen und Getränke neben das Kind legten, während es ungerührt mit irgendeinem Holz spielte, das in Formen geschnitzt war, welche allein in seinem Verstand lebendig wurden, sodass Märchen daraus entstanden.

Aber es gab nicht nur die drei Wunder bei der Geburt des kleinen Taush, sondern auch drei Abwesenheiten, also sei brav und lausche. Und mach dir keine Gedanken mehr darüber, was unter der Plane ist, denn es ist schon kaum meine Sache, also umso weniger deine! Hör zu:

Es waren wohl zwei Jahre vergangen, seit der kleine Taush eine ganze Woche verschwunden gewesen war, und in diesen Jahren war er nirgendwohin gegangen und hatte sich nicht mehr versteckt, nicht einmal für den Augenblick eines Augenblicks. Aber eines Tages konnte seine Mutter ihn wieder nicht im Haus finden und sie vergoss den ganzen Tag Tränen und so auch am zweiten Tag und am dritten, und die Woche verging und sieh an, es wurden zwei Wochen, bis der kleine Taush durch das Tor kam, als wäre nichts geschehen, und er ging in die Speisekammer, um etwas von den in seinen Händen immerdar frischen Speisen zu sich zu nehmen. Als er wieder aus dem Haus kam, sah die Frau seine Augen und las darin Weisheit und Schmerz; sie begriff und schwieg. Sie küsste ihn auf die Stirn und überließ ihn sich selbst dort im Hof und auf den Straßen, wartend, wissend.

Und es war noch kein Tag vergangen, da zeigte sich das erste Zeichen seit seinem Fortgehen klar wie Quellwasser. Vor ihrem Haus: ein Gedränge, und als Taush herauskam und die Augen auftat, sah er da ein Pferd mit zwei gebrochenen Beinen liegen, das in seiner Sprache wehklagte vor seinem Herrn, welcher sich gerade anschickte, mit Tränen in den Augen das Beil auf die breite Stirn seines geliebten Pferdes zu schlagen, um es von den entsetzlichen Qualen zu befreien. Taush aber fing gleich an, keck zu pfeifen, und lief auf die Straße. Der Mann hielt inne und ließ sein Beil sinken. Das Kind begann, seine Finger auf gewisse Art zu kneten und eine bestimmte eigene Melodie zu pfeifen, und so über die gebrochenen Beine des Tiers gebeugt, arbeitete er in Gedanken und bearbeitete all seine Sinne. Ein paar Augenblicke später schlug das Pferd mit seiner Mähne in die Luft und ruckte zwei-, dreimal, dann stand es auf und zeigte sich seinem Herrn mit geheilten Knochen, stolz und kräftig. Die Menge verstummte und es waren nicht wenige derer, die vor dem fünfjährigen Jungen, dem kleinen Taush, auf die Knie sanken, welcher zum zweiten Mal davongelaufen und zurückgekehrt war – woher, wusste niemand –, und namentlich mit neuen Kräften, die den Heiligen der Wüste würdig waren. Aber Taush gab nicht viel auf die Verwunderung und Bewunderung der Umstehenden und kehrte zurück in den Hof seiner Eltern, zu seinem Spiel und seiner Ruhe im Schatten.

Aber das Gerede? Das Gerede steht nicht still, es geht um, und so kam es in jeden Hof und in jedes Haus und es gab keinen Mann, keine Frau und kein Kind in Gaisterştat, die nicht von dem neuesten Wunder Taushs erfahren hätten. Und jeder ging, wie er konnte, und mit dem, was er im Hof fand, zu Taush, auf dass er das Hühnchen, den Hund oder die Kuh pflegte; sie riefen ihn auch, damit er den Geburten von Fohlen und Kälbern zusah, so, sitz einfach hier, Kleiner, sagten die alten Frauen, sitz hier in der Nähe, falls die Stute oder die Kuh nach dir verlangt. Und der kleine Taush saß da, und von dem Tag an, bis er von zu Hause fortging (ja, er ging fort, aber dräng mich nicht, denn jedes Ding hat seine Zeit), wurde kein Tier mehr toll und es gab große Mengen an Fleisch und Milch und Eiern und Pelzen in Gaisterştat. Aber ob es dem kleinen Taush nun gefiel, dass er sich um die Tiere des Menschen kümmerte und der Mensch das Leben seines erstarkten Tieres beendete, das werden wir nun nie erfahren. Ich würde fast glauben, es gefiel ihm nicht, aber was soll man machen, so ist der Mensch, ohne Sinn und Verstand. Was weiß ich, ich bin nur ein armes Skelett, das Geschichten faselt unter dieser winterlichen Sonne. Bedecke deinen Kopf, dass du mir nicht wortbrüchig wirst und stirbst, denn so lautet unsere Verabredung nicht.

Wenn ich dir nun vom dritten Fortgehen Taushs erzähle, wirst du sicherlich sagen, ich sei ein Lügner – drei Wunder zur Geburt, dreimal weggegangen, was soll noch kommen? Drei Leben? Tatsächlich drei Leben, aber die anderen beiden sind nicht für hier und jetzt, sondern für andere Erzählungen an anderen Orten und zu anderen Zeiten. Höre zu:

Gerade war unser Taush sieben Jahre alt geworden, aber sprechen wollte er noch immer nicht. Ich meine mit den Menschen, denn mit dem Ungeziefer und den wilden Tieren sprach er den lieben langen Tag und die tiefe Nacht hindurch. Und als er sieben Jahre alt wurde, gingen sein Vater und seine Mutter, um ihn ins Register der Schule bei der Kirche einzutragen, damit er lesen lernen sollte, auch wenn seine Mutter insgeheim wusste, dass der kleine Taush mit seinen sieben Jahren schon weiser war als alle Lehrer und Priester von Gaisterştat zusammen.

Als sie nach Hause kamen, wo war er da? Taush war wieder fortgegangen, das dritte Mal. Seine Mutter vergoss am ersten Tag keine Träne, auch am zweiten Tag nicht, auch als eine Woche um war nicht, denn, was habe ich gesagt?, der Mensch gewöhnt sich an alles. Auch die zweite Woche verging ohne Tränen, aber immer mit warmem Kuchen für den Jungen, wenn er zurückkäme von dort, wo er war. Doch als die dritte Woche anbrach, fing die Frau an zu heulen und weinte in einer Stunde, was sie in den zwei letzten Wochen nicht geweint hatte. Sie weinte die ganze Woche und in der vierten, als sie sah, dass er nicht zurückkam, hämmerte der Vater sechs Bretter zusammen und machte dem kleinen Taush einen Sarg und hob ihn auf, bis jemand den Jungen in einem Abgrund oder unter einer Brücke finden würde. Aber siehe da, der Sarg fand keinen Nutzen, denn Taush kam wieder in den Hof, als hätte er keinen Augenblick gefehlt, und ich glaube, auch jetzt ist dieser Sarg noch irgendwo und fängt Staub, statt Asche zu beherbergen. Das Haus wurde fröhlich bei seinem Anblick und ganz Gaisterştat freute sich, dass ihr kleiner Heiliger wiedergekehrt war.