Mörder im Hansaviertel

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Die gut verpackte junge Kollegin von Manfred Pentzien hatte nur kurz aufgeschaut und sich dann wieder der Sicherung von Fingerspuren gewidmet. Dass sie jung war, verriet allein ihr Gesicht, vor allem der jugendlich frische Teint. Pentzien, der nicht müde wurde, sich darüber zu beklagen, dass alle Schutz- und Kriminalpolizisten der Welt an Tatorten mehr Spuren verursachten als sicherten, hatte seine Kapuze in den Nacken geschoben und verteilte Haare und Schuppen.

Die Gemälde sagten Uplegger zunächst nichts. Es waren eher zeitgenössische Werke, jedenfalls durften sie alle nach 1945 entstanden sein, vermutlich sogar vor gar nicht langer Zeit. Ein ziemlich großer Schinken, der zwischen dem Eckfenster und der Gartentür hing, zeigte auf eine pastose weiße Leinwand aufgetragene, extrem breite schwarze Pinselstriche, was an Franz Kline gemahnte, aber beim Nähertreten entdeckte Uplegger die Signatur P. Fischer. Ein in schreienden Acrylfarben gehaltenes, der Farbfeldmalerei ähnelndes Werk, das an der Wand neben dem Bildschirm angebracht war, war von H.P. signiert, und das dritte Gemälde im Bunde enthielt auf cremefarbenem Grund einen breiten orangefarbenen Querstrich, auf dem schwarze Buchstaben tanzten und das Wort ETERNITY bildeten. Der Stil erinnerte Uplegger an etwas. Die Signatur überzeugte ihn vollends: Penelope Pastor. Die Künstlerin aus Schwaan kannte er. Wenn er Barbara davon berichtete, würde sie aufschreien, denn für sie war die Pastor ein dunkelrotes Tuch.

»Habt ihr schon Anhaltspunkte dafür, was die Täter gesucht haben könnten?«, fragte der Mann ohne Eigenschaften.

»Raubgut, würde ich meinen«, sagte Pentzien. »In einem der Arbeitszimmer – dem des Mannes wohl – gibt es einen Wandtresor. Die Tür war zwar zu, aber nicht abgeschlossen. Einer meiner Leute hat sie einfach aufgezogen, und siehe da: Der Safe ist leer.«

Inzwischen war der neue Tag angebrochen. Das Gespräch mit Annalena Meissner hatte nun doch länger gedauert als beabsichtigt, aber das hatte nicht an der Kommissarin gelegen, sondern an der unerwarteten Mitteilungsfreude der Zeugin. Barbara hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber Liselotte Hagemeister, aber sie hatte dafür ein erstes Bild von den Geschädigten, das recht umfassend war. Sie wusste nun, dass Dorothee Klaas vor ungefähr sechs Jahren die Galerie Art’s Art am Alten Markt erworben und damit vor der Pleite bewahrt hatte. Spezialisiert hatte sie sich auf norddeutsche Künstler und auf das östliche Europa, schließlich war man in Stettin ebenso schnell wie in Berlin. Dank ihrer und ihres Mannes Begeisterung für Kroatien vertrat sie auch kroatische Künstler und welche aus anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawien, vor allem aus Slowenien.

Annalena Meissner hatte das Haus verlassen und sich auf den Heimweg gemacht, Barbara Riedbiester hatte sich bei ihrer ehemaligen Lehrerin Hagemeister entschuldigt. Sie waren gleich in der gemütlichen Küche geblieben, die alte Frau hatte Tee gekocht, und nun saßen sie an dem rustikalen Küchentisch. Durch das Fenster konnte man in den Nachbargarten blicken, wo noch immer Kriminaltechniker und Schutzpolizisten im Licht der Strahler nach Spuren suchten.

Frau Hagemeister blickte immer mal wieder hinaus und seufzte. »Es muss um das Jahr 2000 gewesen sein, also vor ungefähr 20, 21 Jahren, da hat das Ehepaar Klaas das Haus gekauft. Vorher hat ein hoher SED-Funktionär darin gewohnt, der ist dann 1999 gestorben. Er wollte unbedingt noch den Jahrtausendwechsel erleben … Aber der Mensch kann ja viel wollen, wenn das Schicksal anders entschieden hat. In seinem Fall hieß das Schicksal schlicht und ergreifend Altersschwäche. Er war Jahrgang 1901!« Frau Hagemeister nahm einen Schluck Tee, dann fuhr sie fort: »Ich war ganz froh, dass junge Leute eingezogen sind. Obwohl ich ja damals selbst noch keine vertrocknete alte Schachtel war. Mein Mann war nicht so begeistert. Kurz und gut: Sie zogen ein. Die Eltern und die beiden Kinder Johannes und Miriam. Der Große dürfte acht oder neun gewesen sein, die Schwester vier oder fünf. Frau Klaas hat sich damals in der Nachbarschaft vorgestellt und jedem eine kleine Pralinenschachtel gebracht, auf gutes Zusammenleben und gegenseitige Hilfe. Das wäre heute unvorstellbar.«

»Warum?«, erkundigte sich Barbara.

»Erfolg und Geld haben aus zwei liebenswürdigen Menschen zwei arrogante Ekel gemacht«, antwortete Frau Hagemeister. »Sie betrachten alle Menschen von oben herab. Sie würden nie etwas in der Nachbarschaft borgen, weil sie sich alles kaufen können. Das ist ihre Botschaft. Gegen zwei Familien haben sie wegen Lärmbelästigung geklagt. Einmal gegen Leute vorn in der Parkstraße, weil ihre Kinder zu laut im Garten spielen. In dieser Sache haben sie verloren. Anders beim Hund.«

Barbara runzelte die Stirn. »Welcher Hund?«

»Die Kruses, die zwei Häuser weiter in Richtung Laurembergstraße wohnen, haben einen großen Hund … Labrador?« Frau Hagemeister zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht die geringste Ahnung von Hunden. Aber so absurd es klingen mag: Eine Richterin am Amtsgericht hat Bellzeiten verordnet. Vormittags und nachmittags je eine halbe Stunde, und ab 22 Uhr ist generell Schluss. Dorothee und Michael Klaas sind vermutlich die unbeliebtesten Bewohner der Schliemannstraße zwischen Liskow-, Park- und Laurembergstraße. Das hat sogar auf ihre Kinder abgefärbt. Sie hatten zwar Freunde, aber nicht aus der Umgebung.«

Das Arbeitszimmer im ersten Stock machte einen aufgeräumten Eindruck, was zu dem Umstand, dass die Täter das ganze Haus durchsucht haben sollten, nicht recht zu passen schien. Jonas Uplegger registrierte es, sagte aber noch nichts dazu. Das Zimmer war eindeutig das des getöteten Mannes, der als Architekt gearbeitet und gemeinsam mit seinem Sohn Johannes das Architekturbüro Klaas & Klaas betrieben hatte. Allein die Aufschriften der Aktenordner verrieten es: Da war von einem Bauvorhaben Stadtvillen Froschgraben die Rede oder vom Projekt TOI-Rand 1. Planungsstadium Entwürfe unrein, aber noch beweiskräftiger waren die Ordner und Mappen mit den Aufklebern Klaas & Klaas GbR. Auch die Bücher in einem niedrigen, aber breiten Regal sprachen Bände: »Brandschutz«, »Musterbuch Isolierung«, »Fachkunde Holztechnik«, »Türen- und Fensterbau«. Auf dem ziemlich aufgeräumten Schreibtisch am Fenster, aus dem man einen Blick auf die Schliemannstraße und ein gegenüberliegendes Haus hatte, standen mehrere Bände einer juristischen Schriftenreihe: »Öffentliches Baurecht Band I: Bauordnungsrecht«, »Öffentliches Baurecht Band II: Bauordnungsrecht, Nachbarschutz, Rechtsschutz« sowie »Kreditsicherungsrecht« und »Umweltrecht«, vermutlich alles Dinge, die ein Architekt zu berücksichtigen hatte.

Neben dem Schreibtisch, den Aktenregalen und niedrigen Schränken fanden sich in dem nicht sehr großen Raum eine Couch, auf der mehrere zerwühlte Decken lagen, davor ein runder Glastisch und zwei Stühle aus namenloser Herstellung. Auf diese Weise war eine kleine Sitzecke improvisiert worden, außerdem sah es danach aus, als hätte Michael Klaas in Arbeitspausen ein Nickerchen gemacht. Oder gelesen, denn auf dem Glastisch lag ein Buch. Das große Titelbild zeigte in den Himmel ragende Betontürme, womöglich zwei Silos. Darüber stand in schlichter zweireihiger Schrift: TOWARD A CONCRETE UTOPIA: ARCHITECTURE IN YUGOSLAVIA 1948–1980. Rechts unten war bescheiden ein Signet angebracht: MoMA. Uplegger hatte eine Ahnung, was es bedeutete. Er hatte bereits vor dem Betreten des Hauses Handschuhe übergestreift und konnte sich daher erlauben, das Buch aufzuschlagen. Tatsächlich, so verriet der Klappentext, handelte es sich um das Museum of Modern Art in New York.

In einer dem Fenster und damit auch dem Schreibtisch gegenüberliegenden Ecke stand ein offener Waffenschrank mit Platz für fünf Gewehre und einem Fach für Munition. Uplegger deutete dorthin.

Manfred Pentzien verstand die Geste. »Zur Untersuchung beschlagnahmt«, sagte er knapp.

»Wie viele Waffen hatte er?«, fragte Wendel.

»Fünf, die mutmaßliche Tatwaffe eingeschlossen. Mehr hätten in den Schrank ja auch nicht gepasst.«

»Alles Jagdwaffen?«

»Alles Jagdwaffen«, bestätigte Pentzien. »Also Gewehre. Waidmesser und dergleichen haben wir bisher nicht gefunden, aber wir stehen ja auch erst am Anfang.«

Die Wände in dem Arbeitszimmer waren ebenfalls mit Kunstwerken geschmückt, die allerdings kleiner ausfielen als im Wohnbereich, was sicher mit der Raumgröße zu tun hatte. Dominierend war jedoch ein sehr sorgfältig gezeichneter Plan für ein Wohngebiet, der an der Wand links vom Schreibtisch hing: Wer an dem Schreibtisch saß, musste nur ein wenig den Kopf wenden, um ihn zu sehen. Auf dem Plan gab es ein Schriftfeld, darauf befand sich der Firmenaufkleber sowie die Beschreibung: Projekt TOI-Rand 1. Planungsstadium Reinentwurf 17 IV 21. Jemand hatte den Plan mit rotem und schwarzem Filzstift so heftig durchgestrichen, dass er an einer Stelle einen Riss von mindestens zehn Zentimetern Länge aufwies.

Uplegger warf nur einen kurzen Blick auf die gerahmten Zeichnungen, Ölskizzen und Aquarelle, die keineswegs alle abstrakt waren, eher im Gegenteil. Nur bei einer Ölstudie verweilte er etwas länger. Dargestellt war ein Fischerdorf, jedenfalls nahm Uplegger das an; allem Anschein nach ein mediterranes. Es gab eine Signatur: V. Bukovac 09. Der Name sagte dem Kommissar überhaupt nichts. Allerdings hielt er ihn für südosteuropäisch, für kroatisch oder serbisch oder dergleichen. Er wollte ihn schon googeln, hielt es aber dann doch nicht für wichtig genug angesichts der Umstände, unter denen er sich hier befand.

Viel wichtiger war im Moment der Tresor. Es handelte sich nach der fachkundigen Auskunft ihres Begleiters um einen Wandtresor der Firma Eisenbach mit einem elektronischen Zahlenschloss und doppelwandiger Tür. Sehr groß war er nicht, aber wichtige Unterlagen oder kostbaren Schmuck konnte man schon in ihm aufbewahren. Der Tresor war in die Wand eingemauert, die das Arbeits- vom Nachbarzimmer schied, das nach Auskunft von Manfred Pentzien das Schlafzimmer des Ehepaares war. Anders als in allen Filmen, in denen Wandtresore vorkamen, hatte man ihn nicht hinter einem Bild verborgen, sondern er war für jedermann sichtbar. Vielleicht ließ das darauf schließen, dass Michael Klaas’ Arbeitszimmer für Besucher tabu gewesen war. Wie angekündigt war der Safe leer.

 

»Was mich irritiert, ist die Ordnung«, sagte Uplegger. »Es sieht aus, als wäre dieser Raum nicht durchsucht worden.«

»Das haben wir natürlich auch registriert«, meinte Pentzien. »Ich kann nicht definitiv sagen, dass die Täter nicht im Schreibtisch gewühlt haben, denn darin sah es aus wie bei Hempels unterm Sofa. Könnte natürlich auch die schöpferische Unordnung des Herrn Architekten gewesen sein.«

»Sind denn alle anderen Räume durchwühlt worden?«, fragte Uplegger noch einmal nach.

»Alle, sogar die Schränke in Bad und Küche. Nun ist dieses Zimmer das letzte im Obergeschoss nach Schlaf- und Kinderzimmer. Will sagen, nachdem die Täter den Tresor entdeckt und die Zahlenkombination aus den Geschädigten herausgeschnitten hatten«, Pentzien hüstelte, »haben sie vielleicht die Schätze gefunden, auf die sie scharf waren. Warum hätten sie dann noch weitersuchen sollen?«

»Klingt logisch.«

»Ihnen, Kollege Uplegger, dürfte aus langjähriger Zusammenarbeit bekannt sein, dass ich nie etwas sage, das nicht logisch ist.« Das hörte sich zwar überheblich an, war aber eher selbstironisch gemeint, denn Pentzien grinste von Ohr zu Ohr.

»Ihre Logik ist legendär«, bestätigte Uplegger schmunzelnd.

Der Mann ohne Eigenschaften hatte inzwischen eine Schreibtischschublade und dann noch eine geöffnet und rief: »Die sind ja leer!«

»Wir haben schon alles sichergestellt. Das meiste ist bereits auf dem Weg ins Labor be-zett-weh zur Auswertung.«

»Und? Etwas auf den ersten Blick Interessantes?«

Pentzien hob die Achseln. »Das aus meiner Sicht Interessanteste dürfte die Mappe mit Kontoauszügen und dann das Inventarverzeichnis der Gemälde, Zeichnungen, Stiche und Grafikmappen sein.«

»Grafikmappen?« Uplegger schaute sich suchend um. Wo sollten hier solche Mappen Platz gefunden haben?

»Im Homeoffice der Frau. Das ist unten. Aber keinen Schreck kriegen, dort sieht es aus wie nach einem Bombeneinschlag.«

Jonas Uplegger und der Chef hatten nur einen flüchtigen Blick in das Schlafzimmer und dann in das Zimmer des jüngsten Sohnes geworfen, die beide deutliche Zeichen einer hektischen Durchsuchung aufwiesen. Wendel hatte sich in den Keller begeben, um sich die Opfer und die Tatortsituation anzuschauen, sodass Uplegger nur in Begleitung von Pentzien ins Arbeitszimmer der Frau getreten war. Doch Pentzien hatte ihn mit den Worten »Sie sind ja schon groß« allein gelassen, weil er sich um die Arbeit seiner Leute im Garten kümmern wollte.

Uplegger hatte sich noch nicht umgesehen, als Barbara hereinkam. Sie hatte von Pentzien erfahren, wo er sich aufhielt, und den dringenden Wunsch geäußert, sich mit ihm auszutauschen. Zunächst blieb sie wie angewurzelt stehen. »Das sieht ja hier noch katastrophaler aus als im Wohnzimmer!«, bemerkte sie. In das hatte sie soeben einen Blick geworfen.

»Ja. Bis auf das Arbeitszimmer des Mannes wurden alle Räume durchwühlt. Eigentlich kann das nur bedeuten, dass sowohl die Frau als auch der Mann der Folter zunächst standgehalten haben. Wohl sogar lange Zeit, aber irgendwann müssen sie dann doch die Zahlenkombination des Tresors verraten haben.«

»Der Herr über Pinsel und Pinzette meint, sie hätten bisher keine Einbruchspuren gefunden«, sagte Barbara. »Möglicherweise haben sich die Täter unter einem Vorwand Zugang verschafft. Oder sie waren sogar Bekannte. Im schlimmsten Fall Freunde. Wobei es mit Freundschaften wohl eher mau aussah.« Im selben Moment fiel ihr ein, dass der Verfasser der Studie über Lütten Klein auch Mau hieß, und sie musste schmunzeln.

»Tja …« Uplegger widmete sich zunächst den Kunstwerken, die die Wände zierten; es waren überwiegend eher abstrakte oder am Expressionismus und Konstruktivismus orientierte Arbeiten, aber auch ein paar Landschaften und sogar ein Porträt: die Kohlezeichnung einer Frau mittleren Alters. Das Ehepaar Klaas hatte sich eine umfangreiche Sammlung zugelegt, über deren Wert er nicht einmal spekulieren konnte. Ob etwas aus der Kollektion gestohlen worden war, entzog sich ebenfalls seiner Kenntnis, allerdings schien auf den ersten Blick nichts zu fehlen, zumindest nicht an den Wänden. Die Gemälde in Acryl und Öl, die Aquarelle und Zeichnungen, die er in Augenschein nahm, waren allesamt signiert. Manchmal war es mühsam, die Signaturen zu entziffern, und eigentlich war es auch überflüssig, da ja eine Inventurliste vorlag, doch Uplegger hatte nun einmal von seiner verstorbenen Frau ein gewisses Interesse für die Künste geerbt. Die Namen T. Dąbrowski, Anđelko Kos oder Vuk Kovačić sagten ihm nichts, deuteten aber ein Interesse für östliche Künstler an. Eine kleine Landschaftsskizze war von dem Künstler Bukovac signiert, dem er im Arbeitszimmer des Mannes bereits begegnet war, hier nun erfuhr er obendrein den Vornamen: Vlaho. Es gab auch zwei eher expressionistische Aquarelle von einer Küste mit Windflüchtern, die aus dem Pinsel eines gewissen Rolf Kammerer stammten, dessen Namen Uplegger bereits gehört oder gelesen hatte und der seiner Meinung nach in oder bei Rostock lebte. Ein schlichter Holzrahmen enthielt die mit Goldfarbe auf blaues Papier geschriebenen Worte:

RIONER

ICH bin mit dem ersten schmutzigen HINTERN zufrieden, der sich bei mir vorstellt, nur muss er eine HAUT haben, die das LICHT nicht abstößt. ICH HINTERNHAUTLICHT.

Auguste RENOIR

Auch das sollte zweifellos ein Kunstwerk sein.

Über Dorothee Klaas’ Schreibtisch hingen drei Bleistiftskizzen eines Segelschiffs mit geblähtem, aus einzelnen Bildern zusammengesetztem Segel, eindeutig das zum Stadtjubiläum entstandene und im Stadthafen festgemachte SHIP OF TOLERANCE. Auf einer der Skizzen stand die Widmung: For Doro the Best. Emilia & Ilya K.

»Dunnerlittchen!«, entfuhr es Uplegger.

»Was Sie nicht sagen!« Barbara Riedbiester war neben ihn getreten und beugte sich zu den Skizzen vor. »Gott, wie uninteressant! Ich habe etwas, da können Sie mindestens zweimal ›Dunnerlittchen!‹ rufen.«

»Aber sehen Sie denn nicht? Zur 800-Jahr-Feier hat ein russisches Künstlerehepaar … Inzwischen leben sie wohl in den USA, in New York. Ich komme nicht auf den Namen …« Uplegger schnippte mit den Fingern, aber das half seinem Gedächtnis auch nicht auf die Sprünge. »Ka… Kabu…? Ich weiß es nicht. Es sind jedenfalls Konzeptkünstler …«

»Uns bleibt auch nichts erspart«, sagte Barbara. »Konzeptkünstler! Aber noch schlimmer …«

»Frau Klaas muss mit beiden befreundet gewesen sein.«

»Sie sind ja ganz außer Atem vor Begeisterung«, stellte die Hauptkommissarin fest. »Frau Klaas hatte ihre Finger in allen möglichen Sachen: Sie ist Mitglied im Rostocker Kunstverein, sie ist an der Organisation der Rostocker Kunstnacht und der OZ-Kunstbörse beteiligt, sie hat Ausstellungen zum Jubiläum der Städtepartnerschaft Rostock-Rijeka kuratiert und und und. Habe ich etwas vergessen? Ja. Im letzten Jahr war Rijeka europäische Kulturhauptstadt. Es gab ein paar Beiträge aus Rostock, sozusagen freundschaftliche oder partnerschaftliche Beiträge. Maßgeblich beteiligt waren Dorothee Klaas, ihre Galerie und einige von ihr vertretene Künstler. Allerdings waren die Ausstellungsorte dann aufgrund von Corona lange geschlossen, einige Künstler bestanden darauf, ihre Werke nach Ablauf der vereinbarten Zeit zurückzuerhalten, obwohl die Veranstaltungen verschoben oder verlängert worden waren. Die Frau hatte das, was man früher Beziehungen nannte. Oder wie man es heutzutage ausdrückt: Sie war gut vernetzt. Und nun schauen sie doch endlich, was ich gefunden habe!« Barbara hielt ein Buch in der behandschuhten linken Hand und zeigte ihm zunächst die Vorderseite: Unter den Namen von vier Autorinnen stand der Titel Hrvatski za početnike 1. Udžbenik i rječnik. Der Verlag oder Herausgeber belegte ein kleines Feld in der linken unteren Ecke: Hrvatska Sveučilišna Naklada. Darunter befand sich ein kleines Symbol, ein aus 16 winzigen roten Quadraten gebildetes Quadrat, unter dem wiederum stand: Croaticum. Centar za hrvatski kao drugi i strani jezik. »Das allein ist schon furchtbar«, meinte Barbara. »Diese Sonderzeichen …«

»Diakritische Zeichen«, sagte Uplegger.

»Ach, Sie! Wie viel überflüssiges Wissen Sie angehäuft haben. Und nun schauen Sie weiter! Ich habe willkürlich eine Seite aufgeschlagen. Hier!« Sie öffnete das Buch. »Seite 213.« Barbara tippte auf eine Liste von Vokabeln, die offenbar zu einer Übung gehörten, bei der man Sätze ergänzen sollte. Die Sätze begannen mit Ponedjeljkom, Utorkom, Srijedom, Četvrtkom …

»Sieht aus wie die Wochentage«, murmelte Uplegger. »Instrumental …«

»Aber sehen Sie sich mal dieses Wort an!« Barbara wies auf Četvrtkom. »Ein Wort, das nicht nur mit einem Sonder… mit einem dia…?«

»Diakritisch.«

»… mit einem diakritischen Zeichen anfängt, nein, es gibt auch fünf aufeinanderfolgende Konsonanten. Wer soll denn so etwas aussprechen können?«

»Kroaten«, erwiderte Uplegger lapidar.

»Eine Sprache, in der es fünf aufeinanderfolgende Konsonanten gibt … Und in einem Fall, in der womöglich eine solche Sprache eine Rolle spielt, ermitteln wir … Heinrich, mir graut vor dir!«

»Heinrich? Ach, so, natürlich … Sieht so aus, als hätte Frau Klaas Kroatisch gelernt.«

»Genau danach sieht es aus.« Barbara zeigte auf ein Regal, auf dem mehrere Bücher lagen – in den Regalfächern standen dagegen Akten. »Ihre Liebe zu Kroatien muss wirklich riesig gewesen sein. Aber eins sage ich Ihnen, Uplegger, Sie sind derjenige von uns, der sein Abitur an der Herder-EOS gemacht hat. Das war eine Schule mit erweitertem Russischunterricht. Ich weiß es genau, Russisch ab der dritten Klasse.« Sie feixte. »Habe ich nicht gehört, wie sie voll Inbrunst ›Instrumental‹ geflüstert, nein, was sage ich, gestöhnt haben? Alle diese Sprache betreffenden Sachen erledigen Sie!«

»Ich habe fast alles vergessen«, bekannte Uplegger, der sich dem Bücherstapel näherte, auf den seine Kollegin gedeutet hatte. Dieser befand sich neben einer ungefähr 30 Zentimeter hohen Drahtskulptur. Aus dem Draht war ein menschlicher Körper geformt, jedenfalls konnte man das mit etwas gutem Willen vermuten. Zunächst nahm Uplegger eine »Kompaktgrammatik Kroatisch« zur Hand, unter der sich ein Buch mit Verbtabellen befand. Dem folgte eine Broschüre mit dem Titel »Deutsche Lehnwörter in der Stadtsprache von Zagreb«, und er konnte nicht widerstehen, eine beliebige Seite aufzuschlagen. AUFGEREGT, las er, was wenig überraschend aufgeregt bedeutete, darunter das Wort AUFŠNIT für Aufschnitt und AUSPUH für Auspuff, was ihn amüsierte. Das nächste Buch machte bereits vom Titel einen anspruchsvollen Eindruck: »Heidelberger Publikationen zur Slavistik: Grammatikhandbuch des Kroatischen«. »Frau Klaas scheint Kroatisch nicht nur gelernt, sondern regelrecht studiert zu haben«, meinte er. »Mit geradezu wissenschaftlicher Akribie.«

»Tja, bei dieser anscheinend überbordenden Liebe zu Kroatien wohl kein Wunder«, erwiderte Barbara, die sich über die Aktenordner hermachte. Auf den ersten Blick gab es nichts, was ihre Aufmerksamkeit zu fesseln vermochte.

Uplegger schlug auch das Grammatikhandbuch auf. Er las nur die eine Überschrift: Das präsentische Adverbialpartizip – das genügte ihm schon. Eine gewisse Bewunderung für die Tote erfüllte ihn, aber das Buch wollte er sofort schließen. Dann bemerkte er jedoch, dass einige Seiten weiter ein Foto einige Millimeter aus dem oberen Schnitt ragte, das vermutlich als Lesezeichen diente. Er öffnete das Buch an dieser Stelle. Ein sehr hübscher junger Mann lächelte ihn an. »Hier!«, rief er.

Barbara Riedbiester, die stirnrunzelnd vor der Ablage mit der Aufschrift Penelope Pastor verharrte, drehte sich um. Mit dieser Künstlerin hatte sie bei einem früheren Fall zu tun gehabt; ihre Begegnung war nicht der Beginn einer wunderbaren Freundschaft gewesen, sondern hatte viel mehr eine ewige Aversion begründet.

 

»Diente als eine Art Lesezeichen. Sie war bis zum nichtmodalen Vorgangspassiv vorgestoßen …«

»Die Glückliche!« Seine Kollegin kam näher und betrachtete die Aufnahme. Der abgebildete junge Mann war um die 30 und sah aus wie ein Fotomodell. Er war schwarzhaarig, hatte braune Augen und ein strahlendes Zahnpasta-Werbungslächeln – ein solcher Mann kriegte alles herum, was er haben wollte – Frau, Mann, Diverses. Das wusste er, und das Lächeln hatte etwas Selbstverliebtes. Der Fotograf oder die Fotografin hatte nicht nur sein Gesicht aufgenommen, sondern auch seinen vielversprechenden Oberkörper, der in einem quergestreiften Shirt verpackt war und verriet, dass in dieser sterblichen Hülle jede Menge Sport steckte. Den Hintergrund bildete das Bugspriet eines Seglers, dann waren ein Stück Meer in Touristikerblau und in der dunstigen Ferne eine olivgrüne Insel zu sehen, vielleicht auch eine Landzunge. Das Bild sah nach Urlaub aus, nach Sommerliebe oder Kurschatten. Barbara Riedbiester fand es zum Kotzen.

»Hinten steht was drauf«, sagte Uplegger und drehte das Foto um.

Die Kommissarin musste die Augen zusammenkneifen. Seit Jahren hatte sie eine Brille, aber sie setzte sie nicht gern auf, obwohl sie damit wie eine Professorin aussah. Das behauptete jedenfalls ihre beste Freundin Claudia. Barbara wollte nicht wie eine Professorin aussehen. Cavtat, August 2019 entzifferte sie und fragte: »Was ist Cavtat? Oder wo?«

»›Wo?‹ scheint mir die korrektere Frage zu sein«, erwiderte Uplegger, legte die Fotografie auf den antiken Tisch und zückte sein Smartphone.

Sie grinste.

Er wusste, was dieses Grinsen bedeutete, und nahm ihr den Wind aus dem Segeln: »Ja, es ist urkomisch, dass ich bloß ein Nokia habe, also das zweifelhafte Produkt einer ehemaligen Gummistiefelfabrik. Ich bewundere zutiefst Ihr iPhone und bin furchtbar neidisch. Eines Tages lauere ich Ihnen auf dem Heimweg auf, schlage Sie nieder und stehle es. Das wollten Sie doch hören?«

»Nein, ich wollte was über Cavtat hören.«

»Wikipedia behauptet, dass es Tsavtat ausgesprochen wird, nicht ›Kavtat‹. Es ist eine Ortschaft 20 Kilometer südlich von Dubrovnik mit knapp über 2000 Einwohnern. In der Antike gab es dort die griechische Siedlung Epidauros, später eine römische Kolonie namens Epidaurum. Der Hafen ist attraktiv für Jachten. – Das gibt’s doch nicht! – Einer der Söhne der Stadt ist Vlaho Bukovac! Kroatischer Maler.«

»Den kennen Sie wohl?«

Uplegger schwieg. Er tippte den blau hervorgehobenen Namen an und gelangte so zu der Seite über Bukovac. Der Maler hatte von 1855 bis 1922 gelebt und wurde als herausragender Vertreter des kroatischen Jugendstils bezeichnet – dann waren die beiden kleinformatigen Werke im Besitz des Ehepaares Klaas womöglich einiges wert.

»Und in diesem Tsavtat wachsen so schöne Männer?«, fragte Barbara mit Blick auf das Foto.

»An jeder Pinie einer«, sagte Uplegger und steckte sein Telefon wieder ein.

Liselotte Hagemeister fühlte sich unbehaglich. Sie hatte kein Auge zugetan und war während der Nacht immer wieder an das Fenster getreten, von dem aus sie das Nachbarhaus sehen konnte. Inzwischen waren die Strahler im Garten erloschen und abgebaut, aber hinter den erleuchteten Fenstern sah sie immer wieder jemanden in einem weißen Schutzanzug vorbeihuschen. Die Morgendämmerung kroch herauf.

Vom Abtransport der Leichen hatte Frau Hagemeister nichts mitbekommen – oder befanden sie sich noch im Haus? Die alte Lehrerin fröstelte. Sie war nicht neugieriger als andere und wollte die Nachbarschaft keineswegs kontrollieren, aber um sich nach langem Sitzen und Lesen die Beine zu vertreten, kam es häufiger vor, dass sie aus einem Fenster schaute. Manchmal blickte sie in den Garten und schaute den Vögeln zu, sah eine Katze vorbeischleichen oder erfreute sich einfach an den Blumen. Hin und wieder guckte sie auf die Schliemannstraße, auf der aber selten etwas geschah, das sie nicht sofort wieder vergaß. Ja, auch das Haus der Familie Klaas nahm sie gelegentlich in Augenschein. Nun beunruhigte sie das Gefühl, irgendetwas Wichtiges gesehen zu haben. Dass da etwas gewesen war, was die Polizei wissen sollte. Sie wusste aber nicht was.

Ihre frühere Schülerin hatte sie gefragt, ob sie in den vergangenen Tagen, vor allem jedoch am Montag etwas Verdächtiges bemerkt habe. Was war etwas Verdächtiges? An den Vornamen hatte sie sich komischerweise auf Anhieb erinnert, doch wusste sie überhaupt nicht mehr, wie die Kommissarin als Schülerin gewesen war. Durch irgendetwas ausgezeichnet konnte sie sich nicht haben, denn Schüler, bei denen das Leistungspendel in die eine oder andere Richtung ausschlug oder die durch ein besonderes Talent herausragten, vergaß man nicht. Barbara Riedbiester hatte nach Besuchern gefragt, auf der Straße parkenden Fahrzeugen, die noch nie auf der Schliemannstraße gestanden hatten, nach Leuten, die sich auffallend für das Haus interessierten – etwas in dieser Art. Frau Hagemeister hatte nichts zu antworten gewusst. Doch seit geraumer Zeit glaubte sie, dass sie tatsächlich etwas gesehen hatte. Etwas scheinbar Belangloses, wie die Polizistin sich ausgedrückt hatte. Oder etwas, das gar nicht so belanglos war.

Liselotte Hagemeister, die sich zeitlebens gerade gehalten hatte, schlurfte gebeugt in die Küche. Was hatte sie gesehen? Einen Wagen? Nein, eher eine Person. Sie musste sich am Türgriff festhalten, als sie begriff, dass nicht nur sie jemanden gesehen, sondern dass dieser Jemand auch sie angestarrt hatte.

Plötzlich hatte sie furchtbare Angst.