Mörder im Hansaviertel

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»Er?« Uplegger verzog das Gesicht. »Er hatte damals gar keinen Job.«

In dem grau gestrichenen Raum der Galerie Art’s Art befanden sich insgesamt zehn Aquarelle mittlerer Größe und die Tür zu Büro und Küche. Die sehr bunten, ja leuchtenden Kunstwerke zeigten südliche Landschaften mit Pinien, Feigenkakteen, Agaven und Zypressen, aber auch Olivenhaine vor felsigem Hintergrund. Daneben fanden sich zwei Porträts, das eines Fischers, wie die kleine Tafel neben dem Rahmen verriet, und das eines jungen Mannes, der als Wasserballer bezeichnet wurde – die Texte auf den Täfelchen waren deutsch. Den Stil der Bilder, die ihr gut gefielen, würde die unkundige Barbara am ehesten als expressionistisch bezeichnen, aber sie hütete sich, ein solches Wort in den Mund zu nehmen. Neben dem, was im ersten Raum geboten wurde, erregten diese Werke fast so etwas wie Begeisterung in ihr. Die Preise reichten von 500 bis 1250 Euro. Zwei der Tafeln trugen einen roten Punkt, die Bilder waren also verkauft.

Carola Sinzig hatte, während sie Barbara Riedbiester die Bilder zeigte, eine Lanze für Dorothee Klaas gebrochen und immer wieder vehement die Behauptung zurückgewiesen, sie sei arrogant und streitsüchtig gewesen. Die Kommissarin hatte den Eindruck gewonnen, dass sie ihre Chefin nicht bloß lobte, weil man über Tote nur Gutes sagen sollte, sondern dass sie wirklich von deren Kompetenz, Expertise und menschlicher Güte überzeugt war. Ihr war Dorothee offenbar eine gute Chefin gewesen, die ihr viele Freiheiten gelassen und bei der man einiges über die Kunst und den Kunstmarkt hatte lernen können.

Bei der kleinen Galerieführung hatten sie auch weiterhin über die Zuneigung zu Kroatien und zur Adriaküste gesprochen, denn eigentlich beschränkte sich die Liebe auf die Küste – vom Hinterland hatte das Ehepaar Klaas nie etwas gesehen, und das war ja vielleicht grau in grau. Frau Klaas hatte seinerzeit in der Delegation des Rostocker Bürgermeisters auch ihren Mann mitnehmen dürfen, der kurz vorher für die Stadt tätig geworden war: Der Umbau eines kommunalen Gebäudes hatte auf dem Plan gestanden, Michael Klaas hatte den Auftrag erhalten und ausgeführt – damals war allein ein Herr Buchwald sein Sozius gewesen, noch nicht der Sohn. Ursprünglich war nur ein zweitägiger Aufenthalt geplant gewesen. Dorothee und Michael hatten die Zeit außerhalb der offiziellen Termine genutzt, um sich die Stadt anzusehen. Sie hatte sich vor allem auf das Museum der modernen und zeitgenössischen Kunst gestürzt, während er, der sich einige Jahre zuvor aus zweiter Hand eine Segeljacht gekauft hatte, dem See- und Geschichtsmuseum des Kroatischen Küstenlandes seine Aufmerksamkeit gewidmet hatte: Die Seefahrt war eines seiner Steckenpferde, ja überhaupt sein wichtigstes Hobby. Doch auch für die lokale Architektur hatte er sich interessiert, selbst für die sozialistischen Neubauten. Beide waren so enthusiastisch gewesen, dass sie nicht mit der Delegation zurückgekehrt, sondern einen zweiwöchigen Urlaub angeschlossen hatten. So hatte es begonnen: als Liebe auf den ersten Blick.

»Auf Kroatisch«, sagte Carola Sinzig, »heißt es: ›Ljubav na prvi pogled‹. Ich kann sonst kaum ein Wort, obwohl mich Frau Klaas manchmal gebeten hat, Vokabeln abzufragen. Dobro jutro, dobar dan, dobra večer, das kriege ich auch noch hin. Auch die Namen der sieben Fälle, aber ich könnte kein Substantiv deklinieren.« Sie lächelte schwach. »Nur ›Ljubav na prvi pogled‹, das werde ich wohl nie vergessen. Es gibt nämlich das Lied einer bosnischen Folksängerin mit diesem Titel. Hanka Paldum – Frau Klaas meinte, sie sei in ganz Ex-Jugoslawien total berühmt. Gibt von ihr eine ganze Palette von Liebesliedern … Frau Klaas hat sich ein Album von ihr gekauft, von 2013. Irgendwie hat sie es bei einem Trödler in Dubrovnik erstanden, erst voriges Jahr. Oder ein Jahr davor?« Sie hob die Schultern. »Es heißt jedenfalls ›Što svaka žena sanja‹ – wovon jede Frau träumt –, davon hat sie gern den Song von der Liebe auf den ersten Blick gehört, wenn sie im Büro saß. Und ein paar Zeilen mitgesungen.«

»›Wovon jede Frau träumt‹ können Sie auf Kroatisch sagen?!«, bemerkte Barbara und deutete mit fragendem Blick auf Infoflyer, die mangels eines Tisches auf der Heizung lagen.

Carola Sinzig nickte.

Barbara Riedbiester steckte eines der Blätter ein. Die aus den anderen Räumen hatte sie schon. »Sagen Sie«, die Kommissarin ging in den mittleren Raum zurück, zu den altmodischen Landschaften, »das ist jetzt eine heikle Frage: Gab es Leute, die Frau Klaas übelwollten?« Sie setzte sich wieder.

Carola Sinzig war ihr gefolgt, blieb jedoch stehen. »Ich wüsste nicht.«

»Als erfolgreiche Galeristin, Kuratorin und Autorin hatte Frau Klaas sicher Konkurrenten und Neider?«

»Konkurrenten? In Rostock? Kaum.« Das sagte Frau Sinzig im vollsten Brustton. »Neider hatte sie bestimmt. Jeder, der ein bisschen Erfolg hat, ist damit konfrontiert. Ich schreibe eine Diss und möchte nicht wissen, wie viele Leute, die nie eine geschrieben haben, mich darum beneiden. ›Wenn sie es schafft, wird sie Frau Doktor Sinzig sein, dabei kann sie doch gar nichts‹ – es gibt bestimmt ein paar Typen, die so denken. Und bei Ihnen wird es nicht anders sein. Was waren Sie noch mal genau?«

»Kriminalhauptkommissarin«, entgegnete Barbara und überlegte, wer sie wohl beneiden könnte.

»Da gibt es doch bestimmt Leute bei der Polizei, die meinen, dass eigentlich sie das hätten werden müssen …«

»Natürlich.« Barbara lachte. »Solche Leute gibt es immer.« Sie wurde wieder ernst. »Das heißt, auch bei Frau Klaas. Widersacher, Feinde, Neider, Konkurrenten … Frau Sinzig, ich muss das wissen!«

»Mir fällt niemand ein, der sie so sehr gehasst haben könnte, dass …« Carola schluckte, dann setzte sie sich. »Aber es gibt da etwas … Ja, das müssen Sie wissen! Obwohl es mir Frau Klaas unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hat. Aber das gilt ja nicht mehr. Es war … wissen Sie, sie hat nur sehr selten etwas Privates gucken lassen. Aber an diesem Tag …« Sie zupfte an ihrem Tuch. »Das muss vor zwei Wochen gewesen sein. Sie hatte gerade mit ihrem Mann telefoniert und kam ganz aufgewühlt aus dem Büro. Ihr Mann hatte einen Drohanruf erhalten.« Carola Sinzig atmete heftig aus.

Barbara Riedbiester beugte sich vor und fixierte aufmerksam ihr Gegenüber. »Einen Drohanruf?«

»Ja.«

»Welchen Inhalts?«

»Es ging um den Sohn. Den jüngsten, Jakob. Der ist jetzt 13 und spielt – ich weiß nicht, seit wann – Fußball. Bestimmt, seit er laufen kann. Er ist wohl ein Riesentalent und war zwei Jahre an der Hansa-Nachwuchsakademie. Die arbeitet wohl eng mit Hertha BSC zusammen, und das ist immerhin Bundesliga, also nicht so wie Rostock … Irgendwann kamen Scouts aus Berlin, haben sich die Jungs angeguckt und Jakob zu einem Probetraining eingeladen. Sie waren so begeistert von ihm, er ist jetzt in Berlin im Internat und wird dort trainiert. Also, die machen da wohl so eine Sommerakademie, deshalb ist er schon dort. Richtig los geht’s dann nach den Ferien.«

»Und was hat es mit den Drohungen auf sich?«

»Ach ja, natürlich. Als sich das im Verein rumgesprochen hatte, hat jemand bei Herrn Klaas angerufen – ein Mann. Und er hat gesagt: Wenn er Jakob nicht zurückholt und Platz macht für wirkliche Talente, dann wird dem Jungen etwas geschehen.«

»Das ist doch total geistesgestört!«, empörte sich Barbara. »Ich meine, es geht um Fußball. Um ein Spiel!«

»Ich kann Ihnen nur sagen …«

»Selbstverständlich. Wissen Sie nur von dem einen Anruf?«, fragte die Kommissarin und zückte ihr Telefon.

»Ich glaube, es gab noch mehr«, sagte Carola Sinzig. »Frau Klaas hat nicht mehr davon gesprochen, aber es kamen noch einige Anrufe von ihrem Mann, nach denen war sie wieder so verstört. Aber auch wütend.«

»Kann man ja verstehen«, murmelte Barbara und wählte Upleggers Nummer. Niemand ging an den Apparat. Sie schaute auf die Uhr: Wahrscheinlich war er in die Kantine gegangen und hatte sein Smartphone auf dem Schreibtisch vergessen, was in letzter Zeit häufiger vorkam. Mit einem Seufzer wandte sie sich wieder Carola Sinzig zu.

Jonas Uplegger hatte sich für einen großen Salat entschieden, Ramona Brinkhart für eine Boulette mit Bratkartoffeln; dazu hatte sie sich eine solche Unmenge von Senf auf den Teller getan, dass sie eigentlich nicht nur Boulette, sondern auch Bratkartoffeln mit Mostrich aß. Während sie ihre Tabletts zu einem freien Tisch bugsierten, berichtete Uplegger über Michael Klaas. »Er ist Ur-Rostocker«, erklärte er, »Jahrgang 1970, also etwas jünger als ich. Als er 1988 sein Abitur machte, war die Wende noch nicht abzusehen, und er musste sogar noch zur NVA.« Uplegger hatte einen Tisch gewählt und stellte sein Tablett ab. »Die Nationale Volksarmee«, fügte er hinzu.

»Das weiß ich doch. Aber wie hießen diese Schulen noch? Eure Gymnasien?«

»Erweiterte Oberschule, kurz EOS. Er hat die 1. EOS besucht, die nach Ernst Thälmann benannt war.«

»Der war ein Kommunist?«

Uplegger nickte und setzte sich. »Ein Stalinist. Wurde von den Nazis im KZ Buchenwald ermordet. Barbara, also die Kollegin Riedbiester, war auch dort. An der 1. EOS, nicht im KZ Buchenwald.«

»Ach, nein?« Ramona nahm ihm gegenüber Platz und grinste. »Also, Klaas hat sein Abitur gemacht und war dann bei der Armee?«

Jonas nickte. »Er hat seine anderthalb Jahre noch abgerissen und dann studiert. Ich weiß nicht, ob die TU München seine erste Wahl war, denn darüber liegen mir keine Unterlagen vor. Jedenfalls hat er in München Architektur studiert, von 1992 bis 1997. Es fehlen also ungefähr zwei Jahre, über die ich nichts weiß.« Er nahm einen Bissen von seinem Salat und zuckte zusammen: Irgendwie schmeckte er eigenartig.

Ramona Brinkhart hingegen schaufelte die Bratkartoffeln in sich hinein. Sie wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab, bevor sie sagte: »Er könnte gejobbt haben.«

 

»Nehme ich auch an. Damals hat er studiert und eine Arbeit über ein Thema geschrieben, das mich etwas überrascht hat: nämlich über den isländischen Säulenbasalstil.«

Brinkhart schaute ihn groß an. »Worüber?«

»Den isländischen Säulenbasalstil. Den genauen Titel der Arbeit konnte ich mir nicht merken – irgendetwas mit Adaption und Transformation. Auch weiß ich weder, was der Säulenbasalstil ist, noch warum man an der TU München eine Diplomarbeit über ihn braucht. Aber er hat sein Diplom bekommen, kehrte nach Rostock zurück und war arbeitslos.« Er nahm noch etwas von dem Salat und blickte dann äußerst kritisch auf den Teller. Wie er schon des Öfteren beobachtet hatte, stammte das Dressing aus einem großen Plastikeimer, was ja nichts Gutes verheißen konnte. Mit diesem Verfall der Esskultur hatte er sich abgefunden, schließlich war dies hier eine Polizeikantine und kein Gourmetrestaurant, in dem man nicht sehen konnte, wie das Dressing aus großen Plastikeimern umgefüllt wurde. Bisher hatte es aber nicht nach den Giften geschmeckt, die es zweifellos enthielt. Heute war es anders. Uplegger schob den Teller beiseite.

»Hatten sie dann nicht schon Kinder zu ernähren?«, wollte Brinkhart wissen. Sie hatte Boulette und Bratkartoffeln besiegt und sah aus, als könne sie noch einen Nachschlag vertragen.

Uplegger nickte. »Der Erstgeborene Johannes kam 1994 zur Welt und …«

»Das heißt, sie haben ihn in dem Jahr produziert, als sie sich kennenlernten?«

»Vielleicht am Tag des Kennenlernens? Ich weiß es nicht. Ein Jahr später kam Miriam. Er war also noch Student. Vielleicht haben ihre Eltern sie unterstützt?«

Die Eltern von Michael Klaas waren vor einigen Jahren kurz nacheinander gestorben, wie es bei sehr symbiotisch lebenden Ehepaaren nicht selten der Fall war. Der Vater, Gerhard Klaas, hatte ein Alter von 77 Jahren erreicht, die Mutter war 75 geworden. Sie hatten erst sehr spät Kinder bekommen, zunächst den Sohn Andreas, also den älteren Bruder von Michael, dann den Geschädigten. Andreas Klaas lebte in Neuseeland. In seinem Fall hatte Uplegger noch nichts weiter unternommen, als den Totenschein an das Auswärtige Amt zu faxen. Das würde sich um alles Weitere und gegebenenfalls auch um Amtshilfe der neuseeländischen Behörden kümmern, was bei einem so hochwichtigen Ministerium natürlich dauern würde. Im Übrigen war Vater Klaas ein gebürtiger Rostocker gewesen, während seine Frau aus Dresden stammte.

Akademiker waren die Eltern nicht gewesen: Der Vater hatte als Obermeister in der Lehrausbildung des Dieselmotorenwerks gearbeitet, die Mutter Hildegard als Programmiererin im VEB Datenverarbeitungszentrum Rostock. Immer wieder kam es bei den Ermittlungen vor, dass man auf Betriebe stieß, die es schon lange nicht mehr gab, deren Namen aber mit Kindheit und Jugend verbunden waren und auch noch mit den ersten Jahren bei der Polizei. Das DMR und die Werften, das Fiko genannte Fischkombinat und der Überseehafen – das waren einst Begriffe für jeden Rostocker. Nun, die Werften gab es ja noch, den Hafen auch. Vieles war verschwunden, ausgelöscht von der Geschichte, nur noch eine Erinnerung und ein Aktenstapel im Stadtarchiv oder wo immer. Nach dem Ende des DVZ hatte Hildegard Klaas an der Kasse einer Aldi-Filiale gearbeitet, war aber nach wenigen Jahren in den Vorruhestand getreten, während ihr Mann als Schlosser bei einem Kleinbetrieb untergekommen war, der eine alte Werkstatt auf dem DMR-Gelände übernommen hatte. Er hatte noch seine letzten Jahre bis zur Rente abgerissen, dann war auch er Pensionär geworden. Gewohnt hatte das Ehepaar in der Südstadt, in der Nähe seiner Arbeitsplätze und in einem Häuserblock parallel zu dem von Upleggers Eltern, die aber inzwischen aus Rostock fortgezogen waren. Uplegger hätte Michael Klaas und dessen Bruder also von Kindesbeinen an kennen können, die Eltern natürlich auch. So klein war die Welt … An eine Familie Klaas erinnerte er sich allerdings nicht.

Während Ramona Brinkhart noch einmal zur Essenausgabe schielte, wollte Uplegger gerade ein paar Worte zu den Kindern der Opfer verlieren, doch da trat Manfred Pentzien zu ihnen und wuchtete sein Tablett auf den Tisch. Darauf standen ein Pott Kaffee und ein Teller mit drei Stück Streuselkuchen. »Noch was frei?«, erkundigte er sich. Bevor Ramona oder Jonas antworten konnten, saß er schon.

»Ich wollte gerade anrufen«, behauptete Uplegger.

»Jetzt im Moment?«

Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich wieder im Büro bin.«

»Nun ist ja der Berg zum Propheten gekommen«, sagte Pentzien.

»Ich befasse mich mit dem persönlichen Umfeld. Familie hab ich schon, aber wie steht es mit Freunden, Bekannten, Kollegen et cetera? Mit anderen Worten: Wie weit ist die Handy-Auswertung?«

»Fehlanzeige.« Pentzien nahm ein Kuchenstück in die Hand und biss hinein.

»Fehlanzeige?«

Pentzien nickte, kaute aber zunächst bedächtig und schluckte dann – so viel Zeit musste sein. »In dem Haus waren keine Handys. Keine Smartphones. Keine Tablets.« Pentzien mampfte den nächsten Bissen, und eine Pause trat ein. »Aber der Hammer überhaupt: In den beiden PCs, die wir mitgenommen haben, befanden sich keine Festplatten.«

»Was?« Uplegger schaute sein Gegenüber verdutzt an.

»Die Täter hatten es darauf abgesehen, bestimmte Daten in ihren Besitz zu bekommen oder sie zu vernichten«, sagte Pentzien. »Das ist natürlich nur eine Theorie, aber …«

Uplegger war aufgesprungen. Diese Nachricht war so wichtig, er musste sie sofort dem Chef und auch Kollegin Riedbiester mitteilen.

»Der Kuchen schmeckt scheiße«, sagte Pentzien.

»Ach? Wonach schmeckt er denn?«

»So wie der von Ihnen verschmähte Salat: nach konventioneller Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie«, erwiderte Pentzien und brach in lautes Lachen aus.

Kommissarin Riedbiester hatte gerade den Hof der Schlosserei Pehlke verlassen, als sie Upleggers Anruf erreichte. Das Gespräch veranlasste sie, ihrerseits zwei Telefonate zu führen, eins mit der KTU und eins mit Carola Sinzig. Der Besuch beim Handwerksbetrieb Pehlke, von denen Schloss und Schlüssel zum Haus der Familie Klaas stammten, hatte ein negatives Ergebnis erbracht: Duplikate der beiden Schlüssel, mit denen man das Haustürschloss öffnen konnte, hatte niemand in Auftrag gegeben. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass Meister Pehlke, einer der Gesellen oder der Lehrlinge mit den Tätern unter einer Decke steckten, aber das erschien Barbara im Moment eher abwegig.

Ausgestattet mit jeder Menge Infomaterial hatte sie vor einer knappen halben Stunde die Galerie verlassen und sich, nachdem sie die Tür versiegelt hatte, auf den Weg zur Dienststelle gemacht. Die Schlosserei befand sich in der Doberaner Straße, lag also am Weg. Bis in die Ulmenstraße war es nur noch ein Katzensprung, doch musste sie umkehren, weil sie einen Kriminaltechniker in die Galerie bestellt hatte. Schicksalsergeben fuhr sie zurück.

Allzu viel hatte sie über Dorothee Klaas und ihren Mann nicht mehr in Erfahrung bringen können, wobei die Sache mit den Drohanrufen bereits ausreichte, um ihre Fantasie zu beflügeln. Sie hatte trotzdem noch einiges wissen wollen, auch zu Kovačić, weil sie die Anrede »Wolf Schmidtchen« doch ziemlich intim fand. So hatte sie erfahren, dass sich Dorothee und Michael Klaas im Herbst 2018 einen Traum erfüllt hatten und für zehn Tage nach New York gereist waren. Dort hatten sie auch das Museum of Modern Art besucht, Frau Klaas mehr wegen der Dauerausstellung, während sich Herr Klaas vor allem für die Sonderexhibition »Toward a Concrete Utopia: Architecture in Yugoslawia 1948–1980« interessiert hatte, wobei natürlich Jugoslawien auch Dorothees Aufmerksamkeit hervorgerufen hatte. Dieser Museumsbesuch erklärte nicht nur den Katalog in Michaels Arbeitszimmer, sondern lieferte eine weitere Erklärung: Das Museum für die Geschichte Bosnien-Herzegowinas in Sarajevo war von den Architekten Boris Magaš und Edo Šmidihen entworfen worden, und den zweiten Namen sprach man beinahe wie Schmidtchen aus. Der Nickname für den Dubrovniker Aquarellisten enthielt also so viel Understatement, man brauchte mindestens drei Abiture, um es zu verstehen.

›Das Museum für die Geschichte Bosnien-Herzegowinas in Sarajevo‹, dachte Barbara, während sie sich dem Volkstheater näherte, Rostocks prominentester Ruine. ›Ich bin im falschen Film. Und Abiture? Gibt es von Abitur überhaupt eine Mehrzahl? Oder ist es eines dieser Worte, von denen es nur den Singular gibt und die daher Singulare… Singularetan…?‹ Sie musste voll auf die Bremse gehen, weil plötzlich Menschen auf die Straße liefen. Die Straßenbahn, die in die Haltestelle Volkstheater eingefahren war, hatte sie kaum wahrgenommen, in Gedanken versunken, wie sie war. Die Gerechtigkeit verlangte, zuzugeben, dass Straßenbahnen an Haltestellen anhalten und Menschen ein- und aussteigen durften – aber doch nicht, wenn Barbara kam!

Als sie auf dem Alten Markt eintraf, war noch niemand von der KTU vor Ort, was sie auch nicht erwartet hatte. Da sie den Schlüssel an sich genommen hatte, schloss sie auf, löste das Siegel und betrat die heiligen Hallen der hehren Kunst. Wie eine schallende Ohrfeige empfand sie abermals die Arbeiten von Penelope Pastor, sodass sie sich sogleich zu den vorpommerschen Landschaften flüchtete. In dem zitronengelben Raum setzte sie sich in einen der Sessel, zog die Flyer aus der Tasche und begann, sich in die Ergüsse der Galeristin zu vertiefen. Zunächst überflog sie die Texte zu Pastor & Franke, in denen viel von postutopischem Zeitalter, konzeptueller Gravitation, Diversität, Ambiguität und Transformationsprozessen die Rede war, die Barbara also nicht kapierte, wobei sie sich fragte, ob Dorothee Klaas das Geschriebene verstanden oder ob sie nur in den Kasten mit den Versatzstücken gegriffen hatte. Mit einem unwilligen Kopfschütteln legte Barbara Riedbiester das Blatt beiseite, besann sich auf ihren Notizblock und holte ihn hervor. Hier hatte sie die fundamentalen Aussagen zur Kunst notiert, die Franke in seinem Goldstaub-Œuvre verwendet hatte. Die Ermittlerin hatte sie aufgeschrieben, um irgendwann einmal damit protzen zu können.

Ars est homo, additus naturae, hatte der englische Philosoph Francis Bacon formuliert. Das rief ungute Erinnerungen an den Lateinunterricht, aber auch eher positive an Frau Hagemeister hervor, die sich redlich mit ihren Schülern gequält hatte. Diesen Satz konnte Riedbiester erfassen: Die Kunst ist der Mensch plus die Natur. Oder vielleicht umgekehrt: Die Kunst ist die Natur plus der Mensch? Egal. Ich will die Kunst ermorden, hatte Juan Miró gesagt oder geschrieben, und von Ossacip alias Picasso stammten die schönen Sätze: Man bezeichnet mich als einen Sucher. Ich suche nicht, ich finde. Sogar die Pastor hatte dieser Herr Franke zitiert: Untergänge leuchten. Das gefiel ihr, aber sie durfte es um keinen Preis zugeben, nicht einmal vor sich selbst.

Barbaras Magen knurrte, und sie schaute auf die Uhr. Eine Mittagsmahlzeit wäre nicht zu verachten, doch musste sie sich noch gedulden. Von Carola Sinzig hatte sie erfahren, dass Frau Klaas wie erwartet einen Computer im Geschäft hatte und sie jederzeit auf alle Daten ihres häuslichen PCs zugreifen konnte; das war absolut notwendig für jemanden, der an mehreren Orten arbeitete. Außerdem hatte Dorothee ein Tablet besessen, das sich vielleicht in ihrem Büro befand. Die Kommissarin wollte es aber nicht betreten, sondern es der KTU überlassen, denn vielleicht waren die Täter auch hier gewesen, wenn es ihnen nur um Daten gegangen war? Wobei es auch in der Galerie keine Einbruchspuren zu geben schien, jedenfalls auf den ersten Blick.

Barbara griff wieder nach dem Infomaterial und suchte nach den Blättern über Wolf Schmidtchen. Es traf sie wie ein elektrischer Schlag: Vuk Kovačić war der muskulöse junge Schönling auf dem Foto, das Dorothee als Lesezeichen gedient hatte.

Uplegger hatte sich einen Dienstwagen geschnappt und war nun auf dem Weg zum Architekturbüro Klaas & Klaas GbR, das der Tote gemeinsam mit seinem Sohn betrieben hatte. Das Unternehmen hatte sein Büro in einem Neubau auf der Holzhalbinsel, einst ein Holzhandelsplatz, inzwischen eine sogenannte Toplage. Die Bebauung war natürlich umstritten, aber Streit gab es ja immer, wenn etwas gebaut wurde. Das entschiedenste Verdikt hatte das Parkhaus getroffen, seiner exorbitanten Hässlichkeit wegen und weil es wegen seiner Lage so etwas wie eine Visitenkarte am Eingang zur Stadt darstellte. Uplegger musste zugeben, dass es wirklich ein grauenhaft schlechtes Bauwerk war, wobei er andererseits aber auch noch nie schöne Parkhäuser gesehen hatte, und als Visitenkarte fungierten an dieser Stelle doch wohl eher die Petrikirche und die hohe Stadtmauer. Aber die Leute brauchten immer etwas zu meckern. Umstritten waren auch weitere Bauten, gegen die sich vor allem die Besitzer von Eigentumswohnungen aufgelehnt hatten; seitdem waren einige Jahre vergangen, aber Uplegger erinnerte sich noch an Formulierungen wie »gestalterisch verfehlte, massive ufernahe Bebauung« oder »Gefährdung von Biotopen«, also die üblichen heuchlerischen Argumente von Leuten, die sich Eigentumswohnungen leisten konnten. Die Wahrheit sah anders aus: Sie wollten einfach nicht so viele Menschen in ihrer Nähe haben, vor allem keine Kinder, die Lärm machen konnten. Und natürlich wollten sie die Uferwege und die Biotope allein für sich. Mit einer gewissen Schadenfreude hatte Uplegger später registriert, dass das inkriminierte Ensemble gebaut worden war, Proteste hin oder her.

 

Die Firma Klaas & Klaas hatte neben den Eigentümern zwei Mitarbeiter, einen festangestellten Architekten namens Martin Buchwald und einen Praktikanten, der an der Hochschule in Wismar Architektur studierte und Jörn Kolbe hieß. Von ihnen wurde Uplegger erwartet. Beide wussten Bescheid.

Das Architekturbüro teilte sich eine Etage mit einer Zahnarztpraxis und einer Anwaltskanzlei, aus Upleggers Sicht Gelddruckmaschinen, obwohl er eigentlich wusste, dass es bloße Vorurteile waren, viele Anwälte und auch etliche Architekten mussten sich ganz schön nach der Decke strecken, und die Zahnärzte standen längst nicht mehr an der Einkommensspitze, sondern die Radiologen. Was waren das für dumme Gedanken? Wuchs mit seinem Geiz auch noch der Sozialneid?

Das Büro befand sich hinter einer Front aus Milchglas, in die der Schriftzug Klaas & Klaas GbR Architekten eingeritzt oder eingeätzt worden war. In diese Front war eine gläserne Tür eingelassen, auf der sich die Telefonnummern, die Web- und die E-Mailadresse des Unternehmens befanden. Neben der Klinke gab es einen Klingelknopf, den Uplegger betätigte.

Eine Melodie ertönte, wenig später wurde von einem rothaarigen jungen Mitarbeiter geöffnet, dessen Nase mit Sommersprossen gesprenkelt war und der beinahe wie der junge Prince Henry aussah, der seit geraumer Zeit kein Prinz mehr war. »Sie sind sicher der Mann von der Kripo?«, fragte er.

Gewiss handelte es sich um den Studienpraktikanten. Uplegger nickte und nannte seinen Namen.

Der Mann ließ ihn ein. Sofort betrat man einen großen, länglichen Raum, der an einer breiten Fensterfront endete. Eine recht nahe Häuserfront gegenüber verriet, dass man nicht auf die Warnow schauen konnte. In der Nähe des Fensters standen sich zwei Schreibtische gegenüber, die große Bildschirme trugen. Ein langer Tisch, der einem Tapeziertisch ähnelte, aber zweifellos ein Designerstück war, nahm fast den ganzen übrigen Raum ein. Auf ihm waren Zeichnungen ausgebreitet, außerdem stand dort das Modell einer Wohnanlage mit fünf sogenannten Stadthäusern. Zeichnungen hingen auch an den Wänden, daneben Fotos von bekannten Bauwerken wie dem Chrysler Building, dem Opernhaus in Sydney oder der Berliner Philharmonie. Darunter befanden sich aufgereiht niedrige Regale, die Akten und Bücher enthielten. Sowohl die Wände als auch die Möbel waren in Weiß gehalten. Uplegger war ein wenig enttäuscht, hatte er doch mit Reißbrettern gerechnet, an denen Menschen mit Tusche zeichneten, aber das war wohl eine Vorstellung aus dem vorigen Jahrhundert.

Auf halbem Weg zwischen Fenster und Eingang stand ein Mann, der außerordentlich schlank war. Während der Praktikant Jeans, Sweatshirt und Turnschuhe trug, hatte er ein dunkelblaues Sakko an, darunter ein graues T-Shirt. In seine langen, bräunlichen Haare, die er im Nacken zu einem Zopf gebunden hatte, war ebenfalls Grau gemischt. Er trug eine randlose Brille und glich eher jenen Sozialarbeitern, die niedrigschwellige Angebote machten. Auch er hatte Bluejeans an, aber seine rahmengenähten Halbschuhe, das sah Uplegger sofort, waren edle Fabrikate. So salopp dieser Mann gekleidet war, auf gutes Schuhwerk schien er Wert zu legen.

»Guten Tag! Martin Buchwald«, sagte er und seufzte, »tja … guter Tag klingt fast zynisch. Möchten Sie Platz nehmen?« Er deutete auf einen der Klappstühle an dem langen Tisch. »Dürfen wir Ihnen etwas anbieten?«

»Nein, danke.« Uplegger blieb zunächst stehen. »Hat Herr Klaas auch in diesem Raum gearbeitet?«

Buchwald schüttelte den Kopf. »Er und sein Sohn haben sich das Kabuff geteilt.« Er deutete auf eine Milchglastür, an deren Stelle die linke Regalreihe unterbrochen wurde. Dann ging er auf sie zu und öffnete sie. »Kabuff, so haben sie es getauft.« Er langte mit der rechten Hand um die Ecke, und das Deckenlicht flammte auf. »Bitte! Sie wollen sicher einen Blick hineinwerfen.«

Uplegger trat näher. Das Zimmer war nicht so klein, wie die Bezeichnung Kabuff erwarten ließ, allerdings gab es kein Fenster, sodass es allein vom Kunstlicht erhellt wurde. Auch hier standen sich zwei Schreibtische gegenüber, beide ebenfalls mit großen Monitoren bestückt. Dann gab es noch einen quadratischen Beistelltisch, der an die linke Wand gerückt war und auf dem zu Upleggers Freude ein A1-Reißbrett stand, nur eben eines, das man auf den Tisch stellen konnte, was ihn wiederum enttäuschte. Außerdem hatte man in die Ecke hinter dem linken Schreibtisch ein mobiles Whiteboard geschoben, neben einen breiten weißlackierten Metallschrank. Zeichnungsrollen standen in speziellen Behältnissen, auch waren wieder die mit Akten und Büchern bestückten niedrigen Regale vorhanden. Das Weiß des Raumes hatte nicht nur etwas Klinisches, es schmerzte auch in den Augen. Es waren allerdings Architektenleuchten an den Schreibtischen befestigt, sodass sie wahrscheinlich das Oberlicht ausgeschaltet hatten, wenn sie arbeiteten, denn anders konnte man es hier nicht lange aushalten.

Uplegger war etwas aufgefallen. Er drehte sich zu Buchwald um, der in der Tür stehengeblieben war. »Sie haben ja gar keine Möglichkeit, sich einen Kaffee oder Tee zuzubereiten«, stellte er fest.

»Doch, doch. Draußen gibt es eine Kaffeeküche, da kann man sich sogar eine Mahlzeit in die Mikrowelle schieben. Wir teilen sie uns mit den Rechtsverdrehern.«

Im Kabuff hingen keine Aufnahmen von Bauwerken an den Wänden, auch keine Entwürfe oder andere Planzeichnungen. Über dem Tisch mit dem Zeichenbrett gab es zwei gerahmte Plakate großen Formats, eines von einer Bauhausausstellung des Jahres 2019 und eines von der Exhibition der Kunsthalle zum Partnerschaftsjubiläum. Darüber hinaus hatte man drei große Farbfotos aufgehängt, ebenfalls in Rahmen: zunächst eine Autofähre mit geöffneter Bugklappe, im Hintergrund ein paar Kräne und eine Bergkette, die sich der Logik entsprechend auf einer Landzunge oder einer Insel befinden musste. Das Schiff hieß MARKO POLO und gehörte einer Reederei namens Jadrolinija, so jedenfalls verkündete ein Aufsteller am Kai. Die Fähre kam Uplegger irgendwie bekannt vor, obwohl es sich nicht um die in Rostock handeln und es hier auch keine solche Reederei geben konnte.

»Sie versuchen sich zu erinnern, wo Sie den Pott schon gesehen haben?«, fragte Martin Buchwald mit einem Schmunzeln. »Die Fähre hat mehr als 30 Jahre auf dem Buckel. Oder wie sagt man das maritim? Unterm Kiel? Irgendwann ist sie auch mal für ein Jahr zwischen Rostock und Trelleborg gefahren, in Charter. Aber das dürfte 20 Jahre her sein.«

»Ach, daher«, sagte Uplegger. Vor 20 Jahren hatte sein Sohn das Licht der Welt erblickt. »Jetzt aber …?«

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