Seewölfe - Piraten der Weltmeere 675

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 675
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Impressum

© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-96688-089-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Frank Moorfield

Der Dämon des Meeres

Auf den Lakkadiven lauern teuflische Überraschungen auf die Arwenacks

Man schrieb den Monat August im Jahre des Herrn 1599.

Der Sturm, der vor einigen Tagen über Südindien und die Weite des Arabischen Meeres hinweggefegt war, hatte auch die Inselgruppe der Lakkadiven nicht verschont.

Doch die zerrupft aussehenden Wipfel der Kokospalmen waren nicht der Grund, warum die braunhäutigen Männer, die mit zwei vollbeladenen Baththelis in die Bucht segelten, mißtrauisch zum Strand hinüberblickten. Was sie in Unruhe versetzte, war vielmehr die gespenstische Stille und Leere an einem Ort, von dem aus man ihnen sonst erwartungsfroh zuwinkte …

Die Hauptpersonen des Romans:

Abdelkebir el Barudi – wird für den „Dämon des Meeres“ gehalten und führt sich dementsprechend auf.

Gandalal – handelt als Küstenfahrer mit Bananen und Gemüse und wird mit seinen Leuten unversehens zum Sklaven degradiert.

Sir Thomas Carnavon – obwohl sein Schiff auf einem Korallenriff festsitzt, lehnt er jegliche Hilfe ab.

Edwin Carberry – nutzt mit seinen vier Kameraden und dem Pulveraffen Clint Wingfield die Gunst des Augenblicks, um von der Fahne zu gehen.

Philip Hasard Killigrew – kann endlich aufatmen, daß er seine ganze Mannschaft wieder beisammen hat.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Obwohl die Baththelis bis zur Grenze ihres Fassungsvermögens mit Bananen und Gemüse beladen waren, glitten sie mit bewundernswerter Leichtigkeit durch das blaugrüne Wasser der Bucht.

Die etwa fünfzehn Yards langen und sechs Yards breiten Boote führten ein zweites Vorsegel und hatten eine Hütte an Bord. Damit konnten auch längere Reisen zwischen den Atollen unternommen werden. Seile aus Kokosfasern und Holzstifte hielten die aus Kokospalmholz gebauten Bootsrümpfe fest zusammen. Der geringe Tiefgang erlaubte es den Baththelis, die zahlreichen Lagunen und Riffkanäle zu befahren.

Das Mißtrauen an Bord wuchs.

Der alte Mann, der hoch aufgerichtet im Boot stand, strich sich gedankenverloren über das weiße Kraushaar. Sein nackter ausgemergelter Oberkörper ließ jede einzelne Rippe erkennen.

„Das ist wirklich merkwürdig“, sagte er. „Nicht mal ein Fischerboot ist zu sehen.“

Einer der jüngeren Männer nickte. „Du hast recht, Gandalal. Irgend etwas stimmt da nicht. Vielleicht hätten wir gar nicht erst in diese Bucht segeln sollen.“

Die Blicke der Männer wanderten über den Strand, doch es dauerte eine Weile, bis die ersten Hütten im Schatten der Palmen und der übermannshohen Scaevolabüsche zu erkennen waren.

Der weißhaarige Alte hatte es als Händler zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Bei seinen früheren Besuchen war die Bucht stets von buntem Leben und Treiben erfüllt gewesen. Während die Frauen an den Feuerstellen die Mahlzeiten zubereiteten, hatten sich die Männer, die nicht zum Fischen auf die See hinausgesegelt waren, mit ihren Dhonis – jenen wendigen Booten, die von einem Lateinersegel angetrieben wurden – mit der Reparatur der Netze beschäftigt. Die Kinder spielten am Strand oder tummelten sich im klaren, warmen Wasser.

Jetzt aber war alles wie ausgestorben. Die einzigen Laute, die an die Ohren der Männer drangen, war das Geschrei der Möwen und Seeschwalben.

Tulsi, der jüngere Mann, deutete plötzlich zu dem üppigen Grün, das teilweise wie eine Mauer vor dem Dorf aufragte.

„Viele Hütten sind zerstört!“ rief er, und seine Stimme klang erregt. „Wir sollten sofort umkehren, Gandalal. Hier muß etwas Schreckliches passiert sein.“

„Vielleicht war’s der Sturm“, sagte einer der anderen Männer. „Es könnte doch sein, daß die Dorfbewohner bei den ersten Anzeichen des Sturms ins Innere der Insel geflohen sind.“

Der alte, weißhaarige Mann wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.

„Das mag sein“, erwiderte er. „Doch der Sturm ist längst vorbei. Warum sind sie dann nicht zurückgekehrt, um die Schäden auszubessern?“

Darauf wußte niemand eine Antwort. Auf beiden Baththelis herrschte Ratlosigkeit. Keiner der Männer konnte sich daran erinnern, jemals vor einer solch mysteriösen Situation gestanden zu haben. Das Leben auf den Lakkadiven spielte sich im allgemeinen recht friedlich ab. Außer den gelegentlichen Stürmen, die über die Inseln hinwegbrausten, wurde das Dasein der Inselbewohner nur selten getrübt.

„Ich habe kein gutes Gefühl. Wir sollten nicht an Land gehen“, sagte Tulsi, ein schlanker, mittelgroßer Bursche mit tiefbrauner Haut und pechschwarzen Haaren.

Das Gesicht des alten Mannes drückte Besorgnis aus.

„Und was soll mit unserer Ladung geschehen? Das Gemüse wird vertrocknen und die Bananen werden verfaulen, wenn wir umkehren, um eine andere Insel anzulaufen. Niemand wird uns die verdorbene Ware abkaufen.“

„Hier werden wir nicht mal die frische Ware los“, entgegnete der junge Mann. „Oder siehst du jemanden, der unsere Ladung in Empfang nehmen könnte?“

Gandalal schüttelte den Kopf.

„Das nicht“, antwortete er. „Aber vielleicht sollten wir eine Weile hier in der Bucht warten. Irgendwann zeigt sich bestimmt jemand dort drüben am Strand. Wenn nicht, dann könnten wir um das Atoll herumsegeln, bis man auf uns aufmerksam wird.“

Der alte Mann wollte nicht auf das Geschäft mit den Inselbewohnern verzichten. Er versuchte, zu retten, was zu retten war.

Tulsi aber sah man deutlich an, daß er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte.

„Die Entscheidung liegt allein bei dir, Gandalal“, sagte er schließlich. „Und gebe Allah, daß es eine weise Entscheidung ist, die du fällen wirst. Vergiß nicht, daß keiner von uns weiß, was auf dieser Insel vorgefallen ist. Außerdem …“ Er brach seine Rede ab, als sei er im Begriff, voreilig etwas auszuplaudern.

„Sprich weiter“, sagte Gandalal.

Tulsi wirkte etwas verlegen. „Außerdem“, fuhr er fort, „erzählt man sich auf einigen anderen Inseln, Jinni, der Dämon des Meeres, sei zurückgekehrt.“

Der weißhaarige Alte erschrak.

„Bei Allah und seinen Propheten – was redest du da, Tulsi? Allein das Aussprechen dieses verfluchten Namens ist bereits eine Sünde. Hast du etwa auf das Geschwätz gehört?“

Tulsi starrte betreten auf die Planken, dann schüttelte er den Kopf.

„Nein, Gandalal. Ich habe auf verschiedenen Inseln davon gehört, und zwar von Männern, auf deren Worte man sich verlassen kann.“

Die Blicke des Alten schienen plötzlich in weite Fernen gerichtet zu sein.

„Es ist schon viele Generationen her“, sagte er mit etwas brüchiger Stimme, „und der wahre Glauben hatte unsere Inseln und die weiter im Süden gelegenen Atolle der Dhivehi noch nicht erreicht, als der ‚Dämon des Meeres‘ unsere Ahnen Monat für Monat heimsuchte. Er forderte als Opfer stets eine Jungfrau, die durch das Los bestimmt und festlich geschmückt zu einem am Strand stehenden Tempel gebracht wurde. Der Dämon – Allah möge ihn für alle Ewigkeiten verdammen! – raubte das Opfer und tötete es. Das schreckliche Geschehen nahm erst ein Ende, als der Scheich Yusuf Shams-ud-din auf die im Süden gelegenen Inseln der Dhivehi kam und bat, anstelle der Jungfrau den Weg zum Tempel antreten zu dürfen. Dort las er die ganze Nacht hindurch laut im heiligen Koran. Und die Worte Allahs schlugen den Dämon in die Flucht. Er verschwand im Meer und kehrte nie mehr zurück. Hast du gehört, Tulsi? Er kehrte nie zurück! Die Geschichten, die du vernommen hast, können deshalb nicht der Wahrheit entsprechen.“

Der junge Mann zuckte verlegen mit den Schultern.

„Man erzählt sich, er sei in Gestalt eines Mannes aus dem fernen Arabien wieder erschienen, und zwar auf einem sehr großen Schiff – viel größer als unsere Dhonis und Baththelis –, und habe auf einigen Atollen Angst und Schrecken verbreitet. Ja, er soll sogar die Absicht bekundet haben, Herrscher aller Inseln zu werden.“

„Haben die Männer, die das erzählt haben, diesen – diesen Araber schon gesehen?“

„Nein“, erwiderte Tulsi. „Auch sie haben nur Berichte darüber gehört, als sie beim Fischen auf Bewohner anderer Atolle getroffen sind.“

Gandalal atmete fast hörbar auf. „Dann sind es mit Sicherheit nur Gerüchte, Tulsi. Allah würde nie zulassen, daß der vor Jahrhunderten vertriebene Dämon des Meeres die Gläubigen heimsucht, Jinni – man verzeihe mir den Gebrauch dieses verfluchten Namens – konnte damals nur deshalb seine teuflische Macht ausüben, weil der wahre Glauben noch nicht zu unseren Inseln vorgedrungen war und unsere Vorfahren noch zu den Hindugöttern beteten.“

 

„Gebe Allah, daß du recht hast, Gandalal.“ Die Worte des alten Mannes schienen Tulsi nicht ganz überzeugt zu haben.

Die Sonne brannte heiß vom Himmel, während sich die Boote mit ihren gerefften Segeln langsam, fast zögernd, dem Strand näherten. Die leichte Brise, die von der See her über die Bucht strich, brachte zwar ein wenig Abkühlung, aber die Männer auf den Baththelis nahmen das kaum wahr. Ihre Augen hingen wie gebannt an dem Bild, das sich ihnen bot.

Die zerstörten Hütten waren jetzt deutlicher zu erkennen. Auch einige Dhonis, die man über den Sand in den Schatten der Palmen gezogen hatte, rückten ins Blickfeld. Die meisten waren stark beschädigt oder völlig zerstört.

Noch immer war keine Menschenseele zu sehen.

„Bei Allah und seinem Propheten – das sieht wirklich nicht nach Sturmschäden aus“, sagte Gandalal. „Allein die Hütten lassen vermuten, daß Menschenhand im Spiel war.“

Tulsi deutete zu den zertrümmerten Booten.

„In der Umgebung dieser Wracks hat der Sturm nicht eine einzige Palme entwurzelt oder umgeknickt, die die Schäden verursacht haben könnte. Wenn du mich fragst, Gandalal, hier hat man zumindest mit Äxten zugeschlagen.“

Jetzt dachte auch der alte Mann nicht mehr an das Gemüse und die Bananen. Er nickte zustimmend. „Du hast recht, Tulsi, wir kehren um, und zwar sofort. Allah allein weiß, was hier geschehen ist. Wir werden es wohl nie ergründen. Setzt die Segel, wir verlassen diese Bucht. Sie scheint ein Ort der Verwüstung zu sein.“

Seine Begleiter kamen jedoch nicht mehr dazu, sein Kommando auszuführen. Ein Schreckensruf Tulsis ließ sie heftig zusammenzucken. Als sie sich umdrehten und – wie Tulsi – ihre Aufmerksamkeit der offenen See zuwandten, packte sie das blanke Entsetzen.

Vor der Bucht war plötzlich, wie ein Spuk, ein riesiges Schiff aufgetaucht. Es hob sich mächtig und bedrohlich gegen den Horizont ab und erinnerte durch die Form seines Rumpfes sowie die Masten und Lateinersegel an eine arabische Dhau. Außerdem maß es mindestens fünfzig Schritte in der Länge. An der Backbordseite, die der Bucht zugewandt war, ragten die gußeisernen Rohre mehrerer Kanonen aus den geöffneten Stückpforten.

„Allah sei mit uns!“ keuchte Gandalal und hielt wie zur Abwehr beide Hände vor die Brust. „Ist mein Geist verwirrt, oder sehen auch eure Augen dieses Schiff?“

Tulsi schluckte hart. „Wir alle sehen es, Gandalal. Das Schiff sieht so aus, wie es die Fischer beschrieben haben. Es gibt keinen Zweifel – es muß das Schiff aus dem fernen Arabien sein, das Schiff des Dämons …“

Der junge Mann wurde jäh unterbrochen, denn aus der Bordwand der großen Dhau zuckte in diesem Augenblick ein gewaltiger Blitz hervor, der von einem geradezu unheimlichen Donnerschlag begleitet wurde. Gleich darauf stieg mitten in der Bucht eine riesige Wassersäule hoch.

Gandalal, Tulsi und all die anderen Männer waren vor Schreck wie gelähmt. Keiner von ihnen zweifelte daran, daß die Hölle ihre Pforten geöffnet hatte und Jinni, der Dämon des Meeres, sie verschlingen wollte.

Ja, jetzt wurde ihnen auch klar, warum sich keine Menschenseele am Strand gezeigt hatte. Wahrscheinlich waren alle Bewohner dieser Insel bereits ein Opfer des Dämons geworden. Und jetzt schien er es auch auf sie und ihre Baththelis abgesehen zu haben.

Der Dämon des Meeres war in der Tat zurückgekehrt, um Tod und Verderben zu verbreiten.

Die Männer wurden von Angst und Panik erfaßt.

„Das Schiff hat uns den Rückweg abgeschnitten!“ rief der weißhaarige Gandalal. „Wir können die Bucht nicht mehr verlassen!“

„Wir müssen so schnell wie möglich an Land und uns dort ein Versteck suchen“, sagte Tulsi.

Dies schien in der Tat der einzige Ausweg aus der Falle zu sein, in die sie geraten waren.

Das Krachen eines zweiten Kanonenschusses und die nachfolgende Fontäne bestärkte sie in ihrem Entschluß.

Die Baththelis wurden in fliegender Hast in das flache Wasser manövriert, das den weißen Sandstrand umspülte, dann fielen die Anker. Bereits Augenblicke später sprangen die Männer über Bord und wateten auf den Strand zu. Sie hatten auf das Geheiß Gandalals hin lediglich ihre Waffen mitgenommen – Messer, Äxte, Speere sowie Bogen und Pfeile.

Die Angst beherrschte jede ihrer Bewegungen. Während sich die jüngeren Männer immer wieder umwandten, um einen Blick auf das Schiff vor der Buchteinfahrt zu werfen, murmelte Gandalal Koransprüche vor sich hin.

Hatte nicht auch der fromme Scheich Yusuf Shams-ud-din vor vielen Generationen die ganze Nacht hindurch laut im Koran gelesen, um der Macht des Bösen zu trotzen? Und war es ihm nicht gelungen, den gefürchteten Dämon damit zu vertreiben? Der alte, weißhaarige Händler klammerte sich in seiner Angst an jeden Strohhalm.

Als die Männer den Strand überquert und in den Schatten der mächtigen Kokospalmen und der teilweise zerstörten Hütten eingetaucht waren, warf Gandalal einen letzten Blick zu dem teuflischen Schiff. Dort wurden gerade die Segel geborgen. Auf den Decks huschten zahlreiche Gestalten geschäftig hin und her.

Am auffälligsten allerdings war die Gestalt eines großen und kräftigen Mannes, der auf dem Achterdeck stand und nach der Art reicher Araber mit einer farbenfrohen Galabiah bekleidet war. Wie es schien, blickte dieser Mann aufmerksam zum Strand.

„Sie werden Boote aussetzen und uns folgen“, sagte Tulsi mit bekümmerter Miene.

Gandalal nickte. „Das mag sein. Aber Allah wird uns rechtzeitig zu einem sicheren Versteck führen.“

Die Männer eilten weiter, vorbei an beschädigten Hütten und zerstörten Dhonis. Als sie den landeinwärts liegenden Rand des verlassenen Dorfes erreichten, veränderte sich ihre Situation von einem Augenblick zum anderen.

Hinter den letzten Hütten tauchte urplötzlich ein gutes Dutzend wild aussehender Gestalten auf und versperrte ihnen mit drohend erhobenen Krummsäbeln und Feuerwaffen den Weg.

Entsetzt blickten sich Gandalal und seine Begleiter nach einem letzten Ausweg um, aber es gab keinen. Als einige Musketenschüsse krachten und die Kugeln in geringer Höhe über ihre Köpfe pfiffen, fügten sie sich in ihr Schicksal.

Die wüste, vorwiegend aus Arabern bestehende Horde, fiel mit spöttischem Gelächter über die Händler her und nahm ihnen die Waffen weg. Danach würden ihre Hände mit Schnüren aus Kokosfasern gefesselt.

Die Männer verstanden die Welt nicht mehr. Statt – wie seit Jahren – zwei Ladungen Gemüse und Bananen verkaufen zu können, waren sie einer Art Treibjagd zum Opfer gefallen. Wie eingefangene Tiere behandelte man sie auch, indem man sie mit brutalen Hieben und Fußtritten zum Strand zurücktrieb.

Dort stellten sie fest, daß ihre schlimmste Befürchtung Wirklichkeit geworden war: Die Mannschaft des großen Schiffes hatte zwei Boote ausgesetzt, die jetzt auf die Insel zuhielten – der Dämon des Meeres ließ sie abholen, um sie zu verschlingen.

Allein der Gedanke daran bewirkte, daß der alte Gandalal und seine Mitgefangenen erneut vom Grauen gepackt wurden. Jeder von ihnen war fest davon überzeugt, daß ihm der Weg in die schrecklichste aller Höllen bevorstand. Und weit und breit war niemand, der ihnen helfen konnte.

2.

Die Seewölfe atmeten auf. Es war geschafft! Ihre Schebecke schwamm wieder, und die Ladung, die sie am Strand gestapelt hatten, war erneut in den Stauräumen untergebracht worden.

Der Schweiß floß reichlich, und die Mannen freuten sich auf ein erfrischendes Bad im seichten Wasser der großen weit geschwungenen Bucht.

Natürlich hatten die Arwenacks nicht die Absicht gehabt, im Verlauf ihrer Reise von Bombay nach Madras die mehr als hundert Seemeilen von der südindischen Küste entfernten Lakkadiven aufzusuchen. Es war der höllische Sturm gewesen, der die Schebecke weit vom Kurs abgetrieben und schließlich wie ein Spielball auf den Strand dieser einsamen Insel geworfen hatte. Und das mit der wertvollen Ladung von elf Tonnen Gold und Silber.

Ischwar Singh, der Herrscher von Bombay, hatte Philip Hasard Killigrew vertrauensvoll gebeten, diese geheime Fracht zu seinem Vetter, dem Mogulkaiser Akbar, nach Madras zu bringen. Doch nach dem unfreiwilligen Stranden des Seglers waren die Aussichten, daß die Ladung jemals ihr Ziel erreichen würde, sehr gering geworden.

Daß sich jetzt das Blatt zum Guten gewendet hatte, lag ausschließlich daran, daß die Arwenacks nicht die Flinte ins Korn geworfen und tagelang wie Galeerensklaven geschuftet hatten, um das auf der Seite liegende Schiff wieder aufzurichten und die Sturmschäden zu beheben.

Zu allem Überdruß hatten sie dabei noch den heimtückischen Überfall einer Gruppe arabischer Halsabschneider zurückschlagen müssen – und dies mit genau elf Fäusten weniger als sonst. Zehn davon waren den fünf Seewölfen zuzurechnen, die von Sir Thomas Carnavon, dem Kommandanten der englischen Expeditions- und Kriegsgaleone „Respectable“, requiriert worden waren, und die elfte Faust war die heilgebliebene Rechte Jack Finnegans.

Er war über Bord gespült worden und hatte schon für tot gegolten. Sein gebrochener Arm ruhte inzwischen in einem Tuch, das der Kutscher hinter Jacks Nacken verknotet hatte.

Die fünf gepreßten Arwenacks waren Smoky, Dan O’Flynn, Edwin Carberry sowie der Schiffszimmermann Ferris Tucker und der Takelmeister Roger Brighton. Die zupackenden Hände dieser beiden Fachleute waren während der Reparaturarbeiten besonders vermißt worden, aber man hatte es schließlich trotzdem geschafft, die Schebecke wieder flottzukriegen. Die kostbare Ladung war in Sicherheit, so das dem „Goldregen“, der dem Mogulkaiser zugedacht war, nichts mehr im Wege zu stehen schien.

Über der Wasserfläche hing ein flirrender Hitzeschleier, die Schebecke schwoite gemächlich an der Ankertrosse. An den Sturm erinnerten nur noch einige umgeknickte Kokospalmen, deren mächtige Stämme wie umgestürzte: Tempelsäulen am Strand lagen.

Das Eiland selbst war teils von schroffen Hügeln durchzogen, teils von üppigem Dschungel überwuchert. Ungefähr fünfzig Yards landeinwärts ragte ein schroffer Felsen wie ein drohend erhobener Zeigefinger in den Himmel. Die Zwillingssöhne des Seewolfs verholten mit ihrem Angelzeug zum Vorschiff. An Fischen gab es hier keinen Mangel, und Frischkost dieser Art war in der Kombüse stets willkommen.

„Eine hübsche Insel“, sagte Hasard junior. „Ob sie wohl bewohnt ist?“

Philip winkte ab. „Manchmal ist es gesünder, etwas nicht zu wissen“, erwiderte er lakonisch. „Außerdem sollten wir uns jetzt nicht mit einer zeitraubenden Erkundung der Insel aufhalten, sondern so rasch wie möglich die verdammte Ladung in Madras abliefern, sonst meint Ischwar Singh am Ende noch, wir hätten sein Vertrauen mißbraucht und uns das Zeug angeeignet.“

„Da hast du auch wieder recht, Bruderherz“, pflichtete ihm Hasard bei. „Mit elf Tonnen Edelmetall in den Laderäumen ist unser Schiff eine schwimmende Schatztruhe. Für unseren Dad ist es bestimmt kein besonders angenehmes Gefühl, für das ganze Zeug verantwortlich zu sein.“

Die beiden jungen Männer beugten sich über den Handlauf des Schanzkleides und blickten in das klare Wasser der Bucht. Bei der geringen Tiefe konnte man stellenweise bis zum Grund sehen.

Was sie entdeckten, hatten sie schon oft gesehen, dennoch faszinierte sie das bunte Leben und Treiben da unten immer wieder aufs neue. Von den bizarren und oft recht wundersamen Korallenformationen abgesehen, gab es eine Vielzahl verschiedener Lebewesen.

Hasard junior grinste, während er auf eine bestimmte Stelle deutete, wo mehrere walzenförmige Gebilde mit stacheliger, lederartiger Haut regungslos am Grund lagen.

„So eine Seegurke müßte man sein. Da könnte man den ganzen Tag lang gemütlich unten liegen und sich vom erfrischenden Wasser umplätschern lassen. Wäre das nichts?“

Philip schüttelte den Kopf.

„Zu langweilig“, entschied er. „Zugegeben – von der Faulheit, mit der die Seegurken da rumliegen, könnte ich mich hin und wieder schon mal anstecken lassen, aber die Speckpfannkuchen, die der Kutscher aus seinen Pfannen zaubert, schmecken mit Sicherheit besser als das, was sich Seegurken aus dem Wasser fischen.“

„Seegurken und Speckpfannkuchen – das ist schon eine merkwürdige Kombination“, sagte Hasard lachend. „Aber du hast recht, sonderlich abwechslungsreich scheint das Leben dieser faulen Burschen nicht zu sein. Dennoch handelt es sich um wahre Prachtexemplare. Sie sind viel größer als jene im Mittelmeer. Sie sind auch viel schöner gefärbt.“

 

Danach galt die Aufmerksamkeit der Zwillinge den dicken, fleischigen Armen einiger rosafarbenen Seesterne, die den Seegurken in angemessener Entfernung Gesellschaft leisteten.

Wenig später deutete Philip auf einen sogenannten Linkia-Stern. Im Gegensatz zu seiner wohlgenährten Verwandtschaft war dieses Lebewesen schlank und von blauer Farbe.

Es waren in erster Linie die verschiedensten Fischarten, die Leben in die farbenfrohe Unterwasserlandschaft brachten. Quirlige Clownfische umschwammen eine große Seeanemone – stets bereit, bei Gefahr in deren nesselnden Tentakeln Zuflucht zu suchen.

Bunte Papageienfische nagten an Korallenspitzen, während kleine Schwärme von Barben gründelnd nach Nahrung suchten. Außer hübschen marmorierten Großaugenbarschen zeigten sich vereinzelte Kaiserfische.

Philip und Hasard hatten nicht bemerkt, daß Paddy Rogers hinter ihnen aufgetaucht war. Der bullige Mann mit den roten Haaren und der gemütlichen Knollennase stemmte die Fäuste in die Hüften und grinste.

„Euch fallen ja bald die Klüsen aus dem Kopf. Was gibt es denn da unten Schönes?“

„Wasser“, entgegnete Hasard spitz. „Jede Menge Wasser.“

Paddy lachte glucksend. „Das ist mir schon klar, du Scherzbold. Ich dachte vielmehr an ein knackiges Meerweibchen oder so.“

Jetzt drehte sich Philip um und lächelte tiefgründig.

„Du liegst wieder mal genau richtig, Paddy. Wir haben sogar mehrere Meerweibchen entdeckt. Und ob du es glaubst oder nicht – die Ladys sortieren da unten die Fische für uns aus. Wir brauchen nur noch die Angelleinen auszuwerfen.“

Paddy war verblüfft. Er wußte zwar, daß er im Denken bei weitem nicht so fix war wie sein alter Freund Jack Finnegan, aber das bedeutete noch lange nicht, daß er alles bedenkenlos glaubte.

Nur – an der Existenz von Meerweibchen gab es nun wirklich nichts zu rütteln, und er hatte sich schon immer gewünscht, wenigstens einmal in seinem Leben einem dieser ebenso scheuen wie schönen Geschöpfe zu begegnen.

Selbst eine Sturmbö hätte Paddy Rogers jetzt nicht davon abhalten können, an das Steuerbordschanzkleid zu hasten.

„Wo – wo sind sie denn?“ Seine Stimme klang erregt.

„Immer mit der Ruhe, Paddy“, sagte Hasard. „Sie schwimmen ständig hin und her und treiben die Fische für uns zusammen. Im Augenblick müßten sie gerade wieder an der Backbordseite sein.“

Paddy wirbelte herum und eilte zum Backbordschanzkleid. Dort hängte er sich über den Handlauf, daß die Zwillinge einen Augenblick lang befürchteten, er würde über Bord fallen.

„Zum Kuckuck – hier sind sie aber nicht!“ Sein Gesicht hatte sich gerötet.

„Vielleicht schwimmen sie gerade wieder unter dem Rumpf durch zurück nach Steuerbord“, meinte Philip.

Paddy überquerte erneut das Vorschiff und starrte zum zweiten Male an Steuerbord ins Wasser.

„Verflixt und zugenäht, wo bleiben sie denn?“

Philip zuckte mit den Schultern. „Hoffentlich hast du sie nicht verscheucht. Die scheuen Wesen müssen ja erschrecken, wenn du ständig wie ein Nilpferd über die Planken trampelst, statt geduldig auf sie zu warten. Falls du es schaffst, dich mal für kurze Zeit mucksmäuschenstill zu verhalten, kann es sein, daß sie sich wieder zeigen.“

Paddy gab keinen Laut mehr von sich und rührte sich nicht von der Stelle. Weit über das Schanzkleid gebeugt, blickte er wie gebannt ins Wasser. Er sagte auch nichts, als die Zwillinge diese Ruhepause dazu benutzten, zur Kombüse zu verholen, um sich zunächst mal aus der Affäre zu ziehen. Man konnte schließlich nicht wissen, wie lange die Geduld Paddys noch andauern würde.

Paddy ließ nicht locker. Er war fest entschlossen, diesen Platz nicht eher zu verlassen, bis er die Meerweibchen, über die man sich so wundersame Geschichten erzählte, gesehen hatte.

Doch der erste Störenfried ließ nicht lange auf sich warten. Er nahte in Gestalt Jack Finnegans. Der dunkelblonde, hagere Mann mit dem schmal geschnittenen Gesicht trug den geschienten linken Arm in der Schlinge. Drei Schritte von Paddy Rogers entfernt, blieb er stehen.

„Was machst du hier, Paddy?“ fragte er mit einem verwunderten Blick auf das herumliegende Angelzeug. „Willst du etwa Fische fangen?“

„Psst!“ Ohne sich vom Schanzkleid zu lösen, warf Paddy einen tadelnden Blick über die rechte Schulter.

„Was heißt hier ‚psst‘?“ Jack Finnegan wurde neugierig.

„Kannst du nicht für einen Augenblick die Luke schließen? Du vertreibst sie“, flüsterte Paddy, und seine Stimme klang trotz der geringen Lautstärke verärgert.

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