Loe raamatut: «Inseln der Macht»
Frank Westermann
Inseln der Macht
Band 2 der Serie »Andere Welten«
FUEGO
- Über dieses Buch -
Handlungsort: Ein Inselstaat unter totalitärem Regime
Die eine Seite: Ein Diktator, geballte Wirtschaftsmacht, Militär und Polizei und ein ausgeklügeltes Unterdrückungssystem
Auf der anderen Seite: Ein Volk, das von der Hand in den Mund lebt, Slums, Sekten, und Jugendbanden
… darunter: viele Personen und Gruppen, die Widerstand leisten
… und mittendrin: Speedy und seine Freunde … und dann sind da noch die Ausserirdischen …
I was born in a welfare state
ruled by burocracy
controlled by civil servants
and people dressed in grey.
Got no privacy
got no liberty
'cause the 20th century people
took it all away from me.
We gotta get out of here
we gotta find a solution
I'm a 20th century man
but I don't wanna be one.
The Kinks - »20th Century Man«
1.
LERC
Also, das Saubermachen hatte ihn ganz schön angestrengt. Ein Zeichen dafür, dass er nicht mehr fit war - überhaupt nicht mehr. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Aber das Ganze hatte seinen Zweck erfüllt: es hatte ihn für eine Stunde abgelenkt.
Er stellte den Staubsauger in die Ecke, drehte die überlaute Musik ab und warf einen letzten Blick in die Küche. Okay. Vielleicht konnte er jetzt etwas ruhiger an alles rangehen. Er vergewisserte sich, dass die drei Schlösser und die Alarmsicherung in Ordnung waren, und verließ dann ruhig die Wohnung, stieg die vielen stumpfen Stufen hinab und stand schließlich in der brütenden Hitze.
Die Sonne stach unbarmherzig herab, und er verwünschte es, dass er seinen Hut oben gelassen hatte. Egal, er hatte keine Lust zurückzugehen.
Seine Schritte führten ihn durch die engen, schmutzigen Straßen des Proletarier-Viertels. Gleich dahinter begannen die Slums, aber da ließ er sich lieber nicht blicken. Er hatte kein genaues Ziel, hoffte nur, seine Gedanken bei dem Spaziergang etwas ordnen zu können. Er übersah die herumlungernden Süchtigen, die Bettler und Schwarzmarktverkäufer, die Marktschreier und die abgemagerten alten Leute, die vor den Haustüren der grauen, hohen Wohnblocks saßen. Das alles gehörte zum gewohnten Bild, und er nahm es kaum noch wahr.
Er kam an der Ruine vorbei. Das Haus war vor drei Tagen zusammengestürzt. Es hatte eine Menge Tote und Verletzte gegeben. Die Trümmer waren provisorisch von der Straße geräumt worden, sonst sah alles noch aus wie vorgestern. Immer noch hing der üble Geruch in der Luft und Kinder stocherten in dem Schutt herum in der Hoffnung, irgendetwas Wertvolles aufzustöbern. Er ging automatisch schneller.
Er war extra nicht mit den anderen ans Meer gefahren und war auch nicht zum Übungstermin gegangen. Er wollte allein sein, und es war ihm nur recht, dass die Wohnung leer war. Nicht, dass er besonderen Ärger mit seinen Mitbewohnern/innen gehabt hätte - höchstens mit Jungo war die Atmosphäre etwas gespannt. Aber er musste endlich mal zu einer Entscheidung kommen, was die »Gruppe« betraf. Er fühlte sich dort zunehmend unwohl, wusste aber nicht genau, woran das lag.
Teilweise natürlich an den Leuten, allen voran Christer. Sein ganzes Gehabe kotzte ihn schon von weitem an. Es war unübersehbar, dass er sich dauernd als Chef aufspielte. Es hatte deswegen schon mehrere harte Auseinandersetzungen zwischen Christer und ihm gegeben. Aber es hatte nicht viel gebracht. Er stand auf verlorenem Posten. Die anderen schlossen sich entweder Christers Meinung an, hüllten sich in betretenes Schweigen oder probierten es mit dämlichen Schlichtungsversuchen.
Veila tat sich da besonders hervor, - und das war auch ein Grund dafür, dass sie sich aus dem Weg gingen. Sie hatten seit Tagen kaum ein Wort miteinander gesprochen, obwohl sie noch vor drei Wochen fest geglaubt hatten, unsterblich ineinander verliebt zu sein.
Lerc lachte höhnisch vor sich hin. Scheiß drauf'. Keine/r traute sich, ein offenes Wort zu sprechen. Man ließ die Sache lieber versanden. Großes Reden über solche Probleme war schon immer seine Schwäche gewesen. Er wusste außerdem (es war ja auch kein Geheimnis), dass Veila es jetzt auf Christer abgesehen hatte. Das machte ihm auch gar nicht so viel aus, es ärgerte ihn nur, dass er nicht imstande war, seine Beziehung zu ihr erst mal abzuklären.
Dann die Arbeit der Gruppe. Sie beschränkte sich in letzter Zeit auf Wiederholungsaktionen und Flugblattschreiben. Niemandem fiel mehr etwas Neues ein und anscheinend hatte auch keine/r Lust darüber nachzudenken. Die politische Arbeit versackte wie seine Beziehung zu Veila. Es gab auch keine Ansätze zu ernsthafter theoretischer Diskussion mehr. Jede/r bastelte an eigenen Revolutionstheorien. Vielleicht machte der stärker werdende Einfluss des Militärs alle so hoffnungslos. Aber auch das war vorauszusehen gewesen. Nach dem schnellen Sieg über Neu-Ing hatte das Militär auf den Inseln die besten Trümpfe in der Hand und hatte sie im letzten halben Jahr mit Erfolg ausgespielt. Und demnächst würde es am Ruder sein. Schon jetzt kontrollierte es praktisch alle Entscheidungen des Diktators und der zivilen Schattenregierung. Aber auch das Militär würde den Zerfall nicht aufhalten können.
Der Sieg über Neu-Ing hatte alles nur etwas hinausgeschoben. Lerc blieb stehen - und holte sich am Kiosk eine Cola. Auch Alkohol gab's wieder offiziell. Rationierungen bestanden nur noch bei Fleisch und Gemüse. Tja, es war alles wieder da. Bloß konnte es sich kaum jemand kaufen. Die Arbeitslosenzahl stieg weiterhin kräftig und da hatte die neue Kolonie nur das ihre hinzugetan. Vielleicht sah es in dem einst so gelobten Staat jetzt schon schlimmer aus als hier - obwohl er sich das nicht vorstellen konnte.
Eine gepanzerte Luxuslimousine fuhr rasch vorbei. Selten, dass sie sich hier sehen ließen. Und hinter den Scheiben saß ein Weißer. Die Manager aus Neu-Ing hatten sich jetzt auch auf den Inseln niedergelassen. Solche Kriege wurden immer von den oben Sitzenden gewonnen, egal welche Hautfarbe sie hatten oder ob sie der »siegreichen« oder »besiegten« Nation angehörten. Er spuckte dem Wagen hinterher. Die Villen der kleinen, reichen Oberschicht waren weit weg auf anderen Inseln. Nur ihr bewaffneter, regierender Arm saß hier.
Die Trostlosigkeit der Gegend änderte sich nicht, als er weiterging. Nur an den Stränden konnte man von Landschaft sprechen. Er setzte seinen Weg fort, und seine Gedanken kehrten zum Ausgangspunkt zurück.
Er wusste nicht, was ihn außer der Gruppe noch sonst störte, dass er so deprimiert rumhing. Zuhause lief alles ganz gut, vielleicht etwas langweilig, eingefahren, weil die Beziehungen untereinander alle abgeklärt schienen. Er glaubte, dass viel mehr rauszuholen wäre, aber auch hier hatte er keine Ahnung, wie er das anpacken sollte. Aber das machte ihm, wie gesagt, weniger Sorgen, denn er fühlte sich da wirklich wohl.
Und in der Band erst recht. Jetzt, nachdem es so richtig angelaufen war, machte es ihm wahnsinnig Spaß und er freute sich auf jedes Treffen - mit Ausnahme von heute. Demnächst war ihr erster Auftritt fällig - eine Informationsfete der Studentenorganisation. Nichts Besonderes, aber es würde bestimmt Spaß machen, da bei solchen Anlässen immer eine Menge Leute zusammenkamen.
Ging es eigentlich im Moment für ihn darum Entscheidungen zu treffen, außer der, die unausgesprochenen Sachen endlich anzugehen?
Die Antwort wurde ihm abgenommen durch die Gestalt, die ihm mit gebeugtem Kopf entgegenkam. Das war ja Beppo! Er war der Letzte, den er jetzt sehen wollte. Hoffentlich schlug er nicht irgendein Treffen vor. Lerc war sicher, dass es eine Nachricht gab. Die Mitglieder der Gruppe hatten beschlossen, sich öffentlich so wenig wie möglich zusammen zu zeigen. Man wusste nie, welche Informationen der Sicherheitsdienst schon hatte und wer gerade überwacht wurde.
Beppo schlich an ihm vorbei und drückte ihm dabei unauffällig einen Zettel in die Hand. Was wollte er bloß? Sein schwarzer Rücken - er hatte eine dunklere Hautfarbe als Lerc - verschwand um die nächste Ecke.
Lerc ging noch fünf Minuten weiter, dann drückte er sich in einen leeren Hausflur. Bei der Dunkelheit hier konnte er kaum lesen, was auf dem Zettel stand: »Treffen heute Abend bei V. Dringend!« Auch das noch. Der Tag war gelaufen. Sicher wieder eine von Christers zündenden Ideen. V. war natürlich Veila. Lerc verbrannte den Zettel automatisch.
Sein Gehirn war wie ausgetrocknet, als er sich auf den Rückweg machte.
Vor der Haustür stand einer dieser widerlichen Typen von der Cran-Sekte. Lerc erkannte ihn schon von Weitem: weiter, dunkelblauer Umhang, Sandalen, kahlgeschorener Kopf. In der Hand das obligatorische Buch, unter dem Umhang wahrscheinlich ein Arsenal Drogen. Der hatte ihm gerade noch gefehlt! Wollte man ihm noch den letzten Rest Optimismus rauben?
Er wusste, er würde nicht an dem Typen vorbeikommen, ohne sich seine wütenden Tiraden anhören zu müssen. Die Kerle konnten sehr rabiat werden.
So stand er bewegungslos einige Minuten auf dem gegenüberliegenden Gehsteig und wartete auf eine Lösung. Er schwitzte wie verrückt unter seinem schwarzen Kraushaar und wünschte sich nichts als ein kühles Bier. Er hatte Glück. Der alte Daragon trat aus dem Hausflur und lief dem Cran-Typ direkt in die Arme. Geschah ihm recht, dem alten Plappermaul!
Schnell wechselte er die Straßenseite und zwängte sich mit einem flüchtigen Gruß an den beiden vorbei. Es war zwar angenehm kühl auf der Treppe, roch aber muffig und nach abgestandenem Essen. Lerc machte, dass er raufkam. Sogar die Schlüsselprozedur nervte ihn heute. Der Spaziergang war ein glatter Reinfall gewesen.
Es war immer noch keine/r zu Hause. Als Erstes riss er den Kühlschrank auf (er funktionierte schon zwei Wochen!) und genehmigte sich das letzte Bier. Seit Jungo den Job hatte, sahen sie mit der Kohle nicht mehr so alt aus. Vorher war's echt eine Plage gewesen. Ewig diese Rechnereien mit dem Haushaltsgeld! Wenn die Band jetzt noch etwas Geld reinbrachte, war alles klar.
Er ging nach nebenan in sein Zimmer, schloss die Vorhänge, weil die Sonne jetzt direkt hereinschien, und stellte den Recorder an. Dann fläzte er sich mit dem Bier in den abgewetzten Sessel und versuchte, an gar nix mehr zu denken, nur der Musik zuzuhören.
Gerade, als ihm das gelungen war, wurde die Wohnungstür aufgerissen, Sachen wurden auf den Boden geschmissen, und Jungos dröhnende Bassstimme machte sich breit. Gegen seinen Willen musste Lerc lachen: diese tiefe Stimme, die gar nicht zu der schmächtigen Gestalt passte. Er sollte die gespannte Atmosphäre zu Jungo schnellstens beseitigen. Wahrscheinlich lag es eher an ihm selbst, weil er schon seit Tagen etwas gereizt rumlief. Vielleicht erinnerte ihn die Stimme auch manchmal an Christer, zu dem sie allerdings passte wie die Faust aufs Auge.
Die Tür ging auf, und Hanne sah herein.
»Lerc, ich lass mal die Tür auf. Dann haben wir auch was von der Musik.«
»Okay. Wie war's am Strand.«
»Ganz lustig. Aber als ein paar Schläger mit Z-Abzeichen kamen, haben wir lieber die Stellung geräumt.«
»Verständlich.«
»He, Lerc.«schrie Jenka aus der Küche.«Hast du etwa sauber gemacht.«
Er knurrte ein Ja in seinen nicht vorhandenen Bart.
»Teufel, Teufel, da kann man ja wieder richtig drin kochen, » brummte Jungo.
»Sag bloß, ihr habt was mitgebracht.«
Lerc sprang aus dem Sessel, vergaß das Bier, vergaß seine Grübeleien. Tatsächlich, sie hatten eingekauft. Mindestens die Hälfte geklaut, dachte er, als er sah, was sie da alles aufgefahren hatten.
Später, beim Essen, als sie alle in der Küche saßen, rückte er mit der Nachricht von dem Treffen raus.
»Ich glaub, es ist etwas Besonderes«, meinte Jenka.
Lerc zuckte die Schultern. Vermutlich war sie besser informiert als er. Tatsächlich hatte er sich überlegt, ob er überhaupt hingehen sollte.
»Wahrscheinlich hast du recht, »stimmte Hanne ihr zu. »Keiner setzt ohne besonderen Grund zu dieser Zeit ein Treffen an. Das ist immer eine gefährliche Sache.«
»Sie hatten bestimmt Mühe, einen von uns aufzutreiben«, vermutete Lerc. »Jenka war nicht im Laden und auch sonst war niemand zu Hause.«
»Na, Beppo hat dich ja gefunden«, warf Hanne ein.
Jungo sah auf die Uhr. »Scheiße, ich muss gehen. Ihr könnt mir ja morgen erzählen, wenn etwas Wichtiges war.«
Alle sahen etwas bedrückt aus, als Jungo seinen Kram zusammenpackte.Er hatte wohl die beschissenste Arbeit von den Vieren zurzeit: Spätschicht in einer Fabrik. Eigentlich war er auch nicht Mitglied der Gruppe, wurde aber trotzdem über alles, was dort besprochen wurde, auf dem Laufenden gehalten.
Die anderen tranken noch in Ruhe ihren Kaffee. Dann ging Hanne als Erste. Es war immer besser, getrennt zu kommen.
»Wie bist du klargekommen«, fragte Jenka, als Hanne zur Tür raus war.
»Ach, pffh, meine Gedanken gehen immer im Kreis. Ich hab irgendwie eine miese Stimmung, und die einzige Ursache, die mir einfällt, ist die Gruppe.«
»Du solltest dich vielleicht nicht zu sehr auf Christer versteifen. Er ist nicht die Gruppe.«
»Manchmal sieht es aber so aus.«
»Vielleicht, aber ich glaube nicht, dass sich die anderen von ihm überreden lassen, wenn's drauf ankommt.«
»Da bin ich nicht so sicher. Vielleicht bin ich auch nur mit mir selbst unzufrieden, weil die Beziehung mit Veila so komisch abgelaufen ist.«
Jenka nickte.«Bist du traurig deswegen.«
»Ich glaube nicht. Aber das ist auch so ein Punkt, wo ich nicht recht weiter weiß.«
»Auf jeden Fall solltest du dich nicht in dein Schneckenhaus zurückziehen.«
Diese Bemerkung ärgerte Lerc und es gab nichts mehr zu sagen. Also stand er auf, räumte den Tisch ab und folgte Hanne. Jenka sah ihm verdrießlich nach. Warum stellte er sich bloß so bockig an? Er tat gerade so, als ob alle was gegen ihn hätten. Und das war bestimmt nicht so.
Auf dem Weg zu Veila versuchte Lerc seinen Ärger runterzuschlucken. Es hatte keinen Zweck, mit so einer Stimmung beim Treffen zu erscheinen. Dann würde er alles von vornherein in einem negativen Licht sehen.
Der Weg war nicht weit. Lerc betrat ein ähnliches Gebäude wie das, in dem sie wohnten, nachdem er sich so gut es ging, vergewissert hatte, dass sich niemand Verdächtiges vor dem Haus rumtrieb. Veila wohnte ganz oben unterm Dach. Sie hatte eine kleine Wohnung mit einer Freundin zusammen, die kaum zuhause war.
Beppo machte ihm auf und grinste ihn wie ein Honigkuchenpferd an. »Ich war den halben Tag unterwegs, um jemand von euch zu finden.”
Man wusste bei ihm nie, ob er scherzte oder es ernst meinte. Lerc sagte gar nichts und ging weiter zu Veilas Zimmer. Veila war da und Christer, in der Ecke Latran und Elfes, Beppo kam jetzt auch, und natürlich Hanne.
»Wird Zeit, dass wir loslegen«, sagte Christer bestimmt.
Seine klotzige, braune Gestalt schien das Zimmer auszufüllen. »Wir können ruhig noch auf Jenka und die anderen warten«, ging Lerc sofort in Opposition.
Hanne sah ihn stirnrunzelnd an. Sollte es schon wieder losgehen?
Aber Christer sagte nichts mehr darauf. Er war immer ungeduldig. Latran und Elfes grinsten sich an. Sie waren Brüder und einander unheimlich ähnlich. Der Streit zwischen Lerc und Christer schien schon allgemeines Gesprächsthema zu sein.
Es klingelte und Beppo eilte diensteifrig zur Tür. Er brachte Hancos mit, einen Typ spanischer Abstammung, der sich zwischen den braunen bis schwarzen Gruppenmitgliedern aber längst nicht mehr unwohl fühlte. Er war sowieso ein fröhlicher Typ und die Stimmung wurde gleich etwas lockerer.
Er kraulte Lerc hinterm Ohr und setzte sich neben Veila.
»Na, wie sieht's aus? Hat Tinni einen Herzanfall gekriegt vom vielen Fressen.«
Veila lachte. »Wenn das unsere einzige Chance ist, den Diktator zu beseitigen …«
»Wir werden sehen«, knurrte Christer.
Zum Glück kamen jetzt auch Big Kid und Jenka. Damit waren sie vollzählig.
»Es ist wohl am besten, wenn Beppo erzählt«, fing Christer an. »Wegen ihm sind wir schließlich hier.«
Beppo sah ihn dankbar an. Lerc schüttelte angewidert den Kopf. Beppo also, der Speichellecker von Christer. Aber es musste wohl etwas Wichtiges sein, denn Beppo arbeitete in der Zentralverwaltung und konnte ab und zu über Umwege und kleine Bestechungen Zugang zum peripheren Rechner bekommen, der direkt an Head Control angeschlossen war. So erhielten sie die besten Informationen. Denn alles lief über Head Control. Das Militär vertraute dem Computer mehr als den Menschen.
»Ich merkte eigentlich schon am Verhalten einiger Techniker, dass etwas im Gange war«, begann Beppo. »Erst mal liefen mehr rum als gewöhnlich und dann hörte ich von Entlassungen. Und zwar waren alles Leute betroffen, die dem Head Control Service angehörten. Es ist völlig ungewöhnlich, dass Head Control-Leute gefeuert werden, weil sie ja direkten Zugang zum Computer haben und ihn bedienen. Sie sind also allesamt Geheimnisträger und tausendmal durchgetestet, bevor sie den Job bekamen.«
»Und dann entlässt man sie einfach so,« hakte Veila ein. »Das ist doch ein viel zu hohes Risiko. Die Leute sitzen ja dann auf der Straße und erzählen jedem, der ihnen etwas Kohle gibt, was er wissen will.«
»Zwei Möglichkeiten«, antwortete Elfes. »Entweder sie kriegen eine Gehirnwäsche oder sie werden alle umgelegt. Und eine dicke Rente ist ihnen eh sicher.«
»Na, egal«, fuhr Beppo fort.«Auf jeden Fall flüsterte mein Chef dauernd mit den hohen Angestellten rum, dass irgendwas am Computer im Gange sei. Und die Techniker richteten sich bei uns häuslich ein und übernachteten sogar in der Verwaltung.«
»Und trotzdem bist du zum Rechner gegangen.« fragte Christer ungläubig.
»Es war gerade eine günstige Gelegenheit. Ich kriegte einen Auftrag vom Chef für die Datenstelle und ein Anschluss für den Peripherie-Rechner ist gleich nebenan. Als Erlaubnis braucht man eine gelbe Karte. Der Chef war gerade zu Mittag und da hab ich mir eine Karte aus seinem Schreibtisch geholt. Wenn sie mich erwischt hätten, konnte ich immer noch sagen, dass ich glaubte, ich müsste den Rechner für das Problem benutzen, und er hätte vergessen, mir die Karte zu geben.«
»Klingt ganz schön kompliziert«, meinte Jenka.
»Nee, ist es nicht. Schließlich bin ich schon fünf Jahre da und blicke einigermaßen durch. Ich ging also ganz offen zum Anschluss vom Rechner und wie erwartet lungerten einige Techniker rum. Als sie sahen, dass ich eine Erlaubnis hatte und der Computer mir grünes Licht gab, beachteten sie mich nicht weiter. Ich zog den Scheiß, den ich zu bearbeiten hatte, etwas in die Länge und stellte auch nur eine Frage dazwischen. Das war das einzige Risiko¡ denn es konnte sein, dass die Information so geheim war, dass sie nur an besonders autorisierte Personen abgegeben wurde. Vielleicht hätte in so einem Fall der Rechner sogar meine Frage gespeichert und gleich an die Kontrolle weitergeleitet. Dann wäre sofort Alarm gegeben worden und alles aufgeflogen.«
»Mensch, das war doch viel zu riskant.« entfuhr es Big Kid.
»Er wird schon wissen, worauf er sich eingelassen hat«, entgegnete Lerc.
Beppo sah erstaunt hoch. Seit wann verteidigte Lerc ihn? Er schluckte trocken und erzählte dann weiter:
»Nun, wie sich rausstellte, war's in dieser Hinsicht recht harmlos. Die Information soll sowieso an die gesamte Bevölkerung gegeben werden. Nur eben jetzt noch nicht.«
»Also, mach's nicht so spannend!«, fuhr Christer ihn an. »Einen Orden kriegste von uns nicht.«
»Also, Scheiße noch mal …,« Lerc verstummte wieder. Christers Tonfall brachte ihn auf 180. Aber es hatte keinen Zweck, jetzt eine Debatte über Personen ins Spiel zu bringen.
»Unterbrecht mich nicht immer, dann geht's auch schneller«, sagte Beppo gereizt. »Also, ich fragte, was mit Head Control passiert, und erhielt als Antwort zwei ganz kurze Infobits: Head Control Überwachung, Erweiterung und neue Kontrollmarken.«
»Was ist los.«
»Blöde Computersprache.«
»Mensch, damit kann doch keiner was anfangen.«
Alle redeten durcheinander. Lerc wechselte einen kurzen Blick mit Christer. Dann wusste er Bescheid. Es war nicht allzu schwer zu verstehen. Und langsam kamen auch die anderen dahinter.
»Du meinst, sie stellen neue Marken aus«, fragte Hanne entsetzt.
Beppo nickte.«Es sieht nach einer groß angelegten Aktion aus. Wahrscheinlich bringen sie an alle möglichen Straßen und Orten Kontrollgeräte an - natürlich unsichtbar für uns. Und die neuen Marken werden so beschaffen sein, dass die Kontrollgeräte sie aus der Entfernung überprüfen können.«
»Aber dann fällt der ganze Plan mit Bergotos in sich zusammen«, rief Hancos erschüttert.
Genau das war es, dachte Lerc. Das war die direkte Auswirkung. Die Konsequenzen dieser Maßnahme waren denkbar schlecht. Niemand, der gesucht wurde, konnte sich noch irgendwo blicken lassen. Die Kontrollgeräte würden ihn sofort registrieren.
Und ohne Marke war man sowieso verloren. Man brauchte sie zu allem: zum Einkaufen, als Eintrittsbeleg, als Ausweis … Und wahrscheinlich würden die Geräte auch Personen ohne Marke erkennen.
»Wie weit sind sie mit den Marken?«, erkundigte sich Christer.
»Ich weiß nicht.«
»Es dauert bestimmt noch zwei Wochen«, schätzte Latraa. »Immerhin brauchen sie Zeit, um alles umzustellen.«
»Nehmen wir vorsichtshalber eine Woche«, sagte Jenka. »Damit wäre schon alles hinfällig.«
»Und die drei können in Bergotos verfaulen, was.« regte sich Veila auf.
»Mensch, um das zu verhindern, sitzen wir ja hier«, schnappte Big Kid.
»Wie soll denn das Ganze überhaupt ablaufen?«, fragte Elfes. »Machen sie eine große Umtauschaktion.«
»So ähnlich stelle ich es mir vor«, warf Lerc ein. »Dabei können sie gleich alle noch mal überprüfen. Man gibt die alte Marke zurück und kriegt eine neue. Das wird sich auch eine Zeit hinziehen.«
»Klar, aber im Organisieren sind sie Meister«, gab Jenka zu bedenken.
»Okay, wir haben also rund eine Woche Zeit«, vermutete Big Kid. »Bis dahin sind die Marken nicht fertig.«
»Auf keinen Fall«, bekräftigte Latran, der die Verbindung zu den Fälschern hatte.
»Außerdem ist es wohl der Sinn dieses Markentausches, endlich fälschungssichere Marken auszugeben«, fügte Elfes einen weiteren Grund hinzu.
»Es ist also klar, dass wir die drei in ein paar Tagen rausholen müssen«, sagte Christer bestimmt. »Und zwar ohne Marken.«
Er hat sich schon alles zurechtgelegt, dachte Lerc. Natürlich war Beppo mit der Nachricht gleich zu Christer gelaufen und sie hatten hier eine Show abgezogen. Und jetzt wird er uns allen gleich einen wunderhübschen Plan servieren, wie wir alles managen können.
»Wir brauchen gar nicht viel an dem alten Plan zu ändern«, fuhr Christer fort. »Es muss halt alles sofort anlaufen. Die Wachzeiten wissen wir, die Klamotten muss Hancos so schnell wie möglich besorgen, und wir schaffen die Waffen und Transportmittel ran.«
Mit »wir« meint er wohl sich und Elfes, dachte Lerc. Sicher schlägt er gleich vor, die drei bei ihnen zu verstecken, bis die Marken fertig sind.
»Die drei können dann eine Zeit bei uns untertauchen«, erklärte Christer. »Unsere Wohnung ist sauber und wir sind bisher wahrscheinlich nicht auf ihrer Liste.«
»Da sei dir nicht so sicher«, warnte Jenka ihn.
»Na gut, aber wo sollen sie sonst hin.«
Darauf wußte keine/r eine Antwort. Christer wohnte wirklich von allen am Seriösesten. Er war Mathematiker bei einer großen Firma und wohnte nicht in einer WG. Lediglich mit Elfes zusammen, mit dem er auch arbeitete. Sie hatten sozusagen eine Betriebswohnung.
»Und wann soll nun das Ganze steigen?«, fragte Beppo.
»Ich schlage vor in vier Tagen. Bis dahin müssten wir die Vorbereitungen schaffen.«
Christer saß jetzt da wie in Siegerpose und Lerc fragte sich, warum sie ihn nicht gleich zum Chef wählten. An dem Plan selbst gab es nicht viel auszusetzen, nur an der Art, wie er zustande gekommen war. Lerc fühlte sich reichlich unwohl.
»Das ist aber eine dicke Scheiße«, ließ sich da plötzlich Big Kid vernehmen. »Die Tage bin ich doch gar nicht da. Wir müssen die Maschine aus Hemston in Neu-Ing holen und ich muss dabei sein, weil nur ich den Verbindungsmann kenne. Und er nur mich.«
Christer sackte in sich zusammen wie ein angestochener Luftballon. Lerc hätte beinahe losgelacht. Big Kid war nämlich als Offensivmann vorgesehen.
»Okay, dann übernehme ich halt seine Rolle«, schlug Lerc vor.
»Was?« Christer guckte entgeistert. »Du bist doch nie mit unseren Plänen einverstanden. Erinnerst du dich nicht mehr an das Hickhack, ob wir nur die drei oder gleich alle befreien sollen.«
»Klar, und ich bin immer noch dafür. Aber die Sache ist gegessen und ich bin genauso zuverlässig wie Big Kid.«
Ein schönes Team: Christer, Veila und er. Lerc sah zu Veila rüber. Sie starrte ihn misstrauisch an. Wieder stieg der Ärger in ihm hoch. Was sollte das? Nur weil er öfter Kritik übte, traute man ihm nicht mehr zu, eine aktive Rolle zu übernehmen? Er hatte nicht vor, sich auf einen Zuschauerplatz zu begeben.
»Warum soll Lerc denn nicht mitmachen«, schlug sich Jenka auf seine Seite. »Es gibt keinen vernünftigen Grund ihn abzulehnen. Er hilft uns aus der Klemme, da sollten wir ihn schon helfen lassen.«
Lerc war überrascht. Er war es nicht gewohnt, dass sich jemand auf seine Seite stellte. Und dann gerade Jenka, die sich sonst immer so passiv verhielt …
Anscheinend hatte jetzt niemand mehr etwas dagegen und Christer war wohl letztendlich auch froh, dass sich ein Ausweg gefunden hatte.
»Ich kann ja mit Big Kid noch mal alles durchsprechen«, meinte Lerc optimistisch. »Dann läuft die Sache schon.«
Wahrscheinlich grübelte Veila, warum gerade er sich gemeldet hatte. Tatsache war, er war erstens die dauernden Diskussionen leid und wollte wieder was tun und dann war er lediglich zu dem Schluss gekommen, dass er eh der Einzige war, der übrigblieb. Alle anderen hatten entweder eine andere Aufgabe oder konnten aus besonderen Gründen nicht dabei sein. Es hätte alles wieder umgestoßen werden müssen. Warum sollte man groß was ändern, wenn er einspringen konnte?
Der Rest des Treffens war dann nur noch Laberei und Lerc machte sich auf den Heimweg, nachdem er sich für den nächsten Tag mit Big Kid verabredet hatte. Mal sehen, was bei der Sache rauskommt, dachte er. Es kam diesmal wesentlich auf die Zusammenarbeit untereinander an. Und die Sache war zu ernsthaft, als dass sich jemand einen Schnitzer erlauben konnte. Er erinnerte sich kurz an den Streit vom letzten Mal, als er vorgeschlagen hatte, doch gleich so viel Gefangene wie möglich aus Bergotos rauszulassen. Die Gegenargumente gingen von »dazu haben wir keine Zeit« bis »wo sollen die denn alle hin?« und am Ende stand er allein da, ohne irgendwie von den Argumenten überzeugt zu sein. Gut, sie konnten keine Marken für alle herstellen, aber sicher machte sich jeder Gefangene Gedanken darüber, was er bei einer Befreiung unternehmen konnte. Und dies war eine großartige Möglichkeit, dadurch dass sie an geeignete Klamotten und den Krankenwagen rankamen. Nach der Diskussion hatte er sich trotzig aus allem Weiteren rausgehalten. Ein Fehler, wie er inzwischen eingesehen hatte. Auch daher ein Grund für seine Meldung als Ersatz für Big Kid.
Als weiteren Stoff zum Nachdenken für den verbleibenden Rest des Abends hatte er das Verhalten von Jenka. Ihre zwei Sätze hatten mehr zu bedeuten, als wenn Christer eine ganze Stunde redete. Jenka engagierte sich selten, wenn die Standpunkte klar waren und alles bereits mehrmals gesagt war. Es steckte also mehr dahinter. Und das Mehr konnte ein mehr an Sympathie für ihn sein. Hatte er etwas übersehen? Während seiner Streitereien mit Christer, dem Aufbau der Band und dem Grübeln über Veilas Verhalten war ihm vielleicht Naheliegendes entgangen. Lerc pfiff leise vor sich hin. Seine Zuneigung zu Jenka war so alt wie ihre Bekanntschaft und, wie er bisher angenommen hatte, ebenso hoffnungslos. Aber vielleicht könnte sich da jetzt was ändern …