Bluemoon Baby

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6

Glücklicherweise besaß die Hebamme so kurz nach dem Krieg schon ein Auto. Sie nahm das frisch entbundene Kind, wickelte es in eine Decke, zeigte der Mutter nur kurz den blutverschmierten Kopf und lief die Treppe hinunter zu ihrem Renault, um ins nächste Krankenhaus zu fahren. Der Vater rief ihr in seinem gebrochenen Deutsch nach, ob etwas mit dem Baby nicht stimme, doch sie sagte nur, er solle sich um seine Frau kümmern, sie habe jetzt keine Zeit.

Die Ärzte im Krankenhaus standen vor einem Rätsel. Sie untersuchten das Kind mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, konnten aber nur feststellen, daß etwas mit dem Skelett nicht stimmte. Wenn da überhaupt ein Skelett vorhanden war. Da der Vater des Kindes Soldat der amerikanischen Besatzungsmacht war, empfahlen sie der Hebamme, das Kind ins Armeehospital zu bringen.

Tatsächlich war den amerikanischen Ärzten das Phänomen der knochenlosen Geburt vertrauter als ihren deutschen Kollegen, auch wenn es bis dahin in den Vereinigten Staaten nicht mehr als ein Dutzend dokumentierter Fälle gegeben hatte. Das Problem war nur, daß man hier noch weniger als in den Staaten auf einen etwaigen Fall vorbereitet war. Das Neugeborene bekam über den Tropf eine Infusion mit Kieselsäure und Kalzium, wurde in ein Wärmebettchen gelegt und mit einem Trockenmilchpräparat gefüttert, das mit Folsäure versetzt war. Damit waren die Mittel, die man zu dieser Zeit besaß, ausgeschöpft.

Auf diese Art und Weise wurde es ein knappes dreiviertel Jahr am Leben erhalten. Es befand sich in einer winzigen Kammer, die nur Ärzte und Pfleger betreten durften. Sonst niemand. Auch Vater und Mutter nicht. Nicht nur wegen des ungewohnten Anblicks, der einen Laien schnell hätte verwirren können, sondern auch und besonders aus hygienischen Gründen. Dann starb das Kind.

An einem Donnerstagnachmittag bestellte man Frau Howardt und ihren Mann in das Hospital. Sie mußten in einem gekachelten Flur auf einer braunlackierten Bank auf die Ärzte warten. Frau Howardt kannte diesen Flur. Hier hatte sie kurz vor Kriegsende schon einmal gesessen, um sich innerhalb einer großangelegten Untersuchung im mittelhessischen Raum ihre Gebärfähigkeit bestätigen zu lassen.

Damals war sie von einem Arzt in SS-Uniform in einen ebenfalls gekachelten Raum geführt worden, wo er ihren Beckenumfang und ihre Schenkelbreite maß. Er nahm noch andere Daten auf, zum Beispiel die Länge vom Nabel bis zum Ansatz der Schambehaarung, und den Winkel, in dem sie ihre Beine zu spreizen in der Lage war. Dann durfte sie sich wieder anziehen. Fast zwei Stunden mußte sie anschließend auf dem Gang warten. Schließlich wurde ihr die Mitteilung gemacht, daß ihre Gebärfähigkeit über dem geforderten Mindestmaß liege und sie folglich den Vorzug besäße, an einer weiteren Untersuchungsreihe teilzunehmen.

Nun stand sie, keine drei Jahre später, vor einem Spalier weißbekittelter Armeeärzte, die ihrem Mann etwas auf Englisch sagten und ihr mit bedauerndem Gesichtsausdruck die Hand drückten. Als sie es übersetzt haben wollte, schüttelte ihr Mann nur den Kopf. Ob sie nicht jetzt wenigstens das Kind einmal sehen durfte? Ihr Mann sagte, es sei besser, wenn er zuerst hineinging. Die zehn Minuten, die sie allein auf dem Flur warten mußte, waren fast unerträglich. Irgendetwas veränderte sich, und sie konnte es nicht aufhalten. Als ihr Mann aus dem Zimmer kam, war sein Gesicht flach und konturlos. Er sagte, sie solle den Kleinen so in Erinnerung behalten, wie sie ihn kurz nach der Geburt gesehen hatte. Sie konnte sich an kein genaues Bild erinnern, gab aber trotzdem nach.

An diesem Abend sprachen die beiden kein Wort. Auch am nächsten Abend redeten sie nicht. Sie saßen sich nur in der engen Küche gegenüber und hörten auf ein entferntes Schaben im Kamin. Am übernächsten Abend zog Samuel Howardt seine Uniform an und verließ die Wohnung. Seine Frau hörte nun allein auf das Schaben. Drei Tage. Dann kam ihr Mann zurück. Betrunken. Er sagte nichts. Nur sein Atem ging laut und unregelmäßig.

7

Mit sechsundzwanzig hatte Hugo Rhäs Heinrich Böll die Hand gegeben. Er hatte Danke zu ihm gesagt. Ein paar Jahre später schämte er sich für dieses Danke. Zeitweise fand er sogar, daß dieses Danke seinen schwachen Charakter und seine Unfähigkeit zu schreiben in einem Wort zusammenfaßte. Eine jener packenden Metaphern, um die er sich in seinen eigenen Texten immer wieder vergeblich bemühte.

Fast jahrzehntelang hatte ihn dieses Danke davon abgehalten, seinen Brief an Burroughs abzuschicken. Solange, bis dieser schließlich gestorben war. Im nachhinein war ihm auch das recht. Er hatte darin nämlich den Satz geschrieben: „I’ve been searching so long to find an answer.“ Und dieser Satz, so war ihm später eingefallen, war wörtlich aus einem Lied von Chicago entlehnt. Den späten Chicago, also denen jenseits der fünften LP, als sie langsam anfingen, sich in Süßlichkeit und Peter Cetera aufzulösen. Der Name Cetera wäre vielleicht noch einen Aphorismus wert gewesen, aber bestimmt nicht dieses Gesäusel. Terry Kath hatte sich erschossen. Rechtzeitig? Aber wie sollte sich denn die Kategorie des Todes auf das Leben anwenden lassen? War Kerouac zu früh gestorben? Oder Burroughs zu spät? Und was war mit Ginsberg? Werden wir nur im Tod unverwechselbar? Der eine im Bett bei seiner Mutter mit dem Kruzifix an der Wand, der andere in einem leergeräumten Keller. Und was bleibt vom Leben? Zwei Dosen mit einer nach eigenem Rezept hergestellten Suppe im Gefrierfach von Ginsbergs Kühlschrank. Die stehen jetzt auch in einem Museum. Das Vermächtnis eines Poeten.

Gab es denn nur diese beiden Extreme? Oder gab es selbst die nur in Rhäs’ Einbildung? Gab es dann vielleicht nur den Tod? War alles nur ein einziges Zurasen auf den Tod?

Wenn er die Augen schloß, konnte er in der Ferne, über den Platz der alten Papierfabrik hinweg das Rauschen der Autobahn hören. So waren seine Gedanken. So war das ganze Leben. Die Schüler, wie sie hinausströmten in den Pausenhof. Die Lehrer, wie sie hinausströmten auf den Lehrerparkplatz. Alles nur Metaphern für das eine Strömen. Alles strömt. Das heißt: alles stirbt. Vielleicht konnte Hugo Rhäs das Licht am Samstag nicht ertragen, weil es doch auch nur starb, und weil der Samstag sich doch auch nur in den tristen Sonntag auflöste und der dann wieder in die Woche. Und so immer weiter. Als wäre jeder Anfang gleichzeitig ein Ende. Bis wir irgendwann aufgeben, vom Wahn zerstört, hungrig, hysterisch, nackt.

8

Auch wenn Dietmar Kuhn eine manchmal recht langatmige und umständliche Art hatte, freute sich Professorin Rikke, ihn auf der Schmuckausstellung zu sehen. Er deponierte sein Bild unter dem Buffettisch, nahm sich ein Glas Wein und einen Teller Borschtsch, um ihr gleich darauf seine neusten Pläne mitzuteilen.

„Die von der Stadt sind Feuer und Flamme. Man muß denen die Idee eben nur richtig verkaufen. Und vor allem: sich gleich an die richtige Adresse wenden. Wir machen das nämlich nicht über das Kultur-, sondern über das Verkehrsamt.“

Professorin Rikke hatte schon mehrfach mit Dietmar zusammengearbeitet. Zum Beispiel bei der Wagenparade zur Sommersonnenwende auf dem Mainzer Lerchenberg. Ihre Studentinnen hatten bunte Sonnengefährte gebaut, mit denen sie den Lauf der Sonne als Kreisen um den weiblichen Zyklus symbolisierten. Und es war Dietmar, der die Idee hatte, das Ziel dieses Umzugs auf das ZDF-Gelände zu legen, so daß sie gleichzeitig in der Sendung Fernsehgarten, damals noch mit Ilona Christensen, auftreten konnten. Nachdem einer der Osmonds einen alten Hit zum Vollplayback nachgemimt hatte, waren sie winkend in das bunte Rund gezogen. Erst erklärte Dietmar mit ein paar geschickten Worten den künstlerischen Aspekt der Aktion, und dann bekam sie die einmalige Chance, ein Millionenpublikum an einem Sonntagvormittag über die Existenz des Fachbereichs Frauenstudien aufzuklären; auch wenn ihr die anschließende Überleitung etwas mißglückt erschien, da man zwei Zuschauerinnen auf die Bühne holte, die sich laut Anmoderation bereit erklärt hatten, bei einem Frisör und einer Visagistin „zu studieren, um das Beste aus ihrem Typ zu machen“. Dietmar hatte sie damals mit dem Hinweis auf einen gar nicht mehr auszurechnenden Multiplikator zu trösten versucht. Und tatsächlich war sie wenig später zu einem Symposium über die mythische Bedeutung des Ballspiels nach Worms eingeladen worden.

Dietmar tunkte ein Stück Weißbrot in seine Suppe. „Ich hab denen gesagt, ihr könnt doch nicht immer dasselbe machen zum Tag der offenen Tür. Da fährt die Feuerwehr vor, rollt Schlauch und Leiter aus und damit hat sich’s. Damit lockt man niemanden mehr hinterm Ofen vor. Der Stadtmanager ist da durchaus aufgeschlossen. Der merkt das auch. Es fehlen eben nur die Ideen. Also, hab ich gesagt, wir müssen zum Ursprung zurück und das ganze wörtlich nehmen.“ Er legte eine Kunstpause ein, wischte den letzten Rest Suppe aus seinem Teller, stellte den Teller hinter sich auf eine Vitrine mit Ringen aus unbehandeltem Baustahl und beugte sich fast verschwörerisch zu Professorin Rikke, die gerade versuchte, den Auftritt der Lebensgefährtin des Außenministers nicht ganz aus den Augen zu verlieren.

„Natürlich kostet das ’ne Kleinigkeit, aber dafür kriegen sie auch was geboten. Folgendes: Im Rathaus und allen anderen öffentlichen Stellen und Ämtern werden am Tag der offenen Tür die Türen ausgehängt. Aber das ist noch nicht alles. Wir sind uns noch nicht ganz einig, welche Lösung wir nehmen, aber entweder werden die Türen selbst verfremdet, also bemalt, beklebt und so weiter, oder es werden neue Türen entworfen, die statt der alten eingesetzt werden. Also eher Vorhänge aus Stoff, oder mit Bändern und Schnüren, da gibt’s ja alles mögliche. Du hast doch auch mal ein Seminar über Türen gemacht?“

 

„Ja, über das Fehlen der Tür bei den Sedang.“

„Stimmt. Vielleicht könnten wir da irgendwas koppeln. Das wird nämlich eine größere Sache. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wieviel Türen so ein Amt hat. Wirklich nicht auszumalen – im wahrsten Sinne des Wortes. Fünfzehntausend haben sie bislang sicher zugesagt. Über den Rest muß man noch mal reden. Vielleicht kann man das mit den ausländischen Gruppen koppeln und kriegt aus dem Topf noch was.“

Die Lebensgefährtin machte sich gerade zum Gehen auf und trug sich als letzte Amtshandlung umständlich und mit großem Gekicher in das Gästebuch ein.

„Was schreib ich denn nur?“ flötete sie.

„Am besten eine Bestellung“, rief jemand aus dem Hintergrund. Durch das darauffolgende Lachen wurde auch Dietmar Kuhns Aufmerksamkeit abgelenkt. „Ach, die ist auch da. Bist du so gut und paßt mal ’nen Moment auf mein Bild auf? Ja?“ Mit diesen Worten schlängelte er sich geschickt durch die Herumstehenden und sah der Lebensgefährtin über die Schulter, während sie auf das handgeschöpfte Bütten schrieb: „Ein schmuckvoller Abend – rundum gelungen. Euer Geschäft: eine versteckte Perle.“

9

Das Milieu im Bahnhofsviertel wußte mit der Radix-Theorie von Hugo Rhäs seltsamerweise nicht das Geringste anzufangen. Selbst die unter dem Namen „Professor“ bekannte Szenefigur, ein Mann jenseits der sechzig, von dem es hieß, er habe Abitur und sei sogar Berufsschullehrer gewesen, schüttelte nur bedauernd den Kopf und warf die Blätter mit den ellenlangen Bruchstrichen, um die sich ein endloser Zug von Variablen und Konstanten hangelte, wieder in den Karton auf dem Barhocker zurück. Es roch stark nach Schweiß und frischem Leder, so wie in einem der Dominastudios nebenan.

Kalle war seit drei Tagen nicht mehr aus seiner Allwell-Lederkluft gekommen. Nachdem ihm mit seinem Fund vom Gelände der ehemaligen Papierfabrik nicht der gewünschte Erfolg beschieden war, hatte er die anfänglich noch gewahrte Geheimhaltung immer mehr aufgegeben und schließlich jedem, der zufällig neben ihm an einem Tisch saß, einen Blick in den Karton aufgedrängt. Vielleicht war man hier aber auch einfach zu provinziell für ein Ding von diesem Format. Die Leute hatten einfach keine Ahnung. Die beiden Hütchenspieler, an die er die Papiere schon gleich am Montagabend verspielt hatte, ließen ihm den Karton durch eine Rotznase, die für sie Botengänge erledigte, zurückbringen. Zusammen mit der Drohung, er solle ihnen bis Ende der Woche die fünf Blauen vorbeibringen.

Als man ihm schließlich am Donnerstag, nachdem er bis zum Professor vorgedrungen war, in derselben Kneipe irgendwas ins Bier tat und er wie bewußtlos bis zum Abend durchschlief, vermißte er nach dem Aufwachen nur Lederjacke, Gummiknüppel, Stablampe und den Allwell-Blechstern, während der Karton mit den Papieren unangerührt neben ihm stand. Der Kellner kam, um abzukassieren, aber Kalle hatte schon am Mittag kein Geld mehr gehabt. Er bot einen Teil der Papiere als Pfand an. Zwei Schlägertypen packten ihn und warfen ihn auf die Straße. Die Papiere flogen hinterher.

Kalle stand mühsam auf. Ihm war schwindlig. Am rechten Knie seiner Allwell-Diensthose klaffte ein breiter Riß. Der Wind der Aprilnacht drückte sein durchgeschwitztes Hemd unangenehm klamm gegen seine Brust. Und wenn sie alle hier keine Ahnung hatten, einer kannte den Wert der Papiere mit Sicherheit: der, dem sie gehörten. Kalle würde sie dem Mann im ehemaligen Hausmeisterhäuschen gegen die Zahlung von, sagen wir mal, 250.000 Mark zurückgeben. Natürlich nicht alle Papiere. Das konnte der überhaupt nicht so schnell überprüfen. Und so würde er in absehbarer Zeit noch mal ein schönes Sümmchen einheimsen. Um diesen neuen Plan auszuführen, brauchte Kalle allerdings die Telefonnummer von Hugo Rhäs. Da er jedoch dessen Namen nicht kannte, konnte er nicht einfach im Telefonbuch nachschauen, sondern mußte sich die Nummer auf eine andere Weise verschaffen.

Und so kam es, daß der Nachtdienst der Firma für Sicherheitskonzepte Allwell an diesem Abend gegen halb zehn relativ kurz hintereinander zwei Anrufe erhielt. Im ersten Anruf fragte jemand mit offensichtlich verstellter Stimme, ob man ihm die Nummer des Hausmeisterhäuschens auf dem Achenkerberschen Gelände geben könnte. Er sei ein an den Rollstuhl gefesselter Nachbar, der gerade zufällig von seiner Wohnung aus gesehen habe, wie das Küchenfenster gefährlich im Wind schlagen würde. Nachdem man dieser Bitte aus Datenschutzgründen nicht nachkommen konnte, jedoch versicherte, umgehend ein Mitglied des eigenen Wachpersonals darüber in Kenntnis zu setzen, rief dreißig Sekunden später und wie durch eine Fügung des Himmels Kalle an.

„Ich mach hier gerade Dienst beim alten Achenkerber, und da ist mir aufgefallen, daß das Küchenfenster in der früheren Bude vom Hausmeister so klappert. Der Typ reagiert aber nicht auf mein Klingeln. Gebt mir doch mal kurz seine Nummer, vielleicht krieg ich ihn übers Handy.“

Die Allwell-Zentrale war über jeden Schritt Kalles seit Montag informiert. Er stand unter ständiger Bewachung und mit einem gewissen Amusement und auf der Suche nach weiteren Kündigungsgründen ließ man ihn weitermachen und gab ihm auch jetzt bereitwillig die Nummer von Hugo Rhäs. Schaden konnte er keinen mehr anrichten, dafür würde man schon sorgen.

10

Ein Ara ist kein billiger Vogel. Ein dressierter Ara jedoch, einer, der mit dem Schnabel Zuckerstückchen aus einer Dose holt oder einen Büstenhalterverschluß zu öffnen versteht, ist nahezu unbezahlbar. Hat man aber schon einmal so viel Geld für Anschaffung und Aufzucht ausgegeben, dann sollte sich das Tier auch auf irgendeine Art amortisieren. Nun sind Filme, in denen Papageien tragende Rollen spielen, leider rar. Oft tut es auch ein ausgestopftes Tier, dem Hans Clarin mit verstellter Stimme ein paar Wörter unterlegt, ganz zu schweigen von den immer perfekteren Computeranimationen.

Kein Wunder also, daß sich auch alle möglichen Tierbesitzer zusammen mit ihren Schützlingen in Richtung Polar, Wisconsin, aufmachten. Da sich die Behörden jedoch außerstande sahen, noch ein drittes Lager aufzuschlagen, wurden die Tierhalter ebenfalls in Richtung Langlade, zu dem Camp vor den Toren des kleinen Dörfchens Ranton umgeleitet.

Tiertransporte sind eine diffizile Angelegenheit und nicht so ohne weiteres zu bewerkstelligen. Glücklicherweise fand sich jedoch ein Organisator, der die verschiedenen dressierten Schützlinge gegen eine Aufwandsentschädigung zu einem Konvoi zusammenfaßte, die Fahrtroute erstellte und die Reise organisierte.

Neben einer Unmenge Vögel, die in einer alten fahrbaren Zirkusvoliere transportiert wurden, gab es so gut wie alles: normale Haustiere wie Katzen, Hunde, Hamster, Hühner, Schweine, die sich auf irgendein Kunststück verstanden, dann Schlangen, Reptilien, riesige Käfer und exotische Schmetterlinge, die vor allem durch ihr ungewöhnliches Aussehen faszinierten. Schließlich natürlich Löwen, Tiger, Geparden, Panther und andere Raubtiere. Ein Elefant und ein halbes Dutzend Pferde rundeten diese Arche Noah auf Rädern ab.

Wer weiß, was allein ein Elefant jeden Tag frißt, ahnt, daß das Konzept des Organisators, der blauäugig von einem gemeinsamen Topf gesprochen hatte, nicht aufgehen konnte. Ein hypernervöses Schwein starb als erstes. Es folgten drei Wellensittiche. Und so ging es weiter. Die Entsorgung der Kadaver, die man unter den Augen einer wachsenden Öffentlichkeit nicht einfach an andere Tiere verfüttern konnte, verschlang zusätzliches Geld. Obwohl der Zug nur drei Tage unterwegs war, ging es am Ende bloß noch darum, durchzuhalten und das Ziel zu erreichen.

Von dem Ziel hatte man natürlich völlig falsche Vorstellungen, obgleich es immer mehr Beteiligten dämmerte, daß der große Tierpark, in dem alle ihr Auskommen finden würden, auf diese Art und Weise bestimmt nicht existierte. Daß sie aber nichts weiter als einen mit Wohnwagen belegten Platz vorfanden, als sie am Abend des dritten Tages in Ranton ankamen, überstieg ihre schlimmsten Befürchtungen.

Man versuchte, den Organisator zur Rede zu stellen, doch der hatte sich kurz vor Polar aus dem Staub gemacht. Obwohl dem Konvoi mitgeteilt wurde, daß der Festplatz in Ranton aus allen Nähten platzte, beschloß der nun führerlose Zug, einfach immer weiter in das Dorf zu fahren. Es wurde langsam dunkel, und da man sich in der unbekannten und schlecht ausgeschilderten Gegend nach einem Lichtschein in der Ferne orientierte, stieß man schließlich auf den Fackelzug der aufgebrachten Bevölkerung.

Die Tiere wurden durch das Geschrei und den Schein der Fackeln unruhig und schlugen gegen die Wände ihrer Käfige. Schließlich verlor irgendwer die Nerven. Mit einem Mal waren die Wagen und Transporter offen und die Tiere in Freiheit. Da die meisten von ihnen Licht und Lärm verabscheuten, verteilten sie sich in den ausgestorbenen Straßen des Ortes und drangen in die leeren Häuser ein.

Und so kam in Ranton doch noch alles zu einem einigermaßen glücklichen Ende. Nun hatten die Behörden einen Grund, das Dorf abzusperren und jegliche Presse fernzuhalten. Da es sich teilweise um exotische Tiere handelte, deren Herkunft und Gesundheitszustand überprüft werden mußten, konnte eine vorübergehende Quarantäne verhängt werden. Die Dorfbewohner, die sich nur mit dem gewöhnlichen Vieh auskannten, waren auf die Hilfe der anwesenden Artisten angewiesen. Diese allein konnten aus Panik in Wasserleitungen geflüchtete Ozelote befreien, Leguane von den Bäumen pflücken und Tiger mit Hilfe eines vorgehaltenen Stuhls von den Stallungen weglocken. Alle arbeiteten in den nächsten Tagen so gut zusammen, daß die außergewöhnlichen, größeren und wertvolleren Tiere fast vollständig eingefangen werden konnten. Es fehlte am Ende nur ein dressierter Ara, ein äußerst sensibler Vogel, der mehrere zehntausend Dollar wert war. In der freien Natur kaum lebensfähig, machte sein Besitzer sich die allergrößten Sorgen und ließ mehrere Suchdurchsagen in lokalen Radiostationen schalten. Leider ohne den gewünschten Erfolg.