Vergessen und Erinnern

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Das Volk selbst wird und soll seine Sünde vergessen, wenn es wieder mit Gott versöhnt lebt: „Sie werden ihre Schande vergessen, vergessen, wie oft sie mir untreu waren, wenn sie auf ihrem Grund und Boden in Sicherheit leben, ohne dass sie jemand erschreckt […]. Dann werden sie erkennen, dass ich, der Herr, ihr Gott bin“ (Ez 39,26.28a).

Das, was ihm durch Christus an Neuem vor Augen steht, führt Paulus dazu, Gewesenes zu vergessen: „Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinen Leiden; sein Tod soll mich prägen. So hoffe ich, auch zur Auferstehung von den Toten zu gelangen. Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. […] Eines aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. Das Ziel vor Augen, jage ich nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung, die Gott uns in Christus Jesus schenkt“ (Phil 3,10-12b.13b-14).

Dieser kurze Überblick macht, wie ich meine, deutlich, dass die Kontexte, in denen biblisch von Erinnern und Vergessen die Rede ist – abgesehen von den Texten, in denen ein Mensch darüber klagt, von Gott vergessen zu sein –, ganz andere sind als die Situation einer alten Pflegeheimbewohnerin, deren Erinnerungsvermögen von Demenz bedroht ist. Die Klage über Gottvergessenheit kann durchaus eine Hilfe sein, die leidvolle Seite der Demenz zur Sprache zu bringen.

Knut Berner weist darauf hin, dass es bei der biblischen Rede von Erinnern und Vergessen weniger um Erinnerungsfähigkeit geht als um praktisches Verhalten, insbesondere komme das Vergessen „durch die bewusste Abwendung von gegenwärtigen Personen, Dingen, Verpflichtungen, Erfahrungstatsachen […] und Verhaltensweisen zustande“248.

Das Vergessen Dementer kann im Rahmen schöpfungstheologischer Fragestellungen, im Zusammenhang mit dem Gedanken der Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen oder im Kontext einer spezifischen Theodizeefrage thematisiert werden. Entscheidend scheint mir, dass die biblische Rede von Erinnern und Vergessen nicht von Einzelpersonen spricht. Und wenn, stehen diese für das ganze Volk. So ist Vergessen nicht ein individuelles Problem. Ein alter Mensch, dessen Gedächtnis nachlässt, ist als Teil der Gemeinschaft auch weiter Teil der Erinnerung Gottes und der Erinnerung an Gott. In dem Abendmahlslied von Johann Andreas Cramer aus dem Jahr 1780 kommt das deutlich zum Ausdruck:

1. Das sollt ihr, Jesu Jünger, nie vergessen:

Wir sind, die wir von einem Brote essen,

aus einem Kelche trinken,

Jesu Glieder, Schwestern und Brüder.

2. Wenn wir in Frieden beieinander wohnten,

Gebeugte stärkten und die Schwachen schonten,

dann würden wir den letzten heiligen Willen

des Herrn erfüllen.

3. Ach dazu müsse deine Lieb uns dringen!

Du wollest, Herr, dies große Werk vollbringen,

dass unter einem Hirten

eine Herde aus allen werde.“249

Der Appell „Erinnere dich!“ richtet sich an die Mitmenschen derjenigen, denen gottgewollt (?), von Gott so eingerichtet (?) – jedenfalls von Gott nicht verhindert –, die biologischen Grundlagen verloren gehen, sich zu erinnern: Sie haben die Möglichkeit, alten Menschen mit Demenz einen Platz in der Erinnerungsgemeinschaft zu geben. Das beginnt damit, sie mit ihrem Namen anzusprechen250 – und sich dabei die Mühe zu machen, herauszufinden, mit welchem Namen (Vorname oder eine bestimmte Abwandlung, Familienname vor oder nach der Hochzeit) der demente Mensch sich als gemeint fühlt – und konkretisiert sich als kirchliches Handeln in menschlicher Zuwendung (Caritas) und Liturgie, wie ich im abschließenden Abschnitt dieses Kapitels (I.5.2., S. 83ff) zu zeigen versuche.

4. Demenz – die „Theological Disease“251

Die vorangegangenen Abschnitte wollten darstellen, dass die menschliche Seinsweise der Demenz nicht einfach defizitäres, beschädigtes Mensch-Sein bedeutet. Das ernst Nehmen, das genaue Hinschauen und die Begegnung mit Menschen, die mit ihren Freuden und Hoffnungen, ihrer Trauer und ihren Ängsten in dieser Seinsweise leben, kann den Blick auf Mensch-Sein insgesamt, auf Mensch-Sein speziell im 21. Jahrhundert, verändern und neue Perspektiven eröffnen. Im Folgenden soll angerissen werden, welche speziellen Fragen Demenz an ein theologisches Reden von Gott stellt.

Der emeritierte Professor für Liturgik und langjährige Pflegeheimseelsorger Franz Kohlschein setzt in seinem Artikel Was bei der Kommunionspendung an Demenzkranke zu beachten ist diese Personengruppe unter Verweis auf CIC Canon 97§2 mit Kindern gleich, die nicht zum Kommunionempfang zugelassen werden können, weil sie noch nicht den vollen Vernunftgebrauch erlangt haben und ihrer selbst nicht mächtig sind.252 Die Gleichsetzung alter Menschen im geistigen Abbau mit Kindern hat eine lange Geschichte, die auf Platon zurückgeht: „Es wird also, wie es scheint, […] der Greis zum zweiten Mal zum Kinde“.253 Wie Verena Wetzstein schreibt, war diese Sentenz bis in die frühe Neuzeit hinein in der abendländischen Geistesgeschichte Allgemeingut. Die überwunden geglaubte Ansicht tauchte im Konzept der Demenz wieder auf254: „Bereits Kräplin, und einige Jahrzehnte später auch Reisberg, interpretiert die Alzheimer-Demenz als Regression zum Kleinkind. Der stufenweise erfolgende Prozess der Zerstörung des Gehirns durch Alzheimer-Demenz soll Parallelen zur Entwicklung des Gehirns von Säuglingen, allerdings in entgegengesetzter Richtung, aufweisen.“255

Unabhängig von der Frage, ob diese These in medizinisch-neurobiologischer Sicht haltbar ist, leidet die Parallelisierung der Demenz zur Gehirnentwicklung am Lebensbeginn „moralisch gesehen unter einem bedeutenden Kategoriefehler. Die anthropologische Situation eines hochbetagten dementen Menschen ist nämlich von der eines Säuglings grundsätzlich verschieden. Ihre Parallelisierung stellt eine grundsätzliche Missachtung lebensweltlicher Umstände dar.“256

Während Kinder – um auf das Thema Kommunion-Empfang zurückzukommen – auf dem Weg des Erwachsenwerdens. Stufen der Eingliederung in die volle sakramentale Gemeinschaft der Kirche durchlaufen und dabei lernen können, das eucharistische Brot von normalem Brot zu unterscheiden, sind Menschen mit Demenz in einer ganz anderen existentiellen Situation: Sie erleiden viele Verluste. Solange ihre kognitiven Fähigkeiten das zulassen, haben sie Angst vor dem Verlust ihrer ‚Selbst-Mächtigkeit‘ und ihrer Würde. Der Vergleich von alten Menschen mit Kindern scheint in manchen Bereichen nahezuliegen, so in Hinblick auf Hilfsbedürftigkeit und auf die Umkehrung des Verhältnisses zu den eigenen Kindern, wenn diese in der Demenz als Mutter oder Vater angesehen werden. Diese Gleichsetzung beinhaltet aber die Gefahr der Abwertung und der Missachtung der spezifischen Lebenslage, in der alle Möglichkeiten genutzt werden müssen, die helfen können, den Kontakt zum eigenen Leben und seinen Erfahrungen, zu den Mitmenschen und zu Gott aufrechtzuerhalten. Geht ein Satz wie „Wer dauernd des Vernunftgebrauchs entbehrt, gilt als seiner nicht mächtig und wird Kindern gleichgestellt.“ (CIC Canon 99)257 – aus dem der Ausschluss vom Kommunion-Empfang abgeleitet wird – nicht gänzlich an dieser Problematik vorbei?258

Romano Guardini hat in Die Lebensalter im Jahr 1953 die Gleichsetzung von hohem Alter und Kindheit als „sentimentale Unwahrheit“ zurückgewiesen.259

Was Guardini dazu ausführt, deckt sich bis in die Wortwahl mit dem, was Arno Geiger fast sechzig Jahre später in seinem Buch über seinen dementen Vater Der alte König in seinem Exil schreibt:

„Oft heißt es, an Demenz erkrankte Menschen seien wie kleine Kinder – kaum ein Text zum Thema, der auf diese Metapher verzichtet; und das ist ärgerlich. Denn ein erwachsener Mensch kann sich unmöglich zu einem Kind zurückentwickeln, da es zum Wesen des Kindes gehört, dass es sich nach vorne entwickelt. Kinder erwerben Fähigkeiten, Demenzkranke verlieren Fähigkeiten. Der Umgang mit Kindern schärft den Blick für Fortschritte, der Umgang mit Demenzkranken den Blick für Verlust. Die Wahrheit, das Alter gibt nichts zurück, es ist eine Rutschbahn, und eine der größten Sorgen, die einem das Alter machen kann, ist, dass es gar zu lange dauert.“260

Ohne dabei theologisch zu argumentieren, stellt der Psychiater Klaus Dörner Demenz als „neue menschliche Seinsweise“ dar261, von der her Mensch-Sein insgesamt neu gedacht werden muss. Das 21. Jahrhundert bezeichnet er als das Jahrhundert der Dementen:

„Erst im 20. Jahrhundert hat der medizinische Fortschritt in ihrer Massenhaftigkeit und Bedeutung völlig neue Bevölkerungsgruppen geschaffen: nämlich neben der ebenfalls neuen Bevölkerungsgruppe der chronisch Kranken die der Alterspflegebedürftigen und Dementen. Gemeinsam machen beide in ihrer epidemischen oder besser inflationären, weil von Entwertung bedrohter, Zunahme heute schon etwa die Hälfte der Klientel eines Hausarztes aus. Aber erst wir, unsere Generation ist die, die sich – widerwillig genug – von den Dementen anblicken lässt, also die Augen vor dieser gewaltigen Veränderung, die die gesamte Struktur unserer Gesellschaft, ja unser Menschenbild durcheinanderbringen muss, nicht mehr verschließen kann. Schon weil jeder von uns viel wahrscheinlicher selbst von Alterspflegebedürftigkeit oder Demenz als von allen anderen vergleichbaren Schicksalsschlägen betroffen sein kann. Das hat es menschheitsgeschichtlich noch nie gegeben.“262

Wenn Demenz eine Möglichkeit ist, Mensch-Sein insgesamt unter einem neuen Blickwinkel zu sehen und zu verstehen, dann ist sie auch eine Herausforderung, Mensch-Sein vor Gott neu zu bestimmen. Die abschließende These von Klaus Dörner kommt einer theologischen Fragestellung sehr nahe:

 

„Die Dementen lehren uns auch ein anderes Menschenbild, das vollständiger ist als das der Moderne. Es erlaubt uns allen, uns auch in der Postmoderne zurechtzufinden. […] Ein Menschenbild muss vom Letzten her gedacht werden und das sind neben Menschen im Koma, vielleicht auch neben den Hirntoten – die Menschen in der menschlichen Seinsweise der Demenz. […] Als Mensch bleiben meine Beziehungen von der ersten bis zur letzten Minute auch kindlich: abhängig, verletzlich, spontan-kreativ, fundiert in der Kultivierung meines oralen Ernährungsbedürfnisses, was im mittleren Erwachsenenalter nur von den Erwachsenennormen überdeckt ist. Bis zum Sterben bleibe ich aber auch erwachsen, weil nicht nur vom Selbstbestimmungsbedürfnis, sondern auch vom Bedürfnis bestimmt, mich zu transzendieren, durch eigenes Tun Bedeutung für andere zu haben. […] Die Würde des Menschen ist nicht mehr nur, wie bisher üblich, von den Kranken und Schwachen, sondern von heute an wieder zunehmend von den Gesunden her zu denken; denn deren Würde besteht darin, die Kranken und Schwachen zu achten und zu schützen und ihrer Selbstzweckhaftigkeit zu dienen – vom Letzten her.“263

Wenn der Psychiater Dörner empfiehlt, die menschliche Existenzweise der Demenz und in der Folge menschliches Leben insgesamt „vom Letzten her“ zu verstehen, berührt er damit in seiner Diktion das theologische Thema der Eschatologie. Diese Sichtweise ist von großer Bedeutung für das Demenz-Verständnis von David Keck. Die jahrelange Betreuung der dementen Mutter war wesentliche Inspiration für sein Buch, das sich allerdings nicht mit der Beschreibung persönlicher Erfahrungen begnügt, sondern mit dem er, der Historiker, Anstoß für eine gründliche theologische Auseinandersetzung mit der ‚Krankheit‘ geben will264 – mit der Krankheit, die er als „the Theological Disease“, „die theologische Krankheit“ bezeichnet.265 „Die Alzheimer-Krankheit, das will dieses Buch nahelegen, zwingt die Christen mehr als jedes andere Leiden unserer Zeit zurück zu den Grundlagen des Glaubens“, schreibt George Lindbeck im Vorwort und merkt an, dass die wissenschaftliche Theologie sich den von der Krankheit aufgeworfenen Fragen bisher nicht gestellt hat.266 Keck selbst schreibt: „Ich habe noch keine detaillierte Abhandlung über die theologischen Dimensionen dieser Krankheit gefunden. […] Auch die Diskussionen über die Krankheit, die in religiösen Publikationen aufscheinen, vertiefen sich nicht in die theologischen Fragen oder erforschen die großen Möglichkeiten der kirchlichen Tradition.“267

Nach Keck unterscheidet sich die Alzheimer-Krankheit von allen anderen Formen von Krankheit, Leiden und Tod, und er nennt acht Themenbereiche, die ihn dazu bewogen haben, sie als „die theologische Krankheit“ zu bezeichnen268:

- Die Krankheit konfrontiert uns mit „anhaltendem Sterben“, ist eine unausweichliche Erinnerung daran, dass wir sterben werden.269

- Die Krankheit erinnert an unser aller Schwäche. Es ist leicht, Unterschiede zwischen Patientinnen und Nicht-Patientinnen zu beschreiben, „aber die Ähnlichkeiten sind größer“270.

- „Das Gebot sagt: ‚Du sollst Vater und Mutter ehren.‘ Die Belastungen einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung einer Alzheimer-Kranken übersteigen die Möglichkeiten der meisten Angehörigen, zeigen uns also, dass das Gebot nicht zu erfüllen ist. Wir werden auf Gottes Gnade verwiesen.“271

- Wie kann eine Patientin am kirchlichen Leben teilnehmen? Die Krankheit isoliert die Kranke und ihre Familie und fordert die kirchliche Pastoral heraus.

- „Wie kann man von einer ‚persönlichen Beziehung zu Gott‘ reden, wenn keine Person mehr übrig zu sein scheint?“ Wenn man früher Epilepsie als „heilige Krankheit“ verstanden hat, als Zeichen des Berührtseins von Gott, könnte Demenz als das Gegenteil gedeutet werden: als Zeichen des von Gott VerstoßenSeins.272

- „Du tust es, weil es richtig ist, nicht weil du Belohnung erwartest.“273 In diesem Punkt gibt es eine Parallele zwischen der Pflege einer Demenz-Kranken und der Gottesverehrung in einer Welt voller Leiden: Beides „kann ziemlich schmerzhaft sein, sogar bitter“274.

- Zentral für das Verständnis David Kecks von Demenz als der Theologischen Krankheit ist der siebente Punkt:

Es geht um die Frage, wie weit das theologische Verständnis vom Mensch-Sein vom Gehirn abhängt, von neurophysiologischen Prozessen. „Diese Krankheit stellt die ganz fundamentale Frage über die imago dei und über die Bedeutung der zentralen Begriffe des christlichen Bekenntnisses wie Erlösung, Auferstehung, Seele. Wenn diese Worte wirklich mehr sind als Metaphern, dann ist diese Krankheit die Gelegenheit, religiöse Überzeugungen zu bestätigen und die theologische Anthropologie entsprechend neu auszurichten.“275

- Zuletzt stellt für David Keck die Konfrontation mit der Alzheimer-Erkrankung theologische Konzepte in Frage, die um Selbstverwirklichung kreisen, auf Erfahrung gründen oder soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellen. „Es scheint, dass die Theologie und die Kirchen, wie Alzheimer-Patienten, ihre wesentlichen Lehren (wie die Seele und Auferstehung) vergessen haben, die wir brauchen, wenn wir von Demenz und Tod betroffen sind.“276 Mensch-Sein „vom Letzten her“ zu verstehen ist für Keck angesichts von Demenz von besonderer Bedeutung, „(w)eil Alzheimer-Familien die Gegenwart einer nicht rückgängig zu machenden Auflösung erleben – die Person scheint zu zerfallen, so wie der Körper im Sarg zerfallen wird […].“277

Die 1996 von David Keck geforderte vertiefte Auseinandersetzung der christlichen Theologie mit den Herausforderungen der Demenz-Thematik hat in der von ihm erhofften Breite und Tiefe bisher nicht stattgefunden. Es scheint jedoch, dass in den letzten Jahren einige Theologinnen und Theologen auf die gesellschaftlich nicht mehr vernachlässigbaren Fragen zu reagieren beginnen. Die evangelische Theologin Andrea Fröchtling hat sich ausgehend von persönlichen Erfahrungen als Seelsorgerin in Pflegeheimen unter dem Titel Und dann habe ich auch noch den Kopf verloren … umfassend mit der Thematik Menschen mit Demenz in Theologie, Seelsorge und Gottesdienst wahrnehmen auseinandergesetzt.278 In der Frage der theologischen Deutung von Demenz bezieht sie sich auf Keck und benennt weitere Themen zu Stichwort „Theological Disease“:

- Die Bedeutung von Leben mit Demenz im Rahmen einer erinnerungsorientierten Religion.279

- Prozessualer Geschichtsverlust als ein Charakteristikum von Demenzprozessen im Kontext einer Religion, die die Geschichtlichkeit Gottes bekennt und in diese hineinruft.280

- Religion des Wortes und zunehmende verbale Aphasie bei Menschen mit Demenz.281

- Personalität und Identität.282

- Exil – Heimatlosigkeit und Diaspora – Zerstreuung.283 In ihrer Dissertation hat Andrea Fröchtling zum Thema Exiled God and Exiled Peoples284 über Menschen geschrieben, „die durch äußere Gewalteinwirkung ihre bisherigen Geschichte(n) und Referenzsysteme verloren hatten“ und ihre Erfahrungen immer wieder mit dem Begriff ‚Exil‘ beschrieben haben. Bei der Beschäftigung mit an Demenz leidenden Menschen erkannte sie dann, dass sich auch in deren Äußerungen Heimat- und Identitätslosigkeit mit dem Begriff Exil beschreiben lassen.285

- Klassische Eschatologie im Gegenüber zu Zeiterosion und Zeitkonfusion bei Menschen mit Demenz.286 „Im Verlauf des Demenzprozesses wird es für die Betroffenen zunehmend schwieriger, sich auf unterschiedlichen Zeitebenen biografisch und historisch zu verorten, ohne fremde Hilfe zu reminiszieren, sich zu vergegenwärtigen und zu antizipieren. […] Tragende Zukunftserzählungen wirken im Jetzt als Projektion eines Lichtblicks, der die Gegenwart beleuchten kann […]: eine auf Gottes Zukunft hin offene Hoffnung, die getragen ist von Gottes Zusage, dass Krankheit und Tod nicht das letzte Wort haben werden.“287

5. Gedächtnis als Schlüsselkategorie der liturgischen Feier288

5.1. Liturgische Anamnese und die Gegenwärtigkeit der Lebensform Demenz

„Die Liturgie hat mit verschiedenen lebensgeschichtlichen und glaubenden Erinnerungen zu tun; sie enthält Erinnerungen und schafft Erinnerungen und hilft, persönliche und kollektive Erinnerungen zu verarbeiten (z. B. Volkstrauertag). Insofern es in diesem Zusammenhang um die spezifisch heilsgeschichtliche, liturgische Form der Erinnerung an das Handeln Gottes geht, sprechen wir von der Anamnese“,

so sagt es der evangelische Liturgiker und Religionspädagoge Michael Meyer-Blanck.289

„Gedächtnis ist eine Grundkategorie biblischen Gottesverständnisses. […] Indem Gott und sein Volk einander gedenken, vergegenwärtigen sie sich einander, geben sich Anteil aneinander. In der Liturgie der Kirche und – nicht nur, aber besonders deutlich – bei der Feier der Eucharistie gehört die Christusanamnese, die in der Verkündigung und gläubigen Annahme der Heilsbotschaft sowie im Lobpreis des Christusmysteriums und in der Bitte um eine geistgewirkte Aktualisierung geschieht […], zum Kern der gottesdienstlichen Feier“,290

so schreibt Hans Bernhard Meyer im Handbuch Gottesdienst der Kirche. Der griechische Begriff ‚Anámnesis‘ taucht im Neuen Testament in der paulinischen Abendmahlsüberlieferung auf (1 Kor 11). Der Begriff wird auch in den Evangelien und der Apostelgeschichte in der Intention verwendet, durch sinnstiftenden Rekurs auf vergangene Ereignisse christliche Identität auszubilden.291

In der Liturgie hat ‚Anamnese‘ eine zweifache Bedeutung: Spezielle Anamnese bezeichnet den Teil der Abendmahlsliturgie, der sich ausdrücklich auf den Einsetzungsbefehl Jesu bezieht.292 „Hoc facite in meam commemorationem“: Der aus Lk 22,20 und 1 Kor 11,24 übernommene Abschluss der Einsetzungsworte in den eucharistischen Hochgebeten fordert die Mitfeiernden zu erinnerndem Tun auf. Helmut Hoping weist darauf hin, dass im Römischen Kanon, dem ersten Hochgebet im Missale Romanum, ausdrücklich der Bischof bzw. Priester und das heilige Volk als Subjekt des Gedächtnisses (memores) genannt werden.293

Im allgemeinen Sinn meint Anamnese jede liturgische Erinnerung an Gottes Handeln in der Geschichte. In dieser weiteren Bedeutung ist Anamnese nicht nur auf den eucharistischen Gottesdienst beschränkt, sondern Grunddimension jeder Liturgie. Anamnese geschieht dabei nicht nur im Wort, sondern auch durch Zeichen, Musik und im Lied.294 Letzteres ist, wie in II.4. (S. 176-239) ausgeführt, im Kontext von Demenz von besonderer Bedeutung.

Christliche ‚Anamnesis‘ bezieht sich nicht primär auf mythische, also vor- oder außergeschichtliche Geschehnisse, sondern auf die konkrete Geschichte Gottes mit den Menschen. Nach christlichem Verständnis bildet die memoria passionis, mortis et resurrectionis Jesu Christi die Mitte jeder kultischen Vergegenwärtigung durch die Kirche. Ihr Vorbild findet sie dabei bereits im Judentum, vor allem in der Festtradition des Pesach.295

In diesem Zusammenhang verbindet christliche Liturgie die Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie Gerhards und Kranemann ausführen: „Im Unterschied zur mythologisch bestimmten Religion ist christliche Liturgie kein völliges Abstrahieren von der Gegenwart. Da Gott selbst in die Menschheitsgeschichte eingetreten ist, ist er mit seinem Heilsangebot jederzeit gegenwärtig. Das eröffnet der Glaubensgemeinschaft ein Hoffnungspotential auf eine Zukunft mit Gott.“296 „Die Frage aller Fragen der systematischen Liturgiewissenschaft ist die Frage der Zeit“, so lautet die abschließende These Reinhard Meßners in seinem Entwurf Was ist systematische Liturgiewissenschaft?297

„Im gottesdienstlichen ‚Heute‘, das nicht nur ein chronometrisch fassbares Datum ist, tritt die Gemeinde ein in das endgültige ‚Morgen‘ der eschatologischen Vollendung der Welt (und damit auch des Menschen und der menschlichen Gesellschaft), aber vor der endgültigen Offenbarung des Reiches Gottes immer nur auf dem Weg über das ‚Gestern‘ des in historischer Zeitrechnung vergangenen, aber als Ursprungsgeschehen (foundational event) präsenten Handeln Gottes an seinem Volk Israel und, die Geschichte […] vollendend, in Leben und Sterben und in der Auferweckung des gekreuzigten Jesus Christus. Alle drei Zeitmodi – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – verdichten sich in der Gottesdienstlichen Anamnese kraft des Hl. Geistes, der die eschatologische Zeit heraufführt (vgl. die Pfingsterzählung der Apg) zur vollendeten Zeit des Reiches Gottes, dessen Gegenwartsgestalt die gottesdienstliche Symbolhandlung ist.“298

 

Verschränkung der Zeiten oder „Konvergenz der Zeiten“299 im Augenblick des Jetzt: Was Liturgiewissenschafter als Wesenselement christlichen Gottesdienstes kompliziert beschreiben, erleben Menschen mit Demenz auf eine andere, oft belastende Weise, wie Andrea Fröchtling darstellt:

„Im Verlauf eines Demenzprozesses wird es für die Betroffenen graduell schwieriger, sich auf unterschiedlichen Zeitebenen biographisch und historisch zu verorten, ohne fremde Hilfe zu reminiszieren, sich zu vergegenwärtigen und zu antizipieren. […] Leben findet so im Schnittpunkt der Doppelrealität zwischen Gegenwart und aktuell wahr-genommener Vergangenheit statt.“300

In der mittleren Phase des Demenzprozesses entwickelt sich eine Selbstwahrnehmung, die Petra Pfaff „die große Gleichzeitigkeit“ nennt. Sie beschreibt das Erleben von Menschen, „denen in dieser Phase Kategorien wie Vergangenheit und Zukunft abhanden kommen, weil Gleichzeitigkeit Vergangenes in den jetzigen Augenblick holt und Zukunft als Struktur der Lebensplanung nicht mehr antizipiert werden kann“.301 „Leben in einer Art oft paradoxer Doppelrealität, ein Leben zwischen dem ‚Schon‘ und dem ‚Noch-Nicht‘ des Reiches Gottes ist für ChristInnen eigentlich nichts Unvertrautes“, meint Andrea Fröchling, „wobei dem schauenden Wahrnehmen des Jetzt nach paulinischer Seinsbeschreibung eine verzerrte Wiedergabequalität zukommt“302: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin“ (1 Kor 13,12). Auch wenn das ‚verschwommene‘ Sehen von Zukünftigem und Vergangenem allen Menschen gemeinsam ist, sind Menschen mit Demenz in einer Weise, die sie nicht reflektieren können und die ihnen oft Angst macht, der Gleichzeitigkeit ausgeliefert: Wo ist die Mutter? Warum sind die kleinen Kinder nicht mehr da? Wo ist das Zuhause der Kindheit? Petra Pfaff schreibt dazu, dass der willentliche und emotionale Akt des Vergegenwärtigens von Vergangenem und Zukünftigem, wie er unter anderem in der Liturgie geschieht, für Menschen mit Demenz nicht möglich ist: „Dem Menschen mit Demenz stößt Gegenwärtigkeit zu. Er hat nicht die Chance des Krinein, des Unterscheidens zwischen früher oder später, wichtiger oder weniger wichtig, sondern seine Gegenwärtigkeit ist gleichzeitig und in ihrer Summe gleichbedrängend.“303

Wenn alte Menschen in einer Pflegeheim-Kapelle oder auch im Speisesaal zum Gottesdienst zusammenkommen, kommen sie zu einer „Gedächtnisfeier“304 zusammen. Viele von ihnen haben durch Demenz einen großen Teil ihrer Erinnerungen verloren. Doch davon hängt der Charakter der Gedächtnisfeier nicht ab. Keiner, der heute Gottesdienst feiert, hat eigene Erinnerungen an die Ereignisse, die im Zentrum der liturgischen Erinnerung stehen. „For we are church, and thereby part of a collective recollection“, schreibt George Lacey. „In Japanese, I am told, the word for memorized is, literally, implanted in the body. Indeed, the memory of the events celebrated by the church are implanted in the body of Christ.“305 Die Erinnerung verwandelt so die Gegenwart, Liturgie wird Lebens-Mittel. Michael Meyer-Blank schreibt: „Nicht die Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung, sondern das gefeierte Geheimnis der Erlösung schafft Erinnerung nicht an eine andere Zeit, sondern an unsere Zeit als eine andere.“306

Menschen mit Demenz sind im Gottesdienst hineingenommen in das liturgische Gebet, das anamnetischen Charakter hat als ‚Erinnerung Gottes‘ (Genitivus subiectivus) und als ‚Erinnerung vor Gott‘307, wobei das Erinnern Gottes als primäres Subjekt308 der menschlichen Erinnerung voraus liegt und sie erst ermöglicht. Dadurch ist in diesem primären Sinn Erinnern nicht von den Fähigkeiten des menschlichen Gedächtnisses abhängig. „Die Liturgie, insbesondere die Eucharistie als Gedächtnisfeier, basiert auf dem kulturellen Gedächtnis der Christen, das in Tod und Auferstehung Jesu Christi ihr existentielles Fundament hat, doch zugleich wird dieses Gedächtnis von Seiten Gottes durch seinen Erlösungswillen aufgebrochen, so dass sich im Gedächtnis der Feiernden ein Gedächtnis Gottes und das heißt: die Erlösung des Menschen vollzieht“309, so Stephan Wahle.

Unter dem Aspekt der Erinnerung vor Gott ist auch jeder Mensch mit seiner persönlichen Biographie Teil der Liturgie. Insofern der oder die Einzelne ein religiöses Leben geführt hat, begegnet er (sie) auch der eigenen Vergangenheit, weckt der Gottesdienst Erinnerungen auf verschiedenen Ebenen des Bewusstseins oder des Körpergedächtnisses. Auf dieser Sicht baut Anna Thomassen ihr Verständnis von Gottesdiensten für Menschen mit Demenz als „Feier der Erinnerung“ auf.310 Sicherheit, Geborgenheit und Sehnsucht nach bedingungsloser Annahme sind nach Petra Pfaff zentrale Bedürfnisse von Menschen mit Demenz und verweisen „auf religiöse Grundbefindlichkeiten, die in der frühen Kindheit angelegt wurden. Diese Bedürfnisse gilt es in der seelsorglichen Begleitung aufzugreifen und erfahrbar werden zu lassen als Botschaft der Liebe Gottes. Gottesdienst und Andacht sind dafür Ankerpunkte, aber besonders auch das religiöse Alltagsgespräch […]. So wird der Glaube zu einer universellen Gedächtnisstiftung, in der individuelle Erinnerung aufgehoben ist, auch wenn sie sich nicht mehr artikuliert, weil sie sich allmählich im Vergessen auflöst.“311

Auch als „memoria passionis et mortis“312 ist Erinnerung vor Gott Erinnern der je persönlichen Lebensgeschichte mit ihren leidvollen Erfahrungen, in denen der alte Mensch nicht nur dem eigenen Tod nahe gekommen ist, sondern auch viele, in manchen Fällen alle Menschen an den Tod verloren hat, die ihm einmal lieb gewesen sind. Auch diese Toten werden in der liturgischen Anamnese dem Vergessen entrissen und in den Horizont der Verheißung des Lebens für alle gestellt.

5.2. Caritas und Liturgie: Menschen mit Demenz im Mittelpunkt

„Judentum und Christentum sind Religionen, die aus der Erinnerung leben – aus dem Rückblick auf den Exodus und die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel, auf das Leben Jesu, seinen Tod und seine Auferstehung. Sich erinnern stellt für Gruppen wie für einzelne das Merkmal ihrer Identität dar! […] (M)it Erinnerungen können Welten sterben“, schreibt Urte Bejick im Zusammenhang mit Seelsorge mit dementen Menschen.313 Diese Tatsache kann mit dem Phänomen ‚Demenz‘ in gegensätzlicher Weise in Verbindung gebracht werden: Nach Keck hat Erinnerung eine ‚kanonische‘ Funktion, „telling us authoritatively who we are, giving us resources for who we will become“314. So kann einerseits die Frage gestellt werden, ob Menschen mit ihrer Erinnerung auch ihre Religion verlieren, wie es der Titel von David Kecks Buch über Alzheimer’s Disease and the Love of God andeutet: Forgetting Whose We Are.315

Die andere Denkrichtung geht dahin, dass gerade der Gemeinschaftscharakter des Glaubens Menschen, die individuelle Erinnerungen verlieren, die Möglichkeit gibt, in kollektiver Erinnerung eingebettet zu sein. Allerdings nur, wenn die Erinnerungsgemeinschaft, als die die gottesdienstliche Gemeinde zusammentritt, sie nicht im Stich lässt, sondern ihnen einen Platz in ihrer Mitte einräumt. „It is a solemn obligation of the church, the body of Christ, to remember for those of the faith family who can no longer themselves remember“316, schreibt Eileen Shamy, und an anderer Stelle: „When these members of the faith family can no longer remember who they are in relationship to God and, indeed, when Gods love for them through all the years of their living is forgotten, the faith family, the church, must remember for them. Through love and practical compassion it should remind them time and time again of God’s unconditional love.”317

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