Loe raamatut: «Ökonomie die dem Leben dient», lehekülg 4

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Umkehrung der Menschenrechte: Vom Recht der Menschen zur Politik im Interesse der Konzerne

Der Staat hat zwar in der Großen Krise seit 2008 sein grandioses Comeback am Sterbebett des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus bekommen, doch er kehrte nicht zur demokratischen Nachkriegsordnung mit Sozialstaat und Menschenrechten zurück, sondern verschärfte eine Politik, die sich den Interessen der Konzerne und Banken ausliefert. Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, kündigte in einem Interview im Wallstreet Journal vom 22. Februar 2012 an, dass das europäische Sozialstaatsmodell ausgedient habe und nun die Wiederherstellung des Vertrauens der Finanzmärkte das oberste Ziel sein müsse. Demokratische Staaten sollen also vorrangig die Kreditforderungen der Investoren bedienen, und dafür soll die Sozialstaatlichkeit zur Disposition gestellt werden. Offen wird hier die Absicht formuliert, die Finanzinvestitionen vor den sozialen Rechten abzusichern.

Das Doppelprojekt „Mehr Markt und weniger Staat“ ist ein Projekt, das systematisch Druck auf die Menschenrechte ausübt.40 Die Menschenrechte bildeten nach 1945 die Basis für den Aufbau des Sozialstaats in Europa und für die Entwicklung in den Ländern des globalen Südens. Doch der neoliberale Kapitalismus schaltete zurück auf „selbstregulierte Märkte“ und betrieb eine Politik der Deregulierung, Privatisierung und Flexibilisierung. Für die Wohlfahrts- und Sozialstaaten der Industrieländer wie für die Entwicklungsstaaten setzte ein Umbau ein. Nicht mehr soziale Sicherheit und soziale Rechte galten als oberstes Politikziel. Diese wurden vielmehr als Blockade für mögliches Wachstum verstanden. Seiher gilt nun: Steuersenkungen für Unternehmen und ein „Ende des Sozialstaates, wie wir ihn kannten“ (Bill Clinton). Auch die Entwicklungsländer wurden umgebaut: Erwartet wird, die „Schuldendienstfähigkeit“ sicherzustellen. Während im globalen Norden der Sozialstaat als Ausdruck sozialer Menschenrechte wie des Rechts auf soziale Sicherheit Stück um Stück zurückgebaut wird, wird in den Ländern des globalen Südens der Entwicklungsstaat zurückgenommen. Die Schuldendienstfähigkeit rangiert nun vor dem Bedarf der Menschen an sozialer Sicherheit, Nahrung, Wohnung, Arbeit und den Menschenrechten. Das eben wollen jene Hedgefonds durchsetzen, die laut „New York Times“ vom 19. Januar 2012 gegen einen Schuldenerlass für Griechenland beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg eine Klage mit der Begründung eingereicht haben, dass ein Schuldenerlass die Menschenrechte der Anteilseigner verletzen würde. Die Sicherstellung des Schuldendienstes und der Schuldentilgung gerät somit in den Rang eines Menschenrechts.

Jean Ziegler, ehemals Sonderbotschafter der UNO für das Recht auf Nahrung, bringt diese Entwicklung zugespitzt auf den Punkt, wenn er sagt: „Die transnationalen kapitalistischen Privatgesellschaften üben eine planetarische Macht aus. Diese neuen Feudalherren nenne ich Kosmokraten. Sie sind die Herrscher des Imperiums der Schande.“41 Eine Schande nennt Ziegler eine Wirtschaftsordnung, die zwar genug Nahrung für alle zu produzieren in der Lage ist, aber das Recht auf angemessene Nahrung nicht einlöst.

Im Jahr 2008 konnte ich die seit Jahren streikenden Arbeiter bei Nestlé in Cavite in der Nähe von Manila auf den Philippinen besuchen. Sie kämpften gegen Einschnitte ihrer Renten- und Sozialversicherung und berichteten mir, dass auf dem Fabrikgelände Hunderte Soldaten stationiert wären, um die Beschäftigten niederzuhalten. Die frühere Präsidentin der Philippinen, Gloria Macapagal-Arroyo, kündigte im Jahr 2008 eine eigene militärische Investitionsschutzmacht für Unternehmen an. Sie erklärte: „Ich habe die Armee angewiesen, eine Investment Defense Force zu bilden. Die Aufgabe der Investment Defense Force besteht darin, einen Schutzschild für Vermögenswerte, Infrastruktur und Entwicklungsprojekte im Bergbau zu schaffen.“ (Zambo Times, 12. Februar 2008) Das Militär ist angehalten, für die Sicherheit der globalen Investitionen zu sorgen. Die militärische Verteidigung von Investitionen illustriert diese Umkehrung der Menschenrechte in besonders drastischer Weise. Der neoliberale Staat hat sich von einem Entwicklungsstaat in einen Sicherheitsstaat verwandelt, der die Investitionen nötigenfalls auch militärisch sichert.

Wenn es einen Vorrang der ökonomischen Investitionen vor den Menschenrechten gibt, dann ist der Kampf um mehr soziale Menschenrechte ein Hindernis für die Durchsetzung ökonomischer Interessen. Um den Vorrang ökonomischer Interessen abzusichern, bleibt die Verletzung der Menschenrechte straffrei. Straffreiheit ist deshalb keinesfalls nur eine sträfliche Unterlassung des Staates bei der Strafverfolgung, sondern setzt umgekehrt das oberste Ziel durch: die Absicherung der Kapitalinteressen. Wer dagegen soziale Rechte verteidigt, der behindert die wirtschaftliche Entwicklung und macht sich „schuldig“. Wer die sozialen Menschenrechte verletzt, der geht straffrei aus.

In den Menschenrechtsdokumenten wird die Verpflichtung des Staates gegenüber den Menschenrechten regelmäßig dreifach bestimmt: als Verpflichtungen zur Achtung, zum Schutz und zur Erfüllung der Menschenrechte.42 Der Staat achtet die Menschenrechte, wenn er niemanden direkt oder indirekt an der Ausübung seiner Menschenrechte hindert. Der Staat schützt sie, indem er den Einzelnen gegen tatsächliche oder drohende Eingriffe in seine Rechtsposition durch Dritte schützt. Verletzungen können sich auch durch staatliches Unterlassen ergeben. Art und Umfang der Schutzpflichten werden in den jeweiligen Abkommen konkretisiert. Bei den staatlichen Schutzpflichten handelt es sich nicht um staatliche Handlungsverbote, sondern um staatliche Handlungsgebote und somit um Leistungsrechte der Bürgerinnen und Bürger. Der Staat erfüllt seine Pflichten, indem er selbst Maßnahmen ergreift, die Menschenrechte ganz zu realisieren. Alle Menschenrechte weisen diese Trias von Abwehr-, Schutz- und Leistungsrechten auf. Art. 2 des Sozialpaktes verpflichtet die Vertragsstaaten, alle Möglichkeiten zu ergreifen, um die Rechte „nach und nach“ zu verwirklichen. Gemeint ist damit nicht, sie nur teilweise umzusetzen. Menschenrechte sind immer sofort umzusetzen. Diese Trias ist bedeutsam für ein angemessenes Verständnis der Menschenrechte, aber auch der sich daraus ergebenden Staatenpflichten.

Umkehrung der Menschenrechte heißt: Die Aufgabe, die Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen, wird in eine Verpflichtung des Staates verwandelt, die Interessen des Kapitals oder die ausländischen Investitionen zu respektieren, zu schützen und zu erfüllen. Aus dem Staat ist ein Sicherheitsstaat geworden – ein Staat, der nicht die globalen Menschenrechte sichert, sondern die Rechte der ökonomischen Akteure. Die sozialen Verwerfungen der wirtschaftlichen Globalisierung werden zusehends kritisch betrachtet. Doch die Frage ist, ob die politischen Entscheidungsträger auf nationaler und internationaler Ebene fähig oder auch nur willens sind, regulierend und steuernd einzugreifen und die ökonomische Globalisierung menschenrechtlich einzuhegen und zu gestalten.

Rückkehr der Marktgläubigkeit

„Raubt es Ihnen nicht den Schlaf, wenn Sie daran denken, was Sie angerichtet haben?“ so fragte der Chefermittler im US-amerikanischen Untersuchungsausschuss zur Bankenkrise einen ehemaligen Banker. Dieser antwortete: „Wir sind nicht verantwortlich. Wirklich nicht. Sorry for that.“ Ein anderer Bankerkollege versuchte, die Finanzkrise mit dem Hinweis auf solche Naturereignisse wie einen Hurrikan oder Tsunami zu erläutern. Alan Greenspan, der die amerikanische Geldpolitik von 1987 bis 2006 maßgeblich bestimmt hat, bekannte zerknirscht 2008 vor dem Ausschuss zur Aufklärung der Finanzkrise im US-Kongress, dass er sich geirrt habe; er hätte die Selbstheilungskräfte des Marktes zu hoch eingeschätzt und eine strengere Regulierung nicht für notwendig gehalten. Zu offenkundig war das Scheitern der Dogmen und Grundüberzeugungen gewesen, die den deregulierten Finanzkapitalismus theoretisch und praktisch begründet hatten. Woher kommt dieser Glaube an den Markt und seine Selbstregulierungskräfte?

Unberührt von jeglicher Kritik an den Banken für deren Verschulden der Finanzkrise bekannte sogar noch nach der schweren Krise 2009 Lloyd Blankfein, Vorstandsvorsitzender der Goldman Sachs Bank: „Banken verfolgen einen sozialen Zweck und verrichten Gottes Werk.“43 Wie kann Blankfein davon sprechen, dass die Banken Gottes Werk tun? Blankfein gehört zu Ökonomen wie Milton Friedman, George Stigler oder Friedrich A. Hayek, die einer neoliberalen Wirtschaftsdoktrin folgen, die davon überzeugt ist, dass der Markt seine wohlstandsfördernde Wirkung am besten dann entfalten könnte, wenn die Politik sich heraushalte und die Märkte sich selber regelten. Diese Überzeugung wird mit dem Wirken einer „unsichtbaren Hand“ begründet. Sie macht das eigentliche ideologische Zentrum jener Grundüberzeugung aus, die sich nach dem Ende des „eingebetteten Kapitalismus“ ab Anfang der 80er-Jahre etablieren konnte und auch den Hintergrund einer Umkehrung der Menschenrechte bildete.

Die unsichtbare Hand

Bereits am Vorabend der Großen Weltwirtschaftskrise hatte John M. Keynes 1926 das Dogma einer „unsichtbaren Hand“ für die Krisenhaftigkeit der Marktwirtschaft verantwortlich gemacht. Er sprach von einer „Religion der Ökonomen“44, die nur das „private Geldverdienen“ (35) im Sinn habe. Auch Alexander von Rüstow, ein bekannter Ökonom, der später einer der Mitbegründer der Sozialen Marktwirtschaft werden sollte, führte die Wirtschaftskrise auf eine Art von Gläubigkeit zurück. In der Analyse der Ursachen, die zur Großen Weltwirtschaftskrise geführt hätten, kommt er in seiner 1945 erschienenen Schrift unter dem Titel Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem45 zu der Einsicht, dass die Große Weltwirtschaftskrise durch eine „verkappte Religion“46 ausgelöst worden sei. Wie auch Keynes analysiert er die Wirtschaftskrise als ein „religionsgeschichtliches Problem“. Er verweist dabei auf Adam Smith, den Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaften. Er hatte den Marktmechanismus mit dem Wirken einer „unsichtbaren Hand“ begründet. Wie der Schöpfergott in seiner Güte die Welt erhalte, so lenke er auch die Welt mit „unsichtbarer Hand“ zum Guten. Smith hatte sich auf die antike Philosophie der Stoa bezogen, die in der Zeit des Frühkapitalismus eine Renaissance erlebt hatte und die deistische Vorstellung begründete, dass Gott die Welt wie ein Uhrwerk geschaffen habe, das selbsttätig funktioniere.

Auch wenn Adam Smith selber lediglich an zwei Stellen die für das ökonomische Denken so bedeutungsvolle Metapher der „unsichtbaren Hand“ verwendet, ist der Überzeugungsstandpunkt doch bei seinen Epigonen häufig anzutreffen. Smith spricht in seinem Hauptwerk Der Wohlstand der Nationen diese „unsichtbare Hand“ an: Wer seinen eigenen Gewinn vergrößern wolle, werde „von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat. […] Ja, gerade dadurch, dass er das eigene Interesse verfolgt, fördert er häufig das der Gesellschaft nachhaltiger, als wenn er wirklich beabsichtigt, es zu tun.“47 So kann Smith dann sagen: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.“ (17) Er kann so sprechen, weil er davon überzeugt ist, dass eine Vorsehung den Eigennutz in Gemeinwohl verwandelt, denn die Reichen

„… werden von einer unsichtbaren Hand dazu geführt, nahezu die gleiche Verteilung lebensnotwendiger Güter vorzunehmen, die gemacht worden wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter all ihre Bewohnern aufgeteilt worden wäre, und so fördern sie, ohne es zu beabsichtigen, ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft.“48

In der neoliberalen Doktrin begegnet man im Argument der „unsichtbaren Hand“ immer wieder diesem theologischen Argument. So kann Stefan Baron, Herausgeber der Zeitschrift Wirtschaftswoche, in offensichtlicher argumentativer Nähe zu Adam Smith sagen:

„So bewirkt die unsichtbare Hand des Marktes, dass Topmanager, die scheinbar unsozial und egoistisch die Maximierung des Gewinns und damit ihrer Bezüge verfolgen, gleichzeitig auch das Gemeinwohl mehren.“49

Individuelle Bereicherung und Gewinnmaximierung werden als Wohltat fürs Gemeinwohl umgedeutet. Diese Darlegung von Baron illustriert anschaulich, wie das religiös fundierte Weltbild des Adam Smith auch in säkularer Gestalt weiterlebt und eine neoliberale Wirtschaftspolitik legitimiert, die Gewinnmaximierung zum obersten Ziel des Wirtschaftens erhebt.

Einer der Zeitgenossen von Smith war Johann Wolfgang von Goethe. Er wusste genau um die Ungeheuerlichkeit dieser Denkweise, welche die ethische Orientierung nicht nur neutralisiert, sondern geradezu ins Gegenteil verkehrt. So lässt er in seinem Faust den Mephisto sagen, er sei

„Ein Teil von jener Kraft,

Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“

Damit präsentiert sich der Teufel als ein Gläubiger nach Art des Adam Smith. Ungehindertes Streben nach privatem Gewinn und Nutzen summieren sich nach dieser Glaubensüberzeugung durch die „unsichtbare Hand“ einer göttlichen Vorsehung zu einem Gemeinwohl. Eigennutz zu verfolgen ist nicht nur moralisch gut, sondern darüber hinaus auch ein Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl. Eine Praxis aber, die sich an ethischen Prinzipien orientiert, ist im Umkehrschluss nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich, denn der gute Eigenlauf der Dinge, für den die Vorsehung sorgt, werde dadurch nur gestört.

Seit dem Aufkommen der Geldwirtschaft in der Antike haben die Religionen und Philosophien die Geldgier als eine Sünde, eine Untugend oder ein Laster bekämpft. Nun aber wird aus der Habgier eine höchst profitable und moralisch unschuldige Angelegenheit. Während die Religionen und Philosophien seit der Antike das Gewinnstreben moralisch und ethisch einhegten und zähmten, wurde es spätestens mit der industriellen Revolution im 18./19. Jahrhundert von allen moralischen Schranken befreit.

Friedrich August Hayek, einer der Wortführer und intellektuellen Protagonisten der neoliberalen Wirtschaftsdoktrin, lehnt explizit jegliche Orientierung an moralischen Forderungen ab, da die Marktwirtschaft ein autonomes, sich selbst steuerndes System darstelle. Markt und Wettbewerb dienen dabei ausschließlich der wirtschaftlichen Entwicklung, nicht aber der Erfüllung von Gerechtigkeitsnormen. Deshalb kann Hayek lapidar sagen:

„Der Ausdruck ,soziale Gerechtigkeit‘ gehört nicht in die Kategorie des Irrtums, sondern in die des Unsinns wie der Ausdruck ,ein moralischer Stein‘.“50

Da wirtschaftliche Prozesse nicht gestaltet werden können, ist auch eine ethische Menschenrechtsorientierung vom Ansatz her ein Irrtum, ja sogar schädlich. So warnt Hayek auch vor den „zerstörerischen Folgen, die die Propagierung der sogenannten sozialen Gerechtigkeit für unser Moralgefühl mit sich gebracht hat“51. Stattdessen gilt eine andere ethische Perspektive: „Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig.“ Wirtschaftliches Handeln wird hier nicht einfach nur ethisch „entsorgt“ und als Sachzwang gedeutet. Vielmehr besteht eine andere normative Orientierung. Sie ist nicht mehr auf die Menschenrechte bezogen, sondern einzig und allein auf das Funktionieren eines Systems. So kann Hayek den sich selbst regulierenden Markt als ein „Wunder“ bestaunen:

„Ich habe absichtlich das Wort ,Wunder‘ gebraucht, um den Leser aus der Gleichgültigkeit herauszureißen, mit der wir oft das Wirken dieses Mechanismus als etwas Selbstverständliches hinnehmen.“52

Hayek fordert eine geradezu religiös anmutende Haltung der „Demut“ gegenüber den Marktprozessen. „Demut“ ist ein Wort, das eine tiefe Ergebenheit und die Bereitschaft, sich zu unterwerfen, meint.

Milton Friedman, einer der einflussreichsten Schüler Hayeks, bringt diese demütige Haltung gegenüber Sachzwängen auf den Punkt, wenn er sagt: „Die wirtschaftenden Personen sind letztlich nichts anderes als Marionetten der Gesetze des Marktes.“53 Marionetten handeln nicht; sie führen nur aus. Sie hängen an einer Strippe. Die handelnden Personen werden zu bloß ausführenden Organen, die ethisch entlastet sind, denn sie sind ja nur „Marionetten der Gesetze des Marktes“. Niemand handelt, alle vollziehen nur die Gesetze des Marktes. Es gibt keine Verantwortung mehr, denn ein Sachzwang herrscht. Sollte es aber zur Verwerfung oder gar zu Menschenrechtsverletzungen kommen, dann gibt es keinen Verursacher, denn alles, was geschieht, ist Folge von Sachzwängen und bedarf keiner weiteren ethischen oder politischen Legitimation mehr. Verantwortungslosigkeit ist zum System geworden. Doch tatsächlich geht es so verantwortungslos keineswegs zu. Vielmehr vollzieht sich eine höchst wirksame Verantwortung. Sie sorgt sehr dafür, dass sich die Kapitalverwertungsinteressen, nicht aber die Rechte der Menschen durchsetzen können.

Für Rüstow ist Smiths Rede vom „Vertrauen auf die unsichtbare Hand“ keineswegs metaphorisch oder bildlich gemeint, sondern im strikten Sinne eine „Wirtschaftstheologie“54. Rüstow nennt Smith einen „Gläubigen einer falschen deistischen Theologie“55, der an die Wirksamkeit einer „unsichtbaren Hand“ glaubt. Dieser Glaube hat in der Wirtschaftskrise zu fatalen Folgen geführt. Denn es gibt keine „unsichtbare Hand“, die den Markt reguliert. Die auffällige Verwendung religiöser Begriffe bestätigt Rüstows religionsgeschichtliche Analyse. Nach Hayek reguliert der Markt sich auf wundersame Weise selber und sorgt von sich aus für das Wohl aller. Was der Markt hervorbringt, ist gerecht.

Die bis in die Antike zurückgehende Kritik an der ungehinderten Geldvermehrung und die biblische Rede vom Mammon belegen, dass die ungehinderte Geldvermehrung keineswegs ein typisches Phänomen der Moderne genannt werden kann; typisch für die Moderne aber ist, dass Geldgier und Mammon zugelassen und ethisch neutralisiert werden.

Theologische Kritik der „unsichtbaren Hand“

Die mythenkritische Aufklärung über die „unsichtbare Hand“, wie sie Keynes und Rüstow betrieben haben, entzieht dem vermeintlichen Sachzwang den Schleier und legt die religiös verbrämte, aber wahre Tiefenstruktur frei: die ungehinderte Kapitalvermehrung. Was mit der Rede von der „unsichtbaren Hand“ vom Podest der Wissenschaftlichkeit verkündet wird, ist keine Wissenschaft, sondern eine Religion, die sich gegen alle empirische Kritik immun macht. Sie ist im Kleid der alternativlosen Sachzwänge Ausdruck einer Ethik, die den Märkten Vorrang vor dem Menschen einräumt und den Menschen dem Markt unterordnet. Bereits Rüstow hat – wie dargelegt – darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei einem ökonomischen Denken, das sich der „unsichtbaren Hand“ des Marktes anvertraut, um eine „Wirtschaftstheologie“ handelt. Gott die Ehre zu geben und auf seine „unsichtbare Hand“ zu vertrauen hieß für Adam Smith, nicht in die Geschehnisse des Marktes einzugreifen, da dort Gottes Vorsehung ordnend waltet. Eingriffe in das Marktgeschehen galten ihm als gotteslästerlich. Dieser religiös-weltanschauliche Hintergrund für das Vertrauen auf eine segensreiche „unsichtbare Hand“ ist der heutigen Ökonomie nicht mehr bekannt; an die „unsichtbare Hand“ wird aber dennoch weiterhin unverdrossen geglaubt. So verkehrt sich der Grund des Glaubens: Aus dem theologisch begründeten Vertrauen auf das Wirken der unsichtbaren Hand des (deistischen) Gottes bei Adam Smith wird ein Vertrauen auf den Markt. Der Markt nimmt die Stelle ein, die zuvor der (deistische) Gott eingenommen hat.56

Auf diesen Platzwechsel weist Papst Franziskus in Anlehnung an biblische Traditionen mit der Anbetung des Goldenen Kalbes hin:

„Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Exodus 32,1–35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel.“ (EG 55)

Papst Franziskus bezeichnet die Anbetung des Goldenen Kalbes als Fetischismus und greift dabei auf eine zentrale Kategorie der Kapitalismuskritik bei Karl Marx zurück. Der zentrale Begriff der Marx’schen Kapitalismuskritik ist eine theologische Metapher: Fetischismus. Als Fetisch bezeichneten die frühen portugiesischen Missionare mit dem portugiesischen Wort feitiço (port. Zauber) die Verehrung von Kultgegenständen in afrikanischen Religionen. Die Objekte der Anbetung können Tiere oder Bäume sein. Dieses Verständnis hat Marx aufgenommen und auf die Verehrung des Geldes im Kapitalismus übertragen. In ungewöhnlich scharfen wie klaren Worten brandmarkt Franziskus eine erneuerte „Anbetung des antiken goldenen Kalbs“, bei dem eine Unterwerfung der Menschen unter den Markt gefordert werde. Diese Unterwerfung des Menschen zeige sich, wenn im „Interesse des vergöttlichten Marktes“ (EG 56) und der „sakralisierten Mechanismen“ (EG 54) Korrekturen des Marktes abgelehnt werden. Diese Unterwerfung ist nicht nur religionsphänomenologisch zu verstehen, sondern in strengem Sinne theologisch. Das Vertrauen auf das Geld und den Markt ist genauso grundlegend wie das Gottvertrauen. Der Kapitalismus ist Religion, nicht lediglich religionsähnlich. Sein Kult ist die Kapitalvermehrung.

Papst Franziskus wendet sich gegen eine Anschauung, die eine gute und gerechte gesellschaftliche Entwicklung von einem funktionierenden Markt erwartet. Gesichtspunkte der Menschenrechte, der Gerechtigkeit und der Solidarität der Starken mit den Schwächeren oder der Gewinner mit den Verlierern spielen keine Rolle, denn die Gesellschaft funktioniert als Ergebnis wirtschaftlicher Prozesse, die „ohne ein wirklich menschliches Ziel“ (EG 55) ablaufen. Das nennt Papst Franziskus die „Diktatur einer Wirtschaft“ (EG 55). Deshalb warnt er:

„Wir dürfen nicht mehr auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes vertrauen. Das Wachstum in Gerechtigkeit erfordert etwas, das mehr ist als Wirtschaftswachstum, auch wenn es dieses voraussetzt; es verlangt Entscheidungen, Programme, Mechanismen und Prozesse, die ganz spezifisch ausgerichtet sind auf eine bessere Verteilung der Einkünfte, auf die Schaffung von Arbeitsmöglichkeiten und auf eine ganzheitliche Förderung der Armen, die mehr ist als das bloße Sozialhilfesystem.“ (EG 204)

Nicht aus einem Vertrauen „auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes“ (EG 204), nicht aus einem „vergöttlichten Markt“ (EG 56) oder „sakralisierten Mechanismen“ (EG 54) entsteht Gerechtigkeit, sondern aus der Achtung der Menschenrechte und wenn man sich für Gerechtigkeit und Solidarität einsetzt.

Angesichts der Führungsrolle, die der geldgesteuerten Wirtschaft insgesamt für die Wirtschaft zugebilligt wird, greifen die vom Geld regulierten ökonomischen Verwertungsprozesse auf nichtökonomische Bereiche wie Politik, Religion, Kirche, Kultur oder Bildung mit der Folge über, dass das Geld – wie Gott in den Religionen – zu einer alles bestimmenden Wirklichkeit mutiert. Geld ist omnipotent, omnipräsent und universal, besitzt also Attribute, die in der Religion Gott zugeschrieben werden. Papst Franziskus spricht von „den Interessen des vergöttlichten Marktes, die zur absoluten Regel werden“ (EG 56). Diese Kritik hat der Papst in seiner Rede vor Vertretern und Vertreterinnen des Welttreffens der sozialen Bewegungen im Oktober 2014 konkretisiert. Er kritisiert ein Wirtschaftssystem, „das den Profit über den Menschen stellt, und wenn es um wirtschaftlichen Profit geht, sogar über die Menschheit …“57 Der Papst fährt fort:

„So etwas geschieht, wenn das Geld wie ein Gott im Zentrum eines Wirtschaftssystems steht, und nicht der Mensch, die menschliche Person. Ja, im Zentrum jedes gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Systems muss der Mensch stehen, Gottes Ebenbild, dazu geschaffen, dem Universum einen Namen zu geben. Wenn der Mensch an die Seite gerückt und die Gottheit Geld an seine Stelle gesetzt wird, geschieht diese Umwertung aller Werte.“

Die Leugnung des Primats des Menschen zieht die Schaffung neuer Idole, biblisch: Götzen, nach sich. Markt und Geld werden dann zu einer Verkörperung eines erbarmungslosen Fetischismus, der über den Menschen herrscht. Dem gegenüber reklamiert der Papst den Vorrang des Menschen und die Verteidigung des Menschen vor falschen destruktiven Göttern. Das ist ein völlig neuer Ton und auch eine neue Sprache gegenüber der bisher bekannten katholischen Soziallehre.

Dass ethische Ermahnungen allein nicht ausreichen und angesichts der Dominanz einer geldgesteuerten Ökonomie geradezu harmlos und hilflos sind, spricht die jesuanische Alternative „Gott oder Mammon“ (Matthäus 6,24/Lukas 16,13) an, indem sie auf eine Wahlverwandtschaft von Religion und Geld hinweist: Die jesuanische Alternative stellt aber auch die Entscheidungsfrage nach der Geltung Gottes oder des Mammon-Götzen und argumentiert angesichts dieser Strukturaffinität von Gott und Geld im strengen Sinn theologisch und gerade nicht ethisch.

Martin Luthers bekannte Auslegung des ersten Gebotes in seinem Großen Katechismus (1529) macht die Ökonomie zum Gegenstand der Rede von Gott.

„Woran du nun (sage ich) dein Herz hängst und dich darauf verlässt, das ist eigentlich dein Gott. (…) Siehe: Dieser hat auch einen Gott, der heißt Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er all sein Herz setzt, was auch der allergewöhnlichste Abgott auf Erden ist.“58

Im Vertrauen auf Geld zeigt sich, was das Leben der Menschen bestimmt. Wenn Martin Luther so spricht, dann beschreibt er allerdings keineswegs eine zeitunabhängige Befindlichkeit des Menschen, sondern vielmehr die Grundsituation des Menschen in einer Zeit, die Luther selber erlebt und theologisch analysiert hat. Es war die Zeit des beginnenden Frühkapitalismus, die vom geraubten Gold der Indios überschwemmt wurde. Luther führt zur Analyse seiner Zeit „Mammon“ als einen Systembegriff ein: Geld als die alles bestimmende Kraft. So kann Luther sagen: Wer von Gott reden will, der muss über Geld sprechen. Er sieht, dass Mammon und Gott in einem Akt des Vertrauens austauschbar sind. Menschen glauben und sie vollziehen ihren Glauben als einen Glauben an Gott oder an das Geld. Beide werden als Gegenstand des Glaubens austauschbar. Doch dies ist nur möglich, wenn Mammon sich eine Funktion aneignet und der Mensch auf diesen Mammon sein Vertrauen in eben einer Weise setzt, die der „rechte Glaube“ Gott allein vorbehält und eben nicht dem Mammon zukommen lässt.

Im Gegensatz zur biblischen Tradition und der Rede Luthers gibt es eine auffällige Scheu in Theologie und Wirtschaftsethik, Geld überhaupt zum Thema der ethischen Reflexion zu machen. Entgegen dieser Zurückhaltung muss es ein Lackmustest für eine theologische Wirtschaftsethik sein, ob Geld zu einem Thema von theologischer Relevanz wird. Wer, wenn nicht eine theologische Ethik, könnte diese theologische Dimension der Geldverhältnisse zur Sprache bringen?

Die biblische Mammonskritik sagt mehr aus als die seit antiker Zeit umlaufende Redewendung, dass Geld die Welt regiere. Mit der Rede von Gott oder Mammon wird gefragt, inwiefern die Ökonomie dem Menschen dient und für den Menschen nützlich und gut ist. Eine Wirtschaft, die dem Mammon (das Herz an Geld und Gut hängen) dient, ist ein Abgott, eine Abkehr vom Leben, sie ist zerstörerisch. „Diese Wirtschaft tötet“ – lautet das Diktum von Papst Franziskus. Das Geldsystem des Mammons herrscht dann, wenn die permanente Geldvermehrung als oberstes Ziel der Ökonomie akzeptiert und entsprechend gehandelt wird. Die Kritik des Mammon erreicht zweierlei: Sie identifiziert den Gott, der zu Unrecht als eine alles bestimmende Wirklichkeit fungiert, und inspiriert zu einem Widerstand gegen diese Geldmacht namens Mammon.

Im neoliberalen Diskurs wird nun aber eine Unterwerfung der Politik unter den Finanzmarkt gefordert. Einzige Kontrollinstanz des globalen Wettbewerbs sei das Finanzkapital, das die Märkte diszipliniere. Der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Rolf Breuer, nannte die Finanzmärkte eine „fünfte Gewalt“ in der Demokratie, insofern die millionenfachen täglichen Entscheidungen der Anleger den nationalen Regierungen bessere Signale hinsichtlich dessen vermitteln können, was vernünftige Politik sei, als die nur vierjährigen Parlamentswahlen.59 Die Staaten seien dann in der Lage, das knappe, aber mobile Kapital ins Land zu holen, wenn sie die Gewerkschaften in Schach hielten, die Löhne, Steuern und Abgaben möglichst niedrig hielten und wenig Umverteilung organisierten. Die Finanzmärkte hätten eine „Wächterrolle“ für gute Politik übernommen. Deshalb sei die Politik gut beraten, den Wünschen der Anleger zu folgen.

Die unsichtbare Hand am Börsenplatz schafft die sichtbare Hand der Politik ab und reduziert Politik darauf, günstige Kapitalverwertungsbedingungen zu schaffen. Dann wird der Kapitalmarkt zu einer Instanz, welche das Wohl der Gesellschaft garantieren kann. Im Geldsystem findet also so etwas wie eine moralische Selbstorganisation der Gesellschaft statt. In dieser Hinsicht setzt Globalisierung einen Vorrang der Logik des Geldes vor der demokratischen Selbstbestimmung und den Menschenrechten durch.

Der Immunisierung eines „vergöttlichten Marktes“ (EG 56) mit „sakralisierten Mechanismen“ (EG 54) setzt Franziskus eine Wiedergewinnung ethischen Denkens entgegen. Er sagt:

„Die Ethik wird gewöhnlich mit einer gewissen spöttischen Verachtung betrachtet. Sie wird als kontraproduktiv und zu menschlich angesehen, weil sie das Geld und die Macht relativiert. Man empfindet sie als eine Bedrohung, denn sie verurteilt die Manipulierung und die Degradierung der Person. Schließlich verweist die Ethik auf einen Gott, der eine verbindliche Antwort erwartet, die außerhalb der Kategorien des Marktes steht. Für diese, wenn sie absolut gesetzt werden, ist Gott unkontrollierbar, nicht manipulierbar und sogar gefährlich, da er den Menschen zu seiner vollen Verwirklichung ruft und zur Unabhängigkeit von jeder Art von Unterjochung.“ (57 EG)

Tasuta katkend on lõppenud.