Loe raamatut: «Die Vampirschwestern – Ein Sommer zum Abhängen»
Ein friedlicher Abend
Es war Sommer in der Stadt. Die Sonne senkte sich wie eine bernsteinfarbene, glänzende Brosche über die Dächer von Bindburg und tauchte den Abendhimmel in ihr honiggelbes Licht. Es roch noch immer nach der Hitze des Tages, nach Sommerflieder, nach Erdbeereis und nach Sonnencreme. Durch den Geruch von frisch gemähtem Gras zogen sich aus den Gärten und Parks die ersten Schwaden von brutzelndem Grillfleisch.
Das Knattern der Mofas hallte durch die staubigen Straßen, Kinderlachen drang aus den Hinterhöfen und zwei Vögel unterhielten sich zwitschernd von Birnbaum zu Apfelbaum. In einer Wohnsiedlung am nördlichen Rand der Großstadt tuckerte ein flaschengrüner alter Dacia im Rückwärtsgang aus der Einfahrt des letzten Hauses im Lindenweg. Am Steuer saß eine Frau mit rotbraunen Haaren und nachtblauen Augen. Der Beifahrer trug trotz der Hitze einen schwarzen Anzug mit breitem Kragen und darunter ein blutrotes Hemd. Statt eines Einstecktuchs ragte eine Scheibe Blutwurst aus seiner Brusttasche. Mihai Tepes, Vollblutvampir aus Transsilvanien, stolzer Vater der Halbvampirzwillinge Silvania und Daka und Besitzer des flaschengrünen Dacias, warf der Fahrerin, seiner Ehefrau Elvira, ein charmantes Lächeln zu. Sein schwarzer Schnauzbart (der sich normalerweise wie zwei Lakritzschnecken kringelte, aufgrund der Hitze aber wie zwei zerkochte Nudeln nach unten hing) zuckte kurz. „Endlich, moi Miloba“, hauchte er mit rauer Stimme. Moi Miloba war vampwanisch und hieß „meine Liebe“.
Elvira Tepes, die seit 13 Jahren mit einem Vampir verheiratet war, verstand natürlich jedes Wort. Meistens verstand sie ihren Mann sogar ganz ohne Worte. „Endlich – gehen wir zu einer Ausstellungseröffnung?“, fragte sie und schmunzelte.
Mihai und Elvira Tepes waren auf dem Weg in die Innenstadt. Im Museum für Moderne Kunst fand heute eine Vernissage statt. Die Ausstellung „Gebrauchskunst für Küche und Bad – vom Kochlöffel bis zur Klobürste“ wurde eröffnet. Frau Tepes hoffte, sich dort die eine oder andere Anregung für ihre eigene Kunst zu holen – der Gestaltung von Klobrillen. Und sie hoffte, ihren Mann aus der sommerlichen Trägheit wachzurütteln, die ihn seit ein paar Tagen befallen hatte. Selbst zum Autofahren fühlte sich Mihai zu schwach – es war erschütternd.
„Endlich, moi Miloba, mal wieder ein Abend zu zweit“, fuhr Herr Tepes fort. „Nur wir zwei in einem gut klimatisierten Raum … und ein paar Kochlöffel und Klobürsten.“
„Ich will dir ja nicht die Vorfreude verderben, aber außer uns werden sicher noch ein paar andere Gäste im Museum sein.“
Mihai Tepes sah seine Frau zweifelnd an. „Um sich an einem lauen Sommerabend Kochlöffel und Klobürsten anzusehen?“
„Stimmt. In einer Badewanne mit eiskaltem Wasser zu liegen wäre jetzt angenehmer.“ Frau Tepes tupfte sich mit einem Taschentuch ein paar kleine Schweißtropfen von der Stirn.
„Oder in einem Eichensarg in einer herrlich kühlen und finsteren Gruft.“ Mihai Tepes lächelte selig vor sich hin, als würde er sich schon ins muffige Sargpolster kuscheln.
Frau Tepes sah ein letztes Mal zum Haus. Silvania und Daka, ihre wunderbaren und nicht ganz normalen Töchter, würden sich bestimmt auch einen schönen Abend machen. Elvira Tepes kurbelte das Fahrerfenster herunter und legte den ersten Gang ein.
Draußen vor dem Beifahrerfenster, das klemmte und daher meistens offen stand, entdeckte Herr Tepes plötzlich etwas, das seine in der Hitze dösenden Lebensgeister hellwach werden ließ. Blitzschnell steckte er den Kopf aus dem Fenster und schnappte danach. Als er die Zähne zusammenbiss, knackte es. Ein Insektenbein ragte noch aus seinem Mund und er zog es schmatzend hinein.
„Mihai, das war widerlich!“
„Nein, köstlich.“
Elvira lachte gequält und trat aufs Gaspedal.
Mihai schmatzte genüsslich seinen Snack, zog die Blutwurstscheibe aus der Einstecktasche des Jacketts, wedelte sich damit Luft zu und schaute nach rechts aus dem Fenster. Ihr unmittelbarer Nachbar kam gerade von der Arbeit nach Hause. Herr Tepes, der nicht nur ein verwegener, sondern auch ein sehr höflicher Vampir war, lächelte und winkte dem Nachbarn mit der Blutwurstscheibe zu, als sie im Schritttempo an dessen Haus vorbeifuhren.
In dem Moment stieg Dirk van Kombast im fliederfarbenen Hemd und mit seinem Pharmavertreterkoffer aus seinem silbernen Sportwagen. Obwohl ein heißer Sommertag zu Ende ging, lag keinerlei Schweißglanz auf seinem Gesicht. Sein Hemd sah aus wie frisch gebügelt und seine Goldlocken wie frisch geföhnt. Ohne eine Miene zu verziehen, nickte er den Insassen des flaschengrünen alten Autos zu.
Woraufhin Mihai Tepes den Arm ganz aus dem Fenster streckte und so schnell mit der Blutwurstscheibe winkte, dass Dirk van Kombast Angst bekam, sie würde ihm gleich an den Kopf fliegen.
Der Pharmavertreter blickte seinen Nachbarn nach, bis sie am Ende des Lindenwegs langsam um die Ecke bogen und nur noch eine schwarzgraue Auspuffwolke von ihnen zurückblieb. „Wartet nur, ihr lieben transsilvanischen Mitbürger“, presste er zwischen den Zähnen hervor. Er wippte ein paarmal auf den Zehenspitzen, dann drehte er sich schwungvoll um und verschwand im Haus.
Megatalente unter sich
Im Haus nebenan, im Lindenweg Nummer 23, hatten es sich Silvania und Daka mit ihren Freunden Helene und Ludo im Wohnzimmer der Familie Tepes bequem gemacht. Silvania und Ludo saßen auf der Couch. Helene lag auf der Couch, die Beine über der Lehne, den Rücken auf der Sitzfläche. Daka hing kopfüber vom Lampenschirm. Der Fernseher lief und auf dem kleinen Couchtisch, unter dem Herr Tepes immer sein Katzenklo mit der Heimaterde abstellte, standen Schüsseln mit allerhand Leckereien wie Blut-Essig-Chips, madigen Kirschen und gerösteten Schweineborsten.
„Ein Fernsehabend mit Freunden“, sagte Silvania und schob sich ein paar Chips in den Mund. Ihre lindgrünen Augen strahlten, als gäbe es nichts Schöneres, Aufregenderes und Beglückenderes auf der Welt, als mit ihrer Schwester und zwei Freunden an einem herrlichen Sommerabend vor dem Fernseher zu hocken. „Zusammen fernsehen ist einfach so …“
„Langweilig?“, warf Daka von der Wohnzimmerdecke ein.
„Nein. So wunderbar … menschlich!“ Silvania seufzte.
Ludo seufzte ebenfalls, als der nächste Kandidat der Castingsendung auf die Bühne trat. Sie hatten schon eine Bauchtänzerin gesehen, einen Stimmenimitator und eine Frau, die mit Schaschlikspießen jonglierte. Jetzt zuckte ein Mann mit einem goldenen Basecap und einer weiten Jeans, für die er ein paar Jahre zu alt schien, über die Bühne. Dabei hielt er sich das Mikro dicht vor den Mund und machte Geräusche, die klangen, als kämen sie aus einer anderen Körperöffnung.
„Der ist ganz schlecht“, sagte Ludo, kaum dass der Sänger angefangen hatte.
„Sagt dir das deine besondere Fähigkeit?“, fragte Helene. Ludo konnte die Zukunft voraussehen – zumindest manchmal – und mit Geistern reden.
„Nein. Mein gesunder Menschenverstand.“
„Stimmt. Der singt schlimmer als Onkel Vlad bei den Versammlungen des Blutigen Einheitsflügels“, sagte Daka, steckte sich die Finger in die Ohren und schaukelte am Lampenschirm, dass es quietschte.
„Dafür hat er süße Grübchen“, meinte Silvania.
„Sieht leider so aus, als wäre das sein einziger Pluspunkt“, sagte Helene, strich sich die langen blonden Haare hinter die Ohren und schaltete ihr Hörgerät aus. „Ah, so ist es schon besser.“
„Die Sendung ist totaler Fumpfs!“, verkündete Daka von der Zimmerdecke. „Die ganzen Menschen dort können doch überhaupt nichts Besonderes. Sie singen, tanzen, jodeln und turnen herum – und das wollen Megatalente sein? Gumox!“
„Welche Hähnchen popeln und wurmen herum?“, fragte Helene und schaltete ihr Hörgerät wieder ein.
„Mit Hähnchen wäre die Show auch nicht schlecht“, überlegte Ludo laut.
„Daka hat recht“, sagte Silvania. „Ein echtes Megatalent war noch nicht dabei. Jemand, der etwas ganz Besonderes kann, wie zum Beispiel …“
„Fliegen!“ Daka flog eine Runde durchs Wohnzimmer und hängte sich dann kopfüber an die Gardinenstange. „Ich wette, jeder Vampir und jeder Halbvampir hat mehr Megatalent als alle menschlichen Kandidaten zusammen!“
„Genau. Würden wir zu der Show gehen, würden wir die anderen alle von der Bühne fegen“, sagte Silvania. „Ich tanze mal ordentlich Saikato und Daka macht ein paar Loopings und der Jury fallen vor Begeisterung alle Zähne raus.“
„Das ist nicht fair“, protestierte Helene. „Die Leute geben sich echt Mühe. Nur weil ihr fliegen oder flopsen könnt, meint ihr, dort alles reißen zu können?“
„Einen Kandidaten, der über die Bühne fliegt, hat es garantiert noch nie gegeben“, erwiderte Daka.
„Ach? Und das Fliegen und Flopsen soll euer Megatalent sein?“ Helene rutschte von der Couch, stand auf und verschränkte die Arme.
„Verstehe ich auch nicht. Für Vampire sind Fliegen und Flopsen doch ganz normal“, sagte Ludo.
„Och, wir können auch noch andere megatalentierte Sachen machen, wie zum Beispiel die Jury beißen und aussaugen.“ Daka grinste und zeigte ihre langen Eckzähne.
„Alle Vampire fliegen herum und beißen Leute. Da könnte ich ja auch zur Show gehen und sagen: ‚Guckt mal, ich kann auf zwei Beinen stehen und Milch trinken. Wahnsinn! Ich bin ein Megatalent!‘“, sagte Helene.
„Natürlich fliegen und beißen alle Vampire. Also manche mehr und manche weniger“, erwiderte Silvania. „Aber ihr müsst doch zugeben, dass wir bei der Show viel bessere Chancen hätten als ihr oder jeder andere Mensch.“
„Weil wir einfach etwas Besonderes sind“, fuhr Daka fort. „Egal, was ein Mensch dort auch macht, gegen unseren Auftritt wäre er nur eine langweilige Nummer, als würde man einer alten Socke in der Waschtrommel zusehen.“
„Ja genau. Statt Megatalent megalangweilig“, stimmte Silvania zu. „Glaubt mir, wir wären die Stars der Sendung. Hätte unsere Mutter nicht die sieben radikalen Regeln aufgestellt und könnten wir in Deutschland frei als Halbvampire herumfliegen, wären wir schon längst für Film und Fernsehen entdeckt worden. Erst vor ein paar Tagen hatte ich einen sehr realistischen Traum, in dem man über uns einen Kinofilm gedreht hat!“ Silvania bekam rote Ränder um die Augen und ihr Äderchen auf der Stirn trat vor Aufregung hervor.
„Einen Film. Klar doch!“ Helene tippte sich an die Stirn. „Ihr seid ja total übergeschnappt.“
„Pfff!“ Daka streckte Helene die Zunge heraus.
Durch die lange Sonneneinstrahlung und Sommerhitze herrschten im Wohnzimmer der Tepes sowieso schon tropische Temperaturen. Doch die Stimmung heizte sich jetzt noch mehr auf. Man konnte es fast schon brodeln hören.
„Ihr seid also etwas Besonderes und wir nicht?“, fragte Ludo.
„Na ja, ihr seid schon auch besonders, aber nicht so besonders wie wir“, entgegnete Silvania.
„Kommt schon, das müsst ihr doch einsehen, oder?“, sagte Daka.
Helene sah ihre Freundinnen an und schüttelte den Kopf. „Ich hätte nie gedacht, dass ihr so eingebildet seid.“
„Wir bilden uns gar nichts ein. Es ist einfach so“, erwiderte Daka. „Wir sind echte Megatalente und ihr könnt froh sein, dass ihr mit uns befreundet seid. Schließlich haben wir euch mit unseren besonderen Fähigkeiten schon ziemlich oft aus der Patsche geholfen. Wenn ich dich daran erinnern darf: Ohne uns wäre am Anfang des Schuljahres eine Honigmelone mit vollem Karacho auf deinen schönen Kopf gekracht und wahrscheinlich hätte man dich danach eine Klasse zurückstufen müssen und du hättest jetzt noch eine Riesenbeule davon.“
„Und wisst ihr noch – damals im Bindburger Kunstpalais, als die Geschwister Golert den wertvollen Fächer klauen wollten? Wer gleich noch mal hat den Kunstraub heldenhaft verhindert?“, fuhr Silvania fort.
„Oder ein paar Monate später, als die Transgiganten Bindburg heimsuchten und Ludo entführten. Wer hat ihn aus den Fängen der Transgiganten befreit?“, fragte Daka.
„Und wie war das noch mal, als die ganze Stadt in einer riesigen Sturmflut zu versinken drohte? Wer hat sie vor solch grausamem Ende bewahrt?“, fragte Silvania.
„Das waren wir alle zusammen“, sagte Ludo.
„Ihr wart auch dabei, stimmt“, entgegnete Daka. „Aber ohne uns wäre das doch alles total schiefgegangen. Was hättet ihr Menschen allein schon gegen Sturmfluten, Transgiganten und Schwerverbrecher ausrichten können?“
„Nicht viel, oder? Das müsst ihr zugeben“, warf Silvania ein.
„Aber wir waren bei euch. Und damit war alles gut. Und warum? Weil wir einfach Megatalente sind.“ Daka machte eine Rolle von der Gardinenstange und landete direkt vor Helene.
„Ihr seid einfach nur megabescheuert“, sagte Helene.
Ludo stand auf. „Wenn das so ist, dann braucht ihr uns ja nicht mehr. Ich weiß gar nicht, warum ich noch hier bin.“
„Ihr tollen Megatalente braucht gar keine Freunde. Ihr könnt sowieso alles allein. Da haue ich doch lieber ab.“ Ruckartig drehte Helene sich um, dass ihre langen blonden Haare Daka ins Gesicht schlugen.
„Ich auch!“ Ludo folgte Helene, die bereits mit festem Schritt aus dem Wohnzimmer ging.
„So war das doch nicht gemeint!“, rief Silvania ihnen nach. „Seid doch nicht gleich eingeschnappt!“
„Kann eben nicht jeder ein Megatalent sein!“, rief Daka, doch da war die Haustür hinter Helene und Ludo bereits ins Schloss gefallen.
Panischer Pinguin
Es knirschte. Der Pinguin, der sich gerade mit dem Schnabel am Bauch gekratzt hatte, hob den Kopf. Unter ihm und hinter ihm war nichts als Eis. Ewiges Eis. Vor ihm breitete sich das dunkelblaue Meer aus. Er stand am Rand eines riesigen Eisbergs, der senkrecht in den Ozean abfiel.
Für den Winter in der Antarktis herrschten angenehme minus 48 Grad. Der Pinguin stand auf dem kältesten, windigsten und trockensten Kontinent der Erde und ließ es sich gut gehen. Auch die winterliche Finsternis störte ihn nicht die Bohne. Er wackelte ein paar Schritte nach links, dann ein paar Schritte nach rechts. Als ein Schneesturmvogel über ihn hinwegflog, reckte er den Schnabel zum Himmel.
Es knirschte abermals. Der Pinguin zog den Kopf ein und schielte nach rechts und nach links. Vorsichtig warf er einen Blick auf den dunkelblauen Ozean. Lugte da der Kopf eines gefräßigen Seeleoparden aus den dunklen Wellen hervor? Zur Sicherheit trat der Pinguin ein paar Schritte vom Rand des Tafeleisbergs zurück.
In dem Moment krachte es, als würde der gesamte Südpol zerbersten. Der Eisberg, auf dem der Pinguin stand, wackelte, dröhnte und kippte auf einmal zum Meer hin ab. Der Pinguin klatschte auf den Bauch, wackelte hilflos mit den Flügeln, schlitterte zum Rand des Eisbergs, schoss darüber hinaus, flog im hohen Bogen in die Dunkelheit und tauchte wenige Sekunden später in den eiskalten, dunkelblauen Ozean.
Über dem Pinguin rumste und donnerte es gewaltig. Der vordere Teil des Eisbergs senkte sich wie in Zeitlupe in Richtung Ozean, brach schließlich mit lautem Getöse von den Eismassen ab und stürzte krachend ins Meer. Eine gigantische Welle ergriff den Pinguin und trieb ihn vor dem abgebrochenen Eisberg her. Der Eisberg wurde alsbald von einer Meeresströmung erfasst und zerbrach in mehrere, noch immer gigantisch große Teile.
Der Pinguin schwamm eine Runde, nahm Anlauf, sprang aus dem Wasser und landete auf der größten der verbliebenen Eisschollen. Der Seevogel schüttelte sich, kratzte sich mit der Flosse am Kopf und sah sich um, so gut es bei den winterlichen Lichtverhältnissen ging.
Die gewaltigen festen Eismassen der Antarktis waren in der Ferne gerade noch zu erkennen. Der Eisblock unter seinen Flossen war allerdings so groß, dass der Pinguin kaum wahrnahm, dass er darauf im Meer trieb. Er schabte mit den Flossen über das Eis unter ihm. Es sah aus, als läge unter der Eisschicht etwas verborgen. Etwas Dunkles, Großes – vielleicht etwas zu fressen? Eine tiefgekühlte Köstlichkeit?
Der Pinguin schrubbte mit den Flossen über das Eis. Vier Schritte nach rechts, vier Schritte nach links. Er wedelte die losen Eiskristalle mit dem Schwanz weg. Dann hackte er mit dem Schnabel auf das Eis ein. Direkt dort, wo sich das dunkle Etwas am dichtesten unter der Oberfläche befand. Voller Neugierde, Hunger und mit Beharrlichkeit pickte und schlug er auf den Eisblock ein.
Das Eis bekam feine Risse, was den Pinguin noch mehr anspornte. Erst hämmerte er mit vielen kleinen Schlägen wie ein Specht aufs Eis ein. Als ihm das nicht schnell genug ging, versuchte er es mit einer anderen Technik. Er warf den Kopf zurück, rammte den Schnabel mit aller Kraft ins Eis und – blieb stecken.
Der Pinguin drehte den Kopf nach links, nach rechts, er wackelte mit dem ganzen Körper. Es half nichts. Frustriert starrte er auf das dunkle Etwas, das direkt vor seinem Schnabel unter dem Eis lag. Es war groß und rund wie ein See-Elefanten-Popo, hatte eine etwas hellere, erhabene Stelle in der Mitte und zwei dunklere Vertiefungen oberhalb davon, jeweils links und rechts, beinahe wie … Augen!, durchzuckte es den kleinen Pinguin.
Im selben Moment öffneten sich die Augen. Der Pinguin erstarrte zum Eiszapfen. Das dunkle Etwas lebte! Es war nichts zum Fressen, sondern vermutlich eher etwas, das gern Pinguine fraß. Und bei seiner Größe verschlang es wahrscheinlich gleich eine ganze Kolonie mit einem Happen!
In Todesangst stemmte der Pinguin sich mit bis dahin ungeahnten Kräften gegen das Eis. Mit dem ganzen Körper zerrte, drehte und wand er sich. Schließlich riss er den Kopf mit einem schnellen, kräftigen Ruck zurück, dass das Eis nur so knackte, schoss mit dem Schnabel hinaus, stürzte auf den Rücken, schlitterte ein paar Meter über den Eisblock, machte mehrere Drehungen, brachte sich dabei in Bauchlage und sauste über den Rand des Eisblocks in den südlichen Ozean. So schnell wie noch nie in seinem Leben schwamm der Pinguin zurück zu den festen Eismassen, zurück zu seiner Kolonie. Zum Glück sah niemand im dunklen Meer, wie er sich vor Angst ins Gefieder machte.
Der Eisblock mit dem dunklen, lebendigen Geheimnis aber trieb weiter in die entgegengesetzte Richtung. Er entfernte sich vom Südpol und sollte noch Tausende von Kilometern zurücklegen, bevor er schmelzen und sein gewaltiges, finsteres Inneres seine ganze Kraft entfalten würde.
Hitzköpfe
Elvira Tepes hatte es sich in einem Liegestuhl auf der Terrasse hinter dem Haus im Schatten gemütlich gemacht. Obwohl bereits Nachmittag war und die Sonne nicht mehr am höchsten Punkt ihrer Bahn stand, flimmerte die Stadt noch immer vor Hitze. Menschen lungerten wie Walrosse an Seeufern, in Hängematten oder Planschbecken herum. Selbst die Insekten schien die Hitze einzulullen und sie flogen, krabbelten und surrten wie in Zeitlupe durch die Landschaft. Es war, als hätte sich ganz Bindburg in eine kostenlose riesengroße Sauna verwandelt.
Frau Tepes war einer der wenigen Menschen, die die Hitze genossen. Ihr konnte es gar nicht warm genug sein. Sie liebte es, wenn ihr der Schweiß über den Nacken lief und die Luft so heiß war, dass es in der Nase kitzelte. Elvira Tepes war sich sicher, dass sie früher einmal am Äquator gelebt haben musste. Doch vielleicht war sie in ihrem früheren Leben auch nur eine heiße Nudelsuppe gewesen. Wer wusste das schon.
Sie legte den Katalog der Ausstellung „Gebrauchskunst für Küche und Bad – vom Kochlöffel bis zur Klobürste“ beiseite und streckte den Arm nach einem kleinen Radio aus, das auf dem Fensterbrett stand. Langsam drehte sie an dem Rädchen zur Sendersuche, bis sie guten Empfang hatte. Eine junge Frauenstimme verkündete gerade:
„… nun schon die vierte Woche mit Temperaturen über 30 Grad. Die Meteorologen sprechen von einem Jahrhundertsommer. Selbst nachts sinken die Temperaturen kaum noch unter 20 Grad. Man könnte meinen, Bindburg läge in den Tropen. Die Bauern fürchten aufgrund der ausbleibenden Niederschläge um ihre Ernte. In vielen Regionen herrscht Waldbrandgefahr. Die Hitze sorgt für technische Probleme bei der Bahn und für immense Verluste bei den Betreibern von Solarien und Kinos. Doch nicht alle stöhnen unter der Hitze. Es gibt auch zahlreiche Gewinner. Eisverkäufer, Mineralwasserhersteller und Brauereien verzeichnen Höchstumsätze. In den Baumärkten sind Ventilatoren, Klimageräte, Planschbecken, Rasensprenger und Grills ausverkauft. Und auch die Schüler freuen sich – fast alle Bindburger Schulen haben hitzefrei. Gestern wurde mit 41 Grad die bisherige Höchsttemperatur in Bindburg überschritten. Laut dem Bindburger Wetterdienst ist auch in den nächsten Tagen nicht mit Abkühlung zu rechnen. Die Hitzewelle hält an. Wenn Sie Glück haben, verehrte Zuhörer, bekommen Sie noch irgendwo einen Ventilator. Ansonsten hilft wohl nur ein Last-Minute-Flug zum Südpol …“
Musik setzte ein. Joe Cocker krächzte Summer in the City aus dem Radio. „Einundvierzig Grad … herrlich!“, säuselte Elvira Tepes und schloss die Augen. Das Einzige, was ihr an der Hitze zu schaffen machte, war, dass sie die hohen Temperaturen nicht zusammen mit ihren Kindern und erst recht nicht mit ihrem Mann genießen konnte.
Silvania und Daka Tepes baumelten schon den ganzen Tag in ihrem Zimmer. Daka hing wie eine vergammelte Bandnudel an der Metallleine, die sie quer durch den Raum gespannt hatte. Silvania lag im Schiffsschaukelsargbett ihrer Schwester und fächerte sich mit einem dicken Liebesroman Luft zu.
„Schaukel mal ein bisschen, damit frischer Wind aufkommt“, sagte Silvania und schielte nach oben zu ihrer Zwillingsschwester.
„Schaukel doch selbst. Ich bin so schlapp und verschwitzt, dass ich gleich von der Leine rutsche.“
„Die Hitze ist nicht zu ertragen.“ Silvania legte das dicke Buch auf ihren Bauch, hob den Saum ihres langen lachsroten Sommerkleids und wedelte damit mehrmals.
„Und die Langeweile auch nicht“, sagte Daka und hielt sich einen Handventilator, der kaum größer als ein Bleistift war, vor die Stirn. Sie schielte auf den kleinen Ventilator und verzog den Mund, als sich dessen Flügel, die aussahen wie die einer Fledermaus, immer langsamer drehten und schließlich stehen blieben. „Fumpfs! Batterie alle.“ Sie warf den Handventilator über ihre Schulter und eine Sekunde später landete er mit einem Platsch! im Aquarium von Karlheinz.
Dakas liebstes Haustier, der Blutegel Karlheinz, klebte an der Scheibe und sah mindestens genauso jämmerlich und schlapp aus wie die beiden Halbvampire. Zwar sorgte Daka dafür, dass er trotz der Hitze immer genügend Wasser im Aquarium hatte, aber es erwärmte sich schneller, als Daka kaltes Wasser nachfüllen konnte.
„Wenn wenigstens Ludo und Helene vorbeikommen würden“, sagte Silvania.
„Pfff, die eingeschnappten Blutwürste.“
„Stimmt, die könnten langsam mal wieder ausschnappen. Total blöd von ihnen, gleich so beleidigt zu sein“, meinte Silvania. „Nur, weil wir bessere Megatalente wären als sie.“
„Wären wir. Aber ultimo langweilig ist es trotzdem ohne sie.“ Daka zupfte an einer Haarsträhne, die ihr schlapp ins Gesicht hing. „Vielleicht sollten wir zu ihnen gehen und uns bei ihnen entschuldigen.“
Silvania dachte kurz darüber nach. „Gumox. Entschuldigen muss man sich nur für einen Fehler, nicht dafür, dass man die Wahrheit sagt.“ Sie schielte fragend nach oben zu ihrer Schwester. „Oder?“
In dem Augenblick krachte es unten im Wohnzimmer. Es klang, als würde jemand mit den Schrankwänden Domino spielen. Daka rutschte vor Schreck von der Metallleine, landete auf Silvania, die aufkreischte und panisch strampelte, sodass der Schiffsschaukelsarg heftig wackelte und die Schwestern beide herausfielen.
Daka rieb sich den Kopf, Silvania presste die Hände auf den Popo. Um den Schmerz zu lindern, spuckten sie sich gegenseitig auf die Stellen, die ihnen wehtaten. Dann standen sie auf, rissen die Tür auf und liefen nach unten ins Wohnzimmer.