Loe raamatut: «Mord im Hause des Herrn»
Steinhauer
Mord im Hause des Herrn
Schweden-Krimi mit Rezepten
Franziska Steinhauer
Mord im Hause des Herrn
Der zweite Fall für Sven Lundquist
Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
© Oktober Verlag, Münster 2009
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung
des Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
Alle Rechte vorbehalten
Satz: MV-Verlag
Umschlag: Linna Grage
unter Verwendung eines Fotos von stacey_newman/istockphoto.com
Rezepte: Franziska Steinhauer und Roland Tauber
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net
ISBN: 978-3-938568-97-2
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Der Weg zur alten Kirche hinauf war beschwerlich. Doch von hier oben mochte sich, wenn man unbedingt an solche Dinge glauben wollte, für die Toten eine berückende Aussicht auf das Tal eröffnen.
Hanne Steenkluth hielt das allerdings alles für Humbug.
Am Ende der Straße konnte sie schon die imposante Mauer erkennen, die den Kirkogaard umgab und deren Aufgabe es sein sollte, die Lebenden vor den Heimsuchungen durch die Toten zu schützen. Da mochte wohl so manchem daran gelegen sein, diesen Wall so hoch und unüberwindlich wie nur möglich zu bauen, dachte Hanne boshaft und zerrte an ihrem bockig tänzelnden Trolley.
Das ist das Alter, dachte sie ungehalten, es schwächt den Körper und zwingt den nach wie vor beweglichen Geist in immer engere Bahnen. Sie beschleunigte ihren Schritt. Wer weiß, wie lange ich noch jeden Tag in die Kirche gehen kann, sorgte sie sich.
Wer sollte sich denn um die Kirche und die Gräber kümmern, wenn sie nicht mehr war! Die Jugend hatte doch an all dem heute kein Interesse mehr! Tot und vergessen galt heute. Gegen diese moderne Lebensauffassung hatte Pfarrer Landulf grade erst am letzten Sonntag wieder vehement gewettert. Ganz besonders die jungen Leute auf Holm hatten ihre Wurzeln gründlich vergessen. Sie zog es nach Göteborg zu den Abenteuern der Großstadt.
Bald war Weihnachten und sie würde wie in jedem Jahr zu ihrem Sohn und ihrer verhassten Schwiegertochter nach Göteborg fahren, um das Fest mit deren verzogenen Kindern zu verbringen. Auch wenn ihre Enkel immer nur auf ihr Geld aus waren, so würden die paar Tage doch eine willkommene Abwechslung bringen. In ihrem Leben passierten schon lange keine aufregenden Dinge mehr, und ohne das Fernsehen wäre es vor Langeweile wahrscheinlich gar nicht auszuhalten.
Schon wieder Weihnachten.
Wenn man älter wird, vergeht die Zeit wie im Flug, dachte sie nachsichtig lächelnd. Als sie noch ein Kind war, schien es Ewigkeiten zu dauern, bis man wieder Geburtstag hatte oder es endlich wieder Weihnachten war. Heute verging ein Jahr so schnell, dass sie manchmal gar nicht mehr genau sagen konnte, wie alt sie geworden war.
Sie seufzte, als sie die Friedhofsmauer erreicht hatte. Im Sommer hatte die Gemeinde den Hauptweg zum Kirchenportal mit kleinen, weißen Kieselsteinen auffüllen lassen. Seither versanken die Kirchenbesucher bei jedem Schritt fast bis zum Knöchel in diesem Kiessumpf, der Hanne jeden Morgen zwang, ihren Trolley mit blockierten Rädern durch die knirschenden Steine zu zerren.
Sie drehte sich um und betrachtete spöttisch die Spuren, die ihr Einkaufsroller gezogen hatte. Wahrscheinlich war das mit den Kieselsteinen nur ein Trick, um wenigstens den Arbeitsplatz des Gärtners zu sichern, dachte sie und verlor sich in allerlei Überlegungen über die letzte Predigt von Pfarrer Landulf, in der er von der Allgegenwart von Sünde und Verführung sprach, so dass sie das graue Auto mit dem fremden Kennzeichen gar nicht bemerkte, das etwas abseits von der Friedhofsmauer parkte.
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Sven Lundquist sah den Wald vor lauter Weihnachtsbäumen nicht. Der Verkäufer, ein vierschrötiger, übergewichtiger Mann, der allen Ernstes behauptete, all seine Bäume eigenhändig frisch geschlagen zu haben, machte inzwischen keinen Hehl mehr aus seiner Ungeduld.
»Vielleicht willst du ihn ja erst mal probeschmücken, um die Wirkung der Kugeln am Baum zu testen?«
Lundquist grinste schief.
Er glaubte dem Mann kein Wort.
Wahrscheinlich waren die Bäume schon vor Monaten geschlagen worden und würden, einmal im Wohnzimmer, sofort ihre Nadeln abwerfen.
»Nein.«
»Also mehr Bäume hab ich nicht, als du dir angeschaut hast! Du solltest dich jetzt einfach entscheiden. Ich muss mich schließlich auch noch um die anderen Kunden kümmern.«
Er zeigte auf ein junges Pärchen, das sich durch Kuscheln warm hielt.
»Also gut«, sagte Lundquist, »den nehm ich.«
Zunächst staunte der Mann, weil Lundquist noch kurz zuvor den Baum seines zu krummen Wuchses wegen abgewiesen hatte, aber dann dachte er, dass das Leben eben oft krumme Wege ging, und zog ihn achselzuckend durch die Netzverspannung.
In diesem Jahr sollte es wieder ein fröhliches Fest werden, das war er seiner Tochter – und vielleicht auch sich selbst – schuldig, überlegte Lundquist. Er hatte kein Recht dazu, sie in ein Leben in Trauer zu zwingen. Drei Jahre war es nun her, dass Anna bei diesem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen war. Es wurde Zeit, Lisa wieder ein relativ normales Leben zu bieten. Eines, wie es die anderen Kinder, die sie kannte, auch führten. Da durfte weder die Erinnerung an Anna noch seine eigene schwere Krankheit eine Rolle spielen. Und da war ja auch noch Magda.
Mit ihr würde nun ein ganz neuer Lebensabschnitt beginnen.
Beschwingt zog er einen Einkaufswagen heran und begann ihn zu füllen. Weihnachtsbier konnte er auch später noch kaufen, beschloss er, das Elchfleisch für das traditionelle Weihnachtsmenü der Familie Lundquist, Elchrouladen mit Gurkenmus, hatte er schon in der Tiefkühltruhe eingelagert.
Mehl, Kardamom, Zimt, Hefe, Mohn ...
Nach Annas Tod hatte er geglaubt, nie wieder glücklich sein zu können. Er lebte überhaupt nur für seine kleine Tochter weiter. Zusammen mit seiner Mutter war er in eine geräumige Wohnung in der Vasagatan in Göteborgs Innenstadt gezogen. Sie kümmerte sich um Lisa und den Haushalt, und er ging jeden Tag zur Arbeit. Seine ungeregelten Arbeitszeiten bei der Kriminalpolizei Göteborg waren deshalb kein Problem.
Doch dann, als er gerade zu hoffen begann, er könne wieder in einen relativ normalen Alltag zurückfinden, folgte ein weiterer Schicksalsschlag: Er wurde krank. Multiple Sklerose.
Vor einem Schaufenster blitzte sein Spiegelbild auf. Eigentlich sah er für einen Kriminalhauptkommissar zu harmlos aus, dachte er, und wusste nicht, ob er sich darüber freuen sollte oder nicht. Sven Lundquist fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes dunkles Haar und forschte nach Anzeichen des nahenden Alters. Du bist hoffnungslos eitel, schalt er sich sanft. Ein bisschen schlanker war er geworden, nahm er erstaunt zur Kenntnis, denn viel Zeit für Sport blieb ihm nicht. Er dachte ein wenig neidisch an Lars’ athletischen Körperbau, Ergebnis eines harten und konsequenten Trainings. Nichts für ihn, er verbrachte seine Freizeit lieber mit Lisa und Magda.
Sein Körper straffte sich. Er spürte, wie das Leben sich in ihm wieder breit machte, seinen Gang beflügelte und den Kopf endlich befreite. Ja, sagte er sich, er wollte wieder glücklich sein – und das gelang ihm am besten mit Magda.
Weihnachten wird ein Neuanfang werden, dachte er voller Zuversicht.
Als er eine halbe Stunde später mit seinem Freund und Kollegen Lars Knyst in einem Café zusammentraf und sie sich gegenseitig Geschenkvorschläge für ihre Lieben machten, war die Welt für Sven Lundquist fast völlig in Ordnung.
Doch Mörder nehmen in der Regel weder Rücksicht auf Wochenenden oder Feiertage. Und zu diesem Zeitpunkt wusste außer den unmittelbar Beteiligten niemand von dem langsam erstarrenden Körper, der Lundquist und seinem Team in Kürze viele Rätsel aufgeben würde.
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In der Kirche war es kalt. Hanne zitterte. Hoffentlich hatte dieser schusselige Pfarrer nicht wieder eines der Fenster offen gelassen. Gerade in der heutigen Zeit war das gefährlich und Hanne Steenkluth wurde nicht müde, ihn immer wieder darauf hinzuweisen, wie leichtsinnig sein Verhalten war. Dabei war er doch noch gar nicht alt genug, um so zerstreut zu sein.
Verärgert zog sie den Trolley zum Altar.
Mit routinierten Bewegungen legte sie Handschuhe, Mütze und Schal ab und schlug die Plane der Einkaufstasche zurück. Nacheinander holte sie einen Staubwedel nebst diversen bunten Tüchern sowie einen winzigen Eimer und ein Fläschchen selbst gemischter Möbelpolitur heraus.
Neulich hatte sich dieser vergessliche Pfarrer doch tatsächlich angemaßt zu behaupten, der Gestank ihrer Politur überdecke selbst den Geruch des Weihrauchs und werde von den Betenden bei der Andacht als störend empfunden.
Als ob der Duft von Sauberkeit einen bei der Zwiesprache mit Gott irritieren konnte! Blödsinn.
»Männer!«, spie sie aus und fegte mit einer lässigen Handbewegung alle Angehörigen dieses Geschlechts in den Orkus. Nur gut, dass sie keinen dieser ewig unzufriedenen Nörgler mehr zu versorgen hatte, nachdem ihr Josef vor nun schon mehr als vierzig Jahren an einer Lungenentzündung gestorben war. Als ihr Sohn endlich auszog, hatte sie sich geschworen, keinen Mann mehr in ihrem Leben zu dulden. Missbilligend schüttelte sie den Kopf und schlurfte mit dem Eimer in die Sakristei, um dort Wasser zu holen und nach den Fenstern zu sehen.
Das Gefühl nicht allein in der Kirche zu sein, beschlich sie erst später.
Und dann begann sie zu schreien, als wolle sie niemals mehr damit aufhören
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»Ah – die beiden Ermittler!«, begrüßte sie Ortspolizist Einar Dahl und drückte ihnen kraftvoll die Hände.
Der wohlgenährte Mann in den besten Jahren schwitzte stark und versuchte gar nicht erst seine Erleichterung darüber zu verbergen, diesen seltsamen Fall in die Verantwortung anderer abgeben zu können.
Nach einem Blick in das Innere der Kirche konnte Sven Lundquist den Kollegen gut verstehen.
Das innen und außen weiß getünchte Gotteshaus, zu dem man sie gerufen hatte, war eine imposante Wehrkirche. Sie glich mehr einer Ritterburg als einer Stätte der inneren Einkehr. Der überdimensionierte viereckige Turm, dessen schmale Fensteröffnungen unwillkürlich die Assoziation von Schießscharten aufdrängten, war mit eindrucksvollen Zinnen bewehrt.
Das Kirchengebäude selbst war einfach und glich einer geräumigen Scheune. Das Gestühl teilte den schlichten und funktionellen Innenraum in einen Mittelgang und zwei Seitengänge, die von einzelnen Säulen in behagliche Nischen unterteilt wurden. Auf dem schmucklosen Altar aus hellem Holz standen nur ein schlichtes Kreuz und zwei Leuchter. Im Hintergrund hing ein kleines Kreuz aus tiefrotem Glas, das von innen heraus leuchtete, wenn der Pfarrer die Messe las. Links vom Altar erkannte Lundquist zwei Votivschiffe von beeindruckender Größe, die zu beiden Seiten von Gemälden flankiert wurden, deren Motive im Halbdunkel nur zu erahnen waren.
Die beschaulich-friedliche Atmosphäre des Gotteshauses war zweifellos empfindlich gestört. Auf einer der steinernen Stufen, die zum Altar führten, kauerte eine kräftige, weißhaarige Frau, die unentwegt laut schniefend »Oh Gott, oh Gott, oh Gott!« murmelte. Eine deutlich jüngere Frau mit mütterlicher Statur hockte daneben und versuchte die alte Dame zu beruhigen, strich ihr immer wieder sanft über die Schultern und redete leise auf sie ein.
Allerdings schienen ihre Bemühungen erfolglos zu bleiben.
Ein gutes Stück von ihnen entfernt entdeckte Lundquist eine kleine Menschenansammlung. Als er auf gleicher Höhe mit ihnen war, sah er auch das Opfer, um das sich der Arzt und der Pfarrer bemühten.
»Tja, das ist schon gewaltiges Pech, nicht wahr?«, flüsterte Einar Dahl.
Lundquist nickte.
In der Bank hatte ein wohlgenährter Herr in grauem Anzug gesessen. Ob sich nun sein auf den Boden gerichtetes Gesicht, von dem nur ein rotblonder Haarschopf zu sehen war, bereits vorher in Demut und Frömmigkeit zum Gebet gesenkt oder in Erschütterung über eigene sündige Schwächen und Laster gramgebeugt Deckung gesucht hatte, würde für immer ungeklärt bleiben müssen. Viel wahrscheinlicher aber war, dass der Mann aufrecht in der Bank saß, als ihn das schwere, riesige Glaskreuz gefällt hatte.
»Vom Kreuz erschlagen!«, flüsterte der Pfarrer fassungslos. »Vom Kreuz erschlagen!«
»Der Mann ist jedenfalls tot. Schon länger. Da war nichts mehr zu machen«, erklärte Dr. Stevensson.
Lundquist trat näher an den Toten heran.
»Kennt jemand den Mann?«
Einar Dahl schüttelte den Kopf.
»Nein, weder Pfarrer Landulf noch seine Haushälterin. Und ich auch nicht. Die Hanne haben wir lieber nicht so nah rangelassen, die ist ja auch schon so völlig durch den Wind.«
Lundquist streifte sich Latexhandschuhe über und begann behutsam die Taschen zu durchsuchen.
»Alle leer. Er hat nicht einmal ein Papiertaschentuch dabei. Und trotz der Kälte war er wohl ohne Mantel unterwegs«, stellte er fest und sah sich suchend um.
»Wir sind alle Reihen abgegangen – da war nichts«, versicherte Einar Dahl. Plötzlich traten rote Flecken auf seinem Hals hervor, die sich hektisch verbreiteten und auch sein Gesicht erreichten. Lars Knyst sah rasch zu der Zweiergruppe am Altar rüber, um ihn nicht anstarren zu müssen. Bisher hatte er immer geglaubt, dass diese nervöse Reaktion Frauen vorbehalten war.
Einar Dahl nahm mit seinen kurzen dicken Fingern die runde Nickelbrille ab, putzte sie umständlich und schob sie auf der Nase zurecht.
»Unser Dorf ist klein und überschaubar«, erklärte er leise mit wankender Stimme. »Gerade mal zweihundert Menschen leben hier auf Holm. Bei uns ist normalerweise nicht viel los. Es wird schon mal was geklaut, ein bisschen verleumdet, gezankt und geprügelt, innereheliche Streitigkeiten – aber so eine Sache hatten wir noch nie.«
Lundquist klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. »Bisschen wenig Blut hier, oder?«, fragte er dann den Arzt.
»Ich kann nicht beurteilen, welchen Schaden das Kreuz angerichtet hat. Möglicherweise hat es ihm das Genick gebrochen. Ich wurde ausdrücklich angewiesen, nichts zu verändern, falls der Mann tot ist, und auf das Team vom Erkennungsdienst zu warten«, sagte er und zeigte mit abgespreiztem Daumen diskret auf Einar. »Und er hat ständig auf mich aufgepasst.«
Lundquist sah zum verstörten Pfarrer rüber.
»Wo stand denn das Kreuz normalerweise?« Bereitwillig trat Pfarrer Landulf, ein großer, schlanker Mann mit vergeistigtem Gesicht, in den Seitengang und wies auf eine Stelle an der Wand einige Reihen weiter hinten.
»Hier!«
Seine Stimme überschlug sich und er hustete ein paarmal nervös.
»Normalerweise steht es hier. Es ist ein Geschenk eines berühmten Glaskünstlers aus unserer Gemeinde. Knut Hallmansson. Es ist so etwas wie sein Vermächtnis. Wir haben es an diesem Platz aufgestellt, weil hier direkt das Licht aus dem gegenüberliegenden Fenster hinfällt und es von innen in allen Farben erstrahlen lässt und die Seelen der Gemeinde berührt.«
Er hielt inne und sah sich verwirrt um.
»Man stelle sich das vor: Da kommt ein Fremder in meine Kirche, um zu beten und wird während der Zwiesprache mit Gott vom Kreuz erschlagen!«
»Vielleicht ein Fingerzeig Gottes«, raunte Jon Stevensson, was ihm einen vernichtenden Blick des Pfarrers eintrug.
Der Arzt zuckte die Schultern und füllte seufzend den Totenschein aus.
Lundquist kniete sich neben die Stelle, an der das Kreuz gestanden hatte und schätzte die Entfernung zum Opfer ab.
»Von hier aus kann das Kreuz nicht einfach auf ihn gestürzt sein. Der Weg ist zu weit. Und wenn das Kreuz so unglaublich schwer ist, wie es aussieht, müsste es schon ein Erdbeben gegeben haben, um es umfallen zu lassen. – Ich brauche gute Fotos von dieser Stelle hier«, wies Lundquist den Fotografen an, der gerade mit einer Gruppe von Kollegen der Spurensicherung hereingekommen war. »Lars, wir trommeln das ganze Team zusammen und warten auf den Staatsanwalt. Vielleicht war das ja kein Unfall und das Kreuz ist nicht gefallen, sondern wurde gestoßen.«
»Mord!«, gellte die Stimme von Hanne Steenkluth durch die Kirche und ließ alle erschaudern.
Pfarrer Landulf starrte Lundquist fassungslos an.
»Soll ich nun etwa glauben, ein Fremder, der zufällig in dieses abgelegene Gotteshaus kam, um seinem Schöpfer nahe zu sein, wurde hinterrücks mit diesem schweren Kreuz erschlagen?«
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»Hanne Steenkluth?«
Hanne hatte sich erhoben, als die Inspektorin auf sie zutrat.
»Ich bin Britta Lilliehöök. Wir nehmen jetzt deine Aussage auf. Würdest du bitte mit in mein Büro kommen?«, stellte sich die junge Frau freundlich vor und dirigierte Hanne geschickt in ihr Büro zu dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch, wo bereits das Diktiergerät auf sie wartete.
»Stört es dich, wenn ich das Gespräch aufzeichne? Sonst muss ich alles mitschreiben, und das dauert viel länger. Außerdem kann man sich dabei nicht so gut unterhalten.«
Hanne Steenkluth schüttelte den Kopf.
»Gut. Die Zeugin ist mit der Aufzeichnung einverstanden. Also, du bist Hanne Steenkluth, wohnst Skyttevej 25, Holm und hast heute Morgen in der Kirche eures Ortes einen toten Mann gefunden?«
»Ja.«
»Was wolltest du denn eigentlich schon so früh in der Kirche? Da ist doch noch keine Messe, oder?«
»Nein. So früh natürlich noch nicht. Ich komme aber jeden Tag schon um die Zeit. Einer muss sich doch um alles kümmern.«
»Was heißt kümmern genau?«
»Ich komme schon seit über fünfzig Jahren jeden Morgen und wische das Gestühl ab, reinige den Altar, putze den Staub weg, sortiere die Gesangbücher und zähle nach, ob noch alle da sind. So was eben. – Weißt du, die Jugend kümmert sich um solche Dinge nicht mehr. Die kommen sowieso nur noch zu Weihnachten zum Gottesdienst. Sonst triffst du die das ganze Jahr nicht in der Kirche. Wenn ich nicht das komplette Inventar in Schuss halten würde, könnten wir den Pfarrer hinter einer Nebelwolke aus Alltagsstaub nur noch erahnen«, sagte sie und sah Britta trotzig an, als hätte die Ermittlerin die Wichtigkeit der anstehenden Tätigkeit nicht verstanden. »Na, und weil sich für solche Arbeiten niemand mehr findet, mach ich das eben.«
»Aha.«
Hannes Augen blitzten erstaunt auf. Sollte die junge Frau etwa das Ausmaß ihrer, Hannes, Selbstlosigkeit noch immer nicht erfasst haben?
»Ich kümmere mich selbst um die Gräber von denen, deren Angehörige weggezogen sind – sonst würden die doch verwahrlosen. Dieser Faulpelz, der oben auf dem Friedhof arbeitet und sich ungestraft Gärtner nennen darf, der schert sich doch einen Dreck darum, ob die Gräber gepflegt aussehen oder eben nicht Aber so ist das heute. Das Geld stecken sie ein, aber wenn sie dafür arbeiten sollen, hört der Spaß auf. Ist ja auch kein Wunder, wenn keiner den Kerl kontrolliert, oder? Pfarrer Landulf ist viel zu nachsichtig mit seinen Schäfchen. Das hätte es bei unserem alten Pfarrer – Friede seiner Seele – nicht gegeben!«, schnaufte sie und senkte, wie um sich zu entspannen, den Kopf. »Und frische Blumen stelle ich auch auf den Altar. – Aber jetzt werde ich wohl nie mehr in unsere Kirche gehen können, ohne mich zu gruseln!«
Plötzlich brachen sich dicke Tränen Bahn.
Mitfühlend tätschelte Britta der Zeugin den feisten Unterarm und reichte ihr die bereitstehende Taschentuchbox. Dankbar zog Hanne sich eines heraus und putzte sich umständlich die Nase. Irritiert sah Britta Lilliehöök zu, wie sie das zusammengeknüllte Tuch in den Ärmel ihrer Strickjacke schob. Das musste wohl ein alterstypisches Verhalten sein, dachte sie. Ihre Großmutter hatte das auch immer gemacht; bei ihrer Mutter hatte sie es beim letzten Wochenendbesuch ebenfalls bemerkt und sie beschloss, ein wachsames Auge auf sich selbst zu haben.
»Heute Morgen hast du also auch Staub gewischt?«
»Ja. Ich habe einen dieser modernen Staubwedel dabei und mit dem gehe ich über alles rüber.«
»Und danach? Was tust du nach dem Staubwedeln?«
»Mit der Möbelpolitur reibe ich den Altar gründlich ein. Ab und zu auch die vorderen Reihen.«
Verschwörerisch beugte sie sich zu Britta über den Tisch.
»Ich mische sie selber. Altes Familienrezept. Der Pfarrer mag zwar den Geruch nicht, aber was sein muss, muss sein.«
»Und dabei hast du dann heute den Toten entdeckt?«
»Stell dir nur mal vor: Ich war die ganze Zeit mit dem Toten allein! Ich war mit dem Altar beschäftigt, und erst als ich anschließend die Reihen abwischte, sah ich ihn da im Gestühl hinter der Säule liegen.«
»Was hast du getan, als du den Mann entdeckt hattest?«
»Na, ehrlich gesagt dachte ich ja erst: du meine Güte, muss der aber besoffen gewesen sein. Schläft seinen Rausch dreist in der Kirche aus. Ich habe gleich gesehen, dass es ein Fremder sein musste. Wegen der Haarfarbe, weißt du? Die hat keiner der Männer von Holm. Dann bin ich ein bisschen näher ran. Vorsichtig natürlich. Schließlich weiß man bei Männern ja nie. Und da habe ich plötzlich das Kreuz auf ihm liegen sehen. Weißt du, dieses scheußlich moderne Ding von Knut Hallmansson. Pfarrer Landulf ist es das liebste Stück. Es ist verflixt schwer. Ich habe den Mann dann angesprochen und mit einem Mal war mir klar, dass der in diesem Leben niemanden mehr hört.«
»Vor der Kirche stand ein fremdes Auto. Aus Dänemark. Ist dir das aufgefallen, als du am Morgen gekommen bist?«
»Nein. Was für ein Wagen war das denn?«, fragte sie erstaunt.
»Ein grauer Saab – auf der hinteren Scheibe klebte ein blaues Schild mit einem Rollstuhlfahrer drauf.«
»Vielleicht war ich zu sehr in Gedanken ... Außerdem kenne ich niemanden, der im Rollstuhl sitzt.«
»Was hast du gemacht, als du gemerkt hast, dass der Mann tot ist?«
»Da habe ich so laut geschrien, wie ich kann – zum Glück kam gleich Grete angerannt. Und dann haben wir die Polizei angerufen.«
Hannes Stimme klang plötzlich merkwürdig piepsig, als wäre ihr dieser Teil der Geschichte peinlich.
»Meinst du, der Kerl wollte mich auch umbringen?«, fragte sie mit flackerndem Blick.
Britta seufzte.
»Nein, Hanne. Für dich bestand keinerlei Gefahr. Das Opfer war schon seit ein paar Stunden tot und der Mörder mit Sicherheit nicht mehr in der Kirche.«
»Der Herr wacht eben über die Seinen«, schloss Hanne selbstgerecht.
»Tja, dann hat er letzte Nacht wohl zumindest einen der Seinen aus den Augen verloren, meinst du nicht auch?«, fragte Britta scheinbar leichthin.