Loe raamatut: «Zur Genealogie der Moral», lehekülg 2
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Alle Achtung also vor den guten Geistern, die in diesen Historikern der Moral walten mögen! Aber gewiss ist leider, dass ihnen der historische Geist selber abgeht, dass sie gerade von allen guten Geistern der Historie selbst im Stich gelassen worden sind! Sie denken allesammt, wie es nun einmal alter Philosophen-Brauch ist, wesentlich unhistorisch; daran ist kein Zweifel. Die Stümperei ihrer Moral-Genealogie kommt gleich am Anfang zu Tage, da, wo es sich darum handelt, die Herkunft des Begriffs und Urtheils "gut" zu ermitteln. "Man hat ursprünglich"—so dekretieren sie—"unegoistische Handlungen von Seiten Derer gelobt und gut genannt, denen sie erwiesen wurden, also denen sie nützlich waren; später hat man diesen Ursprung des Lobes vergessen und die unegoistischen Handlungen einfach, weil sie gewohnheitsmässig immer als gut gelobt wurden, auch als gut empfunden—wie als ob sie an sich etwas Gutes wären." Man sieht sofort: diese erste Ableitung enthält bereits alle typischen Züge der englischen Psychologen-Idiosynkrasie,—wir haben "die Nützlichkeit," "das Vergessen," "die Gewohnheit" und am Schluss "den Irrthum," Alles als Unterlage einer Werthschätzung, auf welche der höhere Mensch bisher wie auf eine Art Vorrecht des Menschen überhaupt stolz gewesen ist. Dieser Stolz soll gedemüthigt, diese Werthschätzung entwerthet werden: ist das erreicht? ... Nun liegt für mich erstens auf der Hand, dass von dieser Theorie der eigentliche Entstehungsherd des Begriffs "gut" an falscher Stelle gesucht und angesetzt wird: das Urtheil "gut" rührt nicht von Denen her, welchen "Güte" erwiesen wird! Vielmehr sind es "die Guten" selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. Aus diesem Pathos der Distanz heraus haben sie sich das Recht, Werthe zu schaffen, Namen der Werthe auszuprägen, erst genommen: was gieng sie die Nützlichkeit an! Der Gesichtspunkt der Nützlichkeit ist gerade in Bezug auf ein solches heisses Herausquellen oberster rang-ordnender, rang-abhebender Werthurtheile so fremd und unangemessen wie möglich: hier ist eben das Gefühl bei einem Gegensatze jenes niedrigen Wärmegrades angelangt, den jede berechnende Klugheit, jeder Nützlichkeits-Calcul voraussetzt,—und nicht für einmal, nicht für eine Stunde der Ausnahme, sondern für die Dauer. Das Pathos der Vornehmheit und Distanz, wie gesagt, das dauernde und dominirende Gesammt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältniss zu einer niederen Art, zu einem "Unten"—das ist der Ursprung des Gegensatzes "gut" und "schlecht." (Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen: sie sagen "das ist das und das," sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.) Es liegt an diesem Ursprunge, dass das Wort "gut" sich von vornherein durchaus nicht nothwendig an "unegoistische" Handlungen anknüpft: wie es der Aberglaube jener Moralgenealogen ist. Vielmehr geschieht es erst bei einem Niedergange aristokratischer Werthurtheile, dass sich dieser ganze Gegensatz "egostisch" "unegoistisch" dem menschlichen Gewissen mehr und mehr aufdrängt,—es ist, um mich meiner Sprache zu bedienen, der Herdeninstinkt, der mit ihm endlich zu Worte (auch zu Worten) kommt. Und auch dann dauert es noch lange, bis dieser Instinkt in dem Maasse Herr wird, dass die moralische Werthschätzung bei jenem Gegensatze geradezu hängen und stecken bleibt (wie dies zum Beispiel im gegenwärtigen Europa der Fall ist: heute herrscht das Vorurtheil, welches "moralisch," "unegoistisch," "désintéressé" als gleichwerthige Begriffe nimmt, bereits mit der Gewalt einer "fixen Idee" und Kopfkrankheit).
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Zweitens aber: ganz abgesehen von der historischen Unhaltbarkeit jener Hypothese über die Herkunft des Werthurtheils "gut," krankt sie an einem psychologischen Widersinn in sich selbst. Die Nützlichkeit der unegoistischen Handlung soll der Ursprung ihres Lobes sein, und dieser Ursprung soll vergessen worden sein:—wie ist dies Vergessen auch nur möglich? Hat vielleicht die Nützlichkeit solcher Handlungen irgend wann einmal aufgehört? Das Gegentheil ist der Fall: diese Nützlichkeit ist vielmehr die Alltagserfahrung zu allen Zeiten gewesen, Etwas also, das fortwährend immer neu unterstrichen wurde; folglich, statt aus dem Bewusstsein zu verschwinden, statt vergessbar zu werden, sich dem Bewusstsein mit immer grösserer Deutlichkeit eindrücken musste. Um wie viel vernünftiger ist jene entgegengesetzte Theorie (sie ist deshalb nicht wahrer—), welche zum Beispiel von Herbert Spencer vertreten wird: der den Begriff "gut" als wesensgleich mit dem Begriff "nützlich," "zweckmässig" ansetzt, so dass in den Urtheilen "gut" und "schlecht" die Menschheit gerade ihre unvergessnen und unvergessbaren Erfahrungen über nützlich-zweckmässig, über schädlich-unzweckmässig aufsummirt und sanktionirt habe. Gut ist, nach dieser Theorie, was sich von jeher als nützlich bewiesen hat: damit darf es als "werthvoll im höchsten Grade," als "werthvoll an sich" Geltung behaupten. Auch dieser Weg der Erklärung ist, wie gesagt, falsch, aber wenigstens ist die Erklärung selbst in sich vernünftig und psychologisch haltbar.
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— Den Fingerzeig zum rechten Wege gab mir die Frage, was eigentlich die von den verschiedenen Sprachen ausgeprägten Bezeichnungen des "Guten" in etymologischer Hinsicht zu bedeuten haben: da fand ich, dass sie allesammt auf die gleiche Begriffs-Verwandlung zurückleiten,—dass überall "vornehm," "edel" im ständischen Sinne der Grundbegriff ist, aus dem sich "gut" im Sinne von "seelisch-vornehm," "edel," von "seelisch-hochgeartet," "seelisch-privilegirt" mit Nothwendigkeit heraus entwickelt: eine Entwicklung, die immer parallel mit jener anderen läuft, welche "gemein," "pöbelhaft," "niedrig" schliesslich in den Begriff "schlecht" übergehen macht. Das beredteste Beispiel für das Letztere ist das deutsche Wort "schlecht" selber: als welches mit "schlicht" identisch ist—vergleiche "schlechtweg," "schlechterdings"—und ursprünglich den schlichten, den gemeinen Mann noch ohne einen verdächtigenden Seitenblick, einfach im Gegensatz zum Vornehmen bezeichnete. Um die Zeit des dreissigjährigen Kriegs ungefähr, also spät genug, verschiebt sich dieser Sinn in den jetzt gebräuchlichen.— Dies scheint mir in Betreff der Moral-Genealogie eine wesentliche Einsicht; dass sie so spät erst gefunden wird, liegt an dem hemmenden Einfluss, den das demokratische Vorurtheil innerhalb der modernen Welt in Hinsicht auf alle Fragen der Herkunft ausübt. Und dies bis in das anscheinend objektivste Gebiet der Naturwissenschaft und Physiologie hinein, wie hier nur angedeutet werden soll. Welchen Unfug aber dieses Vorurtheil, einmal bis zum Hass entzügelt, in Sonderheit für Moral und Historie anrichten kann, zeigt der berüchtigte Fall Buckle's [Henry Thomas Buckle (1821-1862): engl. Kulturhistoriker, Geschichte der Civilisation in England (1857).]; der Plebejismus des modernen Geistes, der englischer Abkunft ist, brach da einmal wieder auf seinem heimischen Boden heraus, heftig wie ein schlammichter Vulkan und mit jener versalzten, überlauten, gemeinen Beredtsamkeit, mit der bisher alle Vulkane geredet haben. —
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In Hinsicht auf unser Problem, das aus guten Gründen ein stilles Problem genannt werden kann und sich wählerisch nur an wenige Ohren wendet, ist es von keinem kleinen Interesse, festzustellen, dass vielfach noch in jenen Worten und Wurzeln, die "gut" bezeichnen, die Hauptnuance durchschimmert, auf welche hin die Vornehmen sich eben als Menschen höheren Ranges fühlten. Zwar benennen sie sich vielleicht in den häufigsten Fällen einfach nach ihrer Überlegenheit an Macht (als "die mächtigen," "die Herren," "die Gebietenden") oder nach dem sichtbarsten Abzeichen dieser Überlegenheit, zum Beispiel als "die Reichen," "die Besitzenden" (das ist der Sinn von arya; und entsprechend im Eranischen und Slavischen). Aber auch nach einem typischen Charakterzuge: und dies ist der Fall, der uns hier angeht. Sie heissen sich zum Beispiel "die Wahrhaftigen": voran der griechische Adel, dessen Mundstück der Megarische Dichter Theognis ist. Das dafür ausgeprägte Wort esJloV [esthlos] bedeutet der Wurzel nach Einen, der ist, der Realität hat, der wirklich ist, der wahr ist; dann, mit einer subjektiven Wendung, den Wahren als den Wahrhaftigen: in dieser Phase der Begriffs-Verwandlung wird es zum Schlag- und Stichwort des Adels und geht ganz und gar in den Sinn "adelig" über, zur Abgrenzung vom lügenhaften gemeinen Mann, so wie Theognis ihn nimmt und schildert,—bis endlich das Wort, nach dem Niedergange des Adels, zur Bezeichnung der seelischen noblesse übrig bleibt und gleichsam reif und süss wird. Im Worte cacoV [kakos] wie in deiloV [deilos] (der Plebejer im Gegensatz zum agaJoV [agathos]) ist die Feigheit unterstrichen: dies giebt vielleicht einen Wink, in welcher Richtung man die etymologische Herkunft des mehrfach deutbaren agaJoV [agathos] zu suchen hat. Im lateinischen malus (dem ich melaV [melas] zur Seite stelle) könnte der gemeine Mann als der Dunkelfarbige, vor allem als der Schwarzhaarige ("hic niger est—") [vgl. Horaz, Satiren: I. 4. 85] gekennzeichnet sein, als der vorarische Insasse des italischen Bodens, der sich von der herrschend gewordnen blonden, nämlich arischen Eroberer-Rasse durch die Farbe am deutlichsten abhob; wenigstens bot mir das Gälische den genau entsprechenden Fall,—fin (zum Beispiel im Namen Fin-Gal) das abzeichnende Wort des Adels, zuletzt der Gute, Edle, Reine, ursprünglich der Blondkopf, im Gegensatz zu den dunklen, schwarzhaarigen Ureinwohnern. Die Kelten, beiläufig gesagt, waren durchaus eine blonde Rasse; man thut Unrecht, wenn man jene Streifen einer wesentlich dunkelhaarigen Bevölkerung, die sich auf sorgfältigeren ethnographischen Karten Deutschlands bemerkbar machen, mit irgend welcher keltischen Herkunft und Blutmischung in Zusammenhang bringt, wie dies noch Virchow thut: vielmehr schlägt an diesen Stellen die vorarische Bevölkerung Deutschlands vor. (Das Gleiche gilt beinahe für ganz Europa: im Wesentlichen hat die unterworfene Rasse schliesslich daselbst wieder die Oberhand bekommen, in Farbe, Kürze des Schädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und socialen Instinkten: wer steht uns dafür, ob nicht die moderne Demokratie, der noch modernere Anarchismus und namentlich jener Hang zur "Commune," zur primitivsten Gesellschafts-Form, der allen Socialisten Europa's jetzt gemeinsam ist, in der Hauptsache einen ungeheuren Nachschlag zu bedeuten hat—und dass die Eroberer- und Herren-Rasse, die der Arier, auch physiologisch im Unterliegen ist? ...) Das lateinische bonus glaube ich als "den Krieger" auslegen zu dürfen: vorausgesetzt, dass ich mit Recht bonus auf ein älteres duonus zurückführe (vergleiche bellum = duellum = duen-lum worin mir jenes duonus erhalten scheint). Bonus somit als Mann des Zwistes, der Entzweiung (duo), als Kriegsmann: man sieht, was im alten Rom an einem Manne seine "Güte" ausmachte. Unser deutsches "Gut" selbst: sollte es nicht "den Göttlichen," den Mann "göttlichen Geschlechts" bedeuten? Und mit dem Volks- (ursprünglich Adels-) Namen der Gothen identisch sein? Die Gründe zu dieser Vermuthung gehören nicht hierher. —
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Von dieser Regel, dass der politische Vorrangs-Begriff sich immer einen seelischen Vorrangs-Begriff auslöst, macht es zunächst noch keine Ausnahme (obgleich es Anlass zu Ausnahmen giebt), wenn die höchste Kaste zugleich die priesterliche Kaste ist und folglich zu ihrer Gesammt-Bezeichnung ein Prädikat bevorzugt, das an ihre priesterliche Funktion erinnert. Da tritt zum Beispiel "rein" und "unrein" sich zum ersten Male als Ständeabzeichen gegenüber; und auch hier kommt später ein "gut" und ein "schlecht" in einem nicht mehr ständischen Sinne zur Entwicklung. Im Übrigen sei man davor gewarnt, diese Begriffe "rein" und "unrein" nicht von vornherein zu schwer, zu weit oder gar symbolisch zu nehmen: alle Begriffe der älteren Menschheit sind vielmehr anfänglich in einem uns kaum ausdenkbaren Maasse grob, plump, äusserlich, eng, geradezu und insbesondere unsymbolisch verstanden worden. Der "Reine" ist von Anfang an bloss ein Mensch, der sich wäscht, der sich gewisse Speisen verbietet, die Hautkrankheiten nach sich ziehen, der nicht mit den schmutzigen Weibern des niederen Volkes schläft, der einen Abscheu vor Blut hat,—nicht mehr, nicht viel mehr! Andrerseits erhellt es freilich aus der ganzen Art einer wesentlich priesterlichen Aristokratie, warum hier gerade frühzeitig sich die Werthungs-Gegensätze auf eine gefährliche Weise verinnerlichen und verschärfen konnten; und in der That sind durch sie schliesslich Klüfte zwischen Mensch und Mensch aufgerissen worden, über die selbst ein Achill der Freigeisterei nicht ohne Schauder hinwegsetzen wird. Es ist von Anfang an etwas Ungesundes in solchen priesterlichen Aristokratien und in den daselbst herrschenden, dem Handeln abgewendeten, theils brütenden, theils gefühls-explosiven Gewohnheiten, als deren Folge jene den Priestern aller Zeiten fast unvermeidlich anhaftende intestinale Krankhaftigkeit und Neurasthenie erscheint; was aber von ihnen selbst gegen diese ihre Krankhaftigkeit als Heilmittel erfunden worden ist,—muss man nicht sagen, dass es sich zuletzt in seinen Nachwirkungen noch hundert Mal gefährlicher erwiesen hat, als die Krankheit, von der es erlösen sollte? Die Menschheit selbst krankt noch an den Nachwirkungen dieser priesterlichen Kur-Naivitäten! Denken wir zum Beispiel an gewisse Diätformen (Vermeidung des Fleisches), an das Fasten, an die geschlechtliche Enthaltsamkeit, an die Flucht "in die Wüste" (Weir Mitchell'sche Isolirung, freilich ohne die darauf folgende Mastkur und Überernährung, in der das wirksamste Gegenmittel gegen alle Hysterie des asketischen Ideals besteht): hinzugerechnet die ganze sinnenfeindliche faul- und raffinirtmachende Metaphysik der Priester, ihre Selbst-Hypnotisirung nach Art des Fakirs und Brahmanen—Brahman als gläserner Knopf und fixe Idee benutzt—und das schliessliche, nur zu begreifliche allgemeine Satthaben mit seiner Radikalkur, dem Nichts (oder Gott:—das Verlangen nach einer unio mystica mit Gott ist das Verlangen des Buddhisten in's Nichts, Nirvâna—und nicht mehr!). Bei den Priestern wird eben Alles gefährlicher, nicht nur Kurmittel und Heilkünste, sondern auch Hochmuth, Rache, Scharfsinn, Ausschweifung, Liebe, Herrschsucht, Tugend, Krankheit;—mit einiger Billigkeit liesse sich allerdings auch hinzufügen, dass erst auf dem Boden dieser wesentlich gefährlichen Daseinsform des Menschen, der priesterlichen, der Mensch überhaupt ein interessantes Thier geworden ist, dass erst hier die menschliche Seele in einem höheren Sinne Tiefe bekommen hat und böse geworden ist—und das sind ja die beiden Grundformen der bisherigen Überlegenheit des Menschen über sonstiges Gethier! ..
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— Man wird bereits errathen haben, wie leicht sich die priesterliche Werthungs-Weise von der ritterlich-aristokratischen abzweigen und dann zu deren Gegensatz fortentwickeln kann; wozu es in Sonderheit jedes Mal einen Anstoss giebt, wenn die Priesterkaste und die Kriegerkaste einander eifersüchtig entgegentreten und über den Preis mit einander nicht einig werden wollen. Die ritterlich-aristokratischen Werthurtheile haben zu ihrer Voraussetzung eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, sammt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und Alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemuthes Handeln in sich schliesst. Die priesterlich-vornehme Werthungs-Weise hat—wir sahen es—andere Voraussetzungen: schlimm genug für sie, wenn es sich um Krieg handelt! Die Priester sind, wie bekannt, die bösesten Feinde—weshalb doch? Weil sie die ohnmächtigsten sind. Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der Hass in's Ungeheure und Unheimliche, in's Geistigste und Giftigste. Die ganz grossen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser:—gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in Betracht. Die menschliche Geschichte wäre eine gar zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist:—nehmen wir sofort das grösste Beispiel. Alles, was auf Erden gegen "die Vornehmen," "die Gewaltigen," "die Herren," "die Machthaber" gethan worden ist, ist nicht der Rede werth im Vergleich mit dem, was die Juden gegen sie gethan haben: die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwerthung von deren Werthen, also durch einen Akt der geistigsten Rache Genugthuung zu schaffen wusste. So allein war es eben einem priesterlichen Volk gemäss, dem Volke der zurückgetretensten priesterlichen Rachsucht. Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflössenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich "die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sich allein giebt es Seligkeit,—dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!" ... Man weiss, wer die Erbschaft dieser jüdischen Umwerthung gemacht hat ... Ich erinnere in Betreff der ungeheuren und über alle Maassen verhängnissvollen Initiative, welche die Juden mit dieser grundsätzlichsten aller Kriegserklärungen gegeben haben, an den Satz, auf den ich bei einer anderen Gelegenheit gekommen bin ("Jenseits von Gut und Böse" p. 118 [§195])—dass nämlich mit den Juden der Sklavenaufstand in der Moral beginnt: jener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er—siegreich gewesen ist ...
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— Aber ihr versteht das nicht? Ihr habt keine Augen für Etwas, da zwei Jahrtausende gebraucht hat, um zum Siege zu kommen? ... Daran ist Nichts zum Verwundern: alle langen Dinge sind schwer zu sehn, zu übersehn. Das aber ist das Ereigniss: aus dem Stamme jenes Baums der Rache und des Hasses, des jüdischen Hasses—des tiefsten und sublimsten, nämlich Ideale schaffenden, Werthe umschaffenden Hasses, dessen Gleichen nie auf Erden dagewesen ist—wuchs etwas ebenso Unvergleichliches heraus, eine neue Liebe, die tiefste und sublimste aller Arten Liebe:—und aus welchem andern Stamme hätte sie auch wachsen können? ... Dass man aber ja nicht vermeine, sie sei etwa als die eigentliche Verneinung jenes Durstes nach Rache, als der Gegensatz des jüdischen Hasses emporgewachsen! Nein, das Umgekehrte ist die Wahrheit! Die Liebe wuchs aus ihm heraus, als seine Krone, als die triumphirende, in der reinsten Helle und Sonnenfülle sich breit und breiter entfaltende Krone, welche mit demselben Drange gleichsam im Reiche des Lichts und der Höhe auf die Ziele jenes Hasses, auf Sieg, auf Beute, auf Verführung aus war, mit dem die Wurzeln jenes Hasses sich immer gründlicher und begehrlicher in Alles, was Tiefe hatte und böse war, hinunter senkten. Dieser Jesus von Nazareth, als das leibhafte Evangelium der Liebe, dieser den Armen, den Kranken, den Sündern die Seligkeit und den Sieg bringende "Erlöser"—war er nicht gerade die Verführung in ihrer unheimlichsten und unwiderstehlichsten Form, die Verführung und der Umweg zu eben jenen jüdischen Werthen und Neuerungen des Ideals? Hat Israel nicht gerade auf dem Umwege dieses "Erlösers," dieses scheinbaren Widersachers und Auflösers Israel's, das letzte Ziel seiner sublimen Rachsucht erreicht? Gehört es nicht in die geheime schwarze Kunst einer wahrhaft grossen Politik der Rache, einer weitsichtigen, unterirdischen, langsam-greifenden und vorausrechnenden Rache, dass Israel selber das eigentliche Werkzeug seiner Rache vor aller Welt wie etwas Todfeindliches verleugnen und an's Kreuz schlagen musste, damit "alle Welt," nämlich alle Gegner Israel's unbedenklich gerade an diesem Köder anbeissen konnten? Und wüsste man sich andrerseits, aus allem Raffinement des Geistes heraus, überhaupt noch einen gefährlicheren Köder auszudenken? Etwas, das an verlockender, berauschender, betäubender, verderbender Kraft jenem Symbol des "heiligen Kreuzes" gleichkäme, jener schauerlichen Paradoxie eines "Gottes am Kreuze," jenem Mysterium einer unausdenkbaren letzten äussersten Grausamkeit und Selbstkreuzigung Gottes zum Heile des Menschen? ... Gewiss ist wenigstens, dass sub hoc signo Israel mit seiner Rache und Umwerthung aller Werthe bisher über alle anderen Ideale, über alle vornehmeren Ideale immer wieder triumphirt hat. — —