Loe raamatut: «Menschenwürde und Bildung», lehekülg 2

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|17| I. Menschenwürde und Bildung im evangelischen Bildungsdenken
1. Vorüberlegungen: Begriffe und Sachen

Nachdem in der Einleitung Gesagten ist die Aufgabe dieses Teils bereits weitgehend geklärt: Es muss nun darum gehen zu prüfen, wie sich der Zusammenhang von Menschenwürde und Bildung im evangelischen Bildungsdenken widerspiegelt. Zugespitzt: Kann der Bezug auf die Menschenwürde tatsächlich als ein zentraler Schwerpunkt des evangelischen Bildungsverständnisses bezeichnet werden? Insbesondere ist dabei zu fragen, ob und wie dieses Denken auf die sechs genannten Probleme und Herausforderungen – von Realisierung, Motivation und Spezifikation, von Vergewisserung, Selbstverständigung und Pluralität – selbst antwortet und wie es weitergehend auch unter veränderten Herausforderungen auf diese Herausforderungen zu antworten erlaubt.

Dabei muss von vornherein deutlich sein, dass dieses Vorhaben auch eine kritische Dimension einschließt. Nicht nur ergeben sich aus den genannten Problemen kritische Einschätzungen hinsichtlich der Tragfähigkeit des evangelischen Bildungsdenkens selbst; vielmehr liegt schon in der Verknüpfung von Menschenwürde und Bildung insofern ein kritischer Impuls, als die Tradition des evangelischen Bildungsdenkens sich vielfach weit mehr auf die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen nach dem Sündenfall bezogen hat als auf Bildungsmöglichkeiten oder gar Bildungsansprüche jedes einzelnen Menschen. Der konsequente Bezug auf die Menschenwürde als Begründung für das Bildungsverständnis aktualisiert deshalb nicht einfach Traditionsbestände, die für unsere Gegenwart und Zukunft unverändert übernommen werden sollen, sondern dieser Bezug fordert auch das evangelische Bildungsdenken neu zu einer kritischen Selbstprüfung heraus. Zugleich erwachsen aus einem evangelischen Verständnis kritische Anfragen an andere Auffassungen von Bildung.

Den Reflexionsraum im Folgenden stellt das evangelische Bildungsdenken in seiner Herausbildung seit der Reformation dar, auch wenn es hier nur in der Gestalt exemplarischer Vertiefungen aufgenommen |18| werden kann.9 Die mit der geschichtlichen Entwicklung des evangelischen Bildungsdenkens angesprochene Weite ist erforderlich, weil sonst wesentliche Entscheidungen und Entwicklungen, die – für diese Tradition gesprochen – bereits in früher Zeit fallen, nicht angemessen in den Blick kommen können. Doch erweist sich die Frage nach Menschenwürde und Bildung rasch als eine ausgesprochen moderne, insbesondere auf unsere eigene Gegenwart bezogene Fragestellung. Denn die Begriffe von Menschenwürde und Bildung werden in ihrer Verknüpfung erst im 20. Jahrhundert für das evangelische Bildungsdenken zentral. Diese Beobachtung darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch im vorliegenden Falle die entsprechenden Begriffe jünger sein können als die damit bezeichneten Sachen oder Sachverhalte. Auch wenn es gewiss einen Unterschied macht, ob solche Begriffe verfügbar sind oder nicht, ist es durchaus denkbar und möglich, das, was heute mit Hilfe der Begriffe Menschenwürde und Bildung thematisiert wird, auch ohne diese Begriffe zumindest der Sache nach aufzunehmen. Deshalb wird im Folgenden insofern zwischen Begriff und Sache unterschieden, als das mit Menschenwürde und Bildung Gemeinte auch dort gesucht – und zum Teil gefunden – wird, wo die entsprechenden Begriffe (noch) fehlen. Hilfreich ist es dabei, auch den Begriff der Gottebenbildlichkeit mit einzubeziehen, obwohl auch dieser Begriff in der Gründerzeit des evangelischen Bildungsdenkens aus noch zu klärenden Gründen nur eine begrenzte Rolle spielt.

Das im Folgenden gewählte Verfahren bringt es – das sei noch einmal betont – mit sich, dass weder die Begriffsgeschichte im Vordergrund stehen kann noch ein Bildungsbegriff, der gegen den Erziehungsbegriff profiliert wird. Ziel der Studie ist es nicht, von der vorausgesetzten Menschenwürde auf Bildung statt Erziehung zu folgern.10 Vieles, was in der Tradition des evangelischen Bildungsdenkens mit dem Bezug auf die Menschenwürde begründet wird, kann auch als Erziehung beschrieben werden. Allerdings kommen einige der in der Tradition enthaltenen Auffassungen von Bildung – vor allem mit der Hervorhebung von Mündigkeit und kritischer Reflexivität – der Menschenwürde besonders entgegen. Insofern kann auch von einer Affinität |19| zwischen Menschenwürde und Bildung gesprochen werden, wie sie zumindest bei einem auf Anpassung und Gehorsam reduzierten Erziehungsverständnis nicht gegeben ist. Schon die Rede von einem reduzierten Erziehungsverständnis macht allerdings darauf aufmerksam, dass ein solches Verständnis heute kaum mehr ernsthaft vertreten werden kann, zumindest nicht im Bereich der Wissenschaft.

Schließlich ergibt sich aus diesen Vorüberlegungen auch, wie die Überschrift zu diesem Teil der Studie zu verstehen ist. »Evangelisches Bildungsdenken« ist nicht begriffsgeschichtlich gemeint und die entsprechende Auswahl von Positionen und Stationen nicht an der ausdrücklichen Verwendung des Bildungsbegriffs orientiert. Allerdings soll darauf geachtet werden, dass diejenigen Positionen in dieser Tradition nicht übergangen werden, die sich von einem expliziten Bildungsbegriff leiten lassen, aber aus den genannten Gründen geht es eben nicht allein um diese Positionen.

2. Erziehungsbedürftigkeit statt Bildungsanspruch: Kann sich eine auf der Menschenwürde gründende Bildung auf die reformatorische Tradition berufen?

Für das evangelische Bildungsdenken in der Reformationszeit des 16. Jahrhunderts spielt weder der Bildungsbegriff noch die Berufung auf die Menschenwürde eine deutlich fassbare Rolle.11 Auch wenn man statt der Menschenwürde an die Gottebenbildlichkeit denkt, die heute vielfach als maßgebliche theologische Begründung der Menschenwürde angesehen wird,12 ändert sich das Bild nur wenig. Denn bei Luther kommt ein Bezug auf die Gottebenbildlichkeit nur insofern als Begründung für Bildungsaufgaben in den Blick, als der durch den Sündenfall erlittene Verlust der Gottebenbildlichkeit auch die Notwendigkeit von Erziehung begründet, nämlich als Maßnahme gegen die Folgen der Sünde.13 Insofern fällt es, zumindest auf den ersten |20| Blick, tatsächlich schwer, sich für den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Bildung auf die reformatorische Tradition zu berufen. Im Folgenden sollen jedoch Perspektiven aufgezeigt werden, die gleichwohl einige für die Frage nach Menschenwürde und Bildung bedeutsame reformatorische Grundentscheidungen erkennen lassen.

Für Luther steht die Erziehungsbedürftigkeit des Kindes insofern im Vordergrund, als für ihn auch die kindliche Natur voll und ganz dem Verderben unterliegt, das den einzelnen Menschen und die gesamte Menschheit nach dem Sündenfall erfasst hat.14 Vom ersten Tag seines Lebens an unterliegt das Kind den Folgen der Erbsünde – wie Luther gern mit Gen 8,21 formuliert: »das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf«.15 Dem entspricht es auch, dass eine Berufung auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundlage für Bildung für Luther nicht in Frage kommt, denn nach seinem Verständnis ist diese Ebenbildlichkeit für den Menschen nach dem Sündenfall verloren gegangen. Bildung und Erziehung müssen demnach ihren Ausgangspunkt von der Situation nach dem Sündenfall nehmen. Besonders das Neuluthertum hat sich im 20. Jahrhundert darauf berufen und zum Teil deshalb den Bildungsbegriff überhaupt abgelehnt. Nur das Anliegen der Erziehung sei wirklich lutherisch.16

Nicht übersehen werden darf freilich auch, wie groß zugleich die Hoffnungen sind, die Luther an die Kinder und an ihre Erziehung knüpfen kann.17 Auch eine Reform der Kirche kann sich Luther überhaupt nur vorstellen, wenn sie bei der Unterweisung der Kinder ihren Anfang nimmt. Umgekehrt sei es der größte Schaden für die Christenheit, wenn die Kinder »versäumt«, also nicht erzogen werden. Am nächsten kommt Luther dem heutigen Verständnis von Menschenwürde und Bildung dort, wo er, besonders in seinen sogenannten Schulschriften, das Bildungswesen unter die übergreifende, im Schöpfungsglauben verankerte Norm von Frieden und Gerechtigkeit (pax et |21| iustitia) stellt.18 Diesem Ziel hat demnach alle Bildung zu dienen. Aus heutiger Sicht lässt sich dies so interpretieren, dass sich ein menschliches Zusammenleben, das die Würde des einzelnen Menschen ebenso achtet wie die Rechte der Gemeinschaft, nur mit Hilfe von Bildung erreichen und aufrechterhalten lässt. Dabei steht dann zwar der Anspruch der Gemeinschaft an erster Stelle und kommt weniger das Recht auf Bildung des Einzelnen in den Blick, aber es kann hier doch nicht einfach von einem Gegeneinander individueller und gesellschaftlicher Bezüge ausgegangen werden. Beide, das Gemeinwesen und der einzelne Mensch, sollen zu ihrem Recht kommen. Zumindest indirekt bedeutet die Berufung auf Frieden und Gerechtigkeit deshalb auch für den Einzelnen die Gewährleistung eines Lebens in Würde.

Deutlicher wird dies von Melanchthon ausgeführt, der auch ausdrücklich auf beide Pole hinweist, dass nämlich »alle Künste und Wissenschaften« die Möglichkeit eröffnen, »das private Leben zu bewahren oder das Gemeinwesen zu leiten«.19 Ohne Bildung gebe es nur die »Barbarei«, wenn die Menschen »nicht durch die Wissenschaften zu Sittlichkeit kommen, Menschlichkeit und Frömmigkeit angetrieben und angeleitet werden«.20 Hier ist der einzelne Mensch ebenso explizit im Blick wie die Gemeinschaft.

Melanchthon begründet die Notwendigkeit von Bildung mit der Natur. Im Unterschied zu den Tieren habe es diese dem Menschen zur »Pflicht« gemacht, »dass er die von ihm in die Welt gesetzten Kinder nicht nur in frühester Kindheit ernährt, sondern dass er – sobald sie herangewachsen sind – ihre Gesinnung zur Sittlichkeit hin ausbildet«21. Andererseits verweist er auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen, aus der sich für ihn die Bestimmung des Menschen ergibt: »Der Mensch sollte ein solches Abbild Gottes sein, dass er die Ähnlichkeit wahrnähme und verstünde. Die höchste Ähnlichkeit ist die Übereinstimmung in Weisheit und Gerechtigkeit, wie sie nur bei einem vernünftigen Wesen gegeben sein kann.«22

Auch Melanchthon übersieht dabei nicht den Verlust der Gottebenbildlichkeit durch den Sündenfall, doch denkt er hier stärker als |22| Luther von der in Christus geschehenen Erneuerung des Menschen her. Insofern kommt für Melanchthon auch die Erneuerung des Bildes Gottes im Menschen (renovatio) in den Blick, obwohl diese Erneuerung für ihn nicht einfach eine Folge von Bildung, sondern eine Wirkung des göttlichen Geistes ist und insofern auf Erden unabgeschlossen bleibt und bleiben muss: »Das Ebenbild wird erst dann vollkommen sein, wenn in der himmlischen Kirche Gott alles in allem sein wird.«23 Immerhin: Hier wird deutlich, wie die Gott vom Menschen verliehene Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit zu einem grundlegenden Motiv für Bildung auch in reformatorischer Sicht geworden ist.

Wie weit die Konsequenzen reichen, die diese Sicht zumindest prinzipiell bereits in sich schließt, wird in der evangelischen Tradition dann allerdings erst im 17. Jahrhundert wirklich ausformuliert, vor allem bei Johann Amos Comenius. Für Comenius wird die Gottebenbildlichkeit nämlich zu einem zentralen Ausgangspunkt für sein gesamtes Bildungsdenken. Denn Gott soll sein mit der »Erschaffung des Menschen beabsichtigtes Ziel« tatsächlich erreichen können, wie Comenius im Blick auf Gen 1,26f. formuliert24. »Vollkommene Weisheit« wird damit zu einem Bildungsziel: »Denn da alle Menschen nach dem Bilde des hochweisen Gottes erschaffen sind, müssen wir darum bemüht sein, dass das Abbild seinem Urbilde entspricht.«25

Comenius denkt dabei nicht vom gefallenen, sondern vom erneuerten – vom in Christus erneuerten – Menschen her, darin ähnlich wie Melanchthon, aber weit radikaler als dieser im Blick auf die Erneuerbarkeit des Menschen. Die comenianischen Erwartungen an eine Erneuerung des Menschen durch Bildung reichen sehr weit.

Bemerkenswert sind darüber hinaus auch die demokratischen Implikationen der comenianischen Fassung des durch Schöpfung und Gottebenbildlichkeit begründeten Bildungsauftrags, der sich nun, ohne Unterschied, auf alle Menschen beziehen soll: »Kurz, wo Gott keinen Unterschied gemacht hat, da soll auch der Mensch keine Schranken aufrichten.«26 Eben deshalb stellt Comenius den Anspruch einer allgemeinen, auf alle Menschen bezogenen Bildung gleich an den Anfang seiner Pampaedia: Alle (omnes) sollen gebildet werden!

|23| Zumindest andeutungsweise findet sich ein ähnlicher, demokratisch ausgerichteter Gedanke im Übrigen bereits bei Luther, wenn er Bildung mit der Aufgabe des Regierens und deren Ausgestaltung in Verbindung bringt. Luther verwendet hier sogar ein durchaus herrschaftskritisches, gegen die Einbildung des Adels gerichtetes Argument, indem er die Bildungsaufgabe so begründet: »Gott will’s nicht haben, dass geborene Könige, Fürsten, Herren und Adel sollen allein regieren und Herren sein, er will auch seine Bettler dabei haben, sie dächten sonst, die edele Geburt macht alleine Herren und Regenten und nicht Gott alleine.«27

Auf solche Überlegungen bereits den Begriff der Demokratie im politischen Sinne anzuwenden wäre gewiss verfrüht. Im Kern geht es nicht um die Infragestellung einer bestimmten Herrschafts- oder Staatsform, sondern um die Kritik an Fehlformen der (Adels-)Herrschaft, verstanden als Missbrauch legitimer Rechte, oder einer schlechten Regierung, die ihren Auftrag verfehlt. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass sich hier zumindest früh- oder vordemokratische Überlegungen bemerkbar machen, die dann später auch in einem ausdrücklich demokratischen Sinne zur Wirkung kommen konnten.

Am Ende dieses Abschnitts sei noch hingewiesen auf neuere Beiträge zum evangelischen Bildungsdenken, die sich – im Unterschied zu Luther – besonders auf die Gottebenbildlichkeit beziehen. Anders als in den Anfängen des reformatorischen Bildungsdenkens wird etwa bei Peter Biehl und Hans-Jürgen Fraas28 die Gottebenbildlichkeit als unverlierbare Würde und Bestimmung des Menschen zum Ausgangspunkt für ausdrücklich mit dem Bildungsbegriff verbundene Perspektiven. Darin entsprechen sie dem heutigen exegetisch-theologischen Verständnis der Gottebenbildlichkeit, welche die unverlierbare, weil von Gott verliehene Würde des Menschen hervorhebt.29

|24| 3. Bildung in Freiheit und Humanität: Verzweckung und Nützlichkeitsdenken als Versuchung für Eltern, Staat und Kirche

Zur Menschenwürde gehört die menschliche Freiheit. Darüber besteht weithin Einverständnis. Sowohl die Allgemeine Menschenrechtserklärung (Art. 3: »Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person«) als auch das deutsche Grundgesetz heben dies hervor: »Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« (Art. 2,1 GG). Der Anspruch auf eine freiheitliche Bildung – Bildung in Freiheit – nimmt dies in ebenfalls hervorgehobener Weise auf.

Zugleich zeigt die Geschichte des evangelischen Bildungsdenkens, dass die Durchsetzung eines solchen freiheitlichen Bildungsverständnisses, das auch die Möglichkeit zur Entfaltung aller menschlichen Anlagen einschließen muss, von Anfang an kontrovers war. Viel näher als die später vor allem von Friedrich Schleiermacher geforderte Ausprägung der Individualität als Bildungsziel30 lag es etwa den Eltern schon im 16. Jahrhundert, nach dem unmittelbaren Nutzen von Bildungsinvestitionen zu fragen. Und dieser Nutzen wurde offenbar, nicht anders als heute, in einem materiellen Sinne verstanden, also von Karriere und Einkommen. Die Eltern, so Luther, denken nur an den »Bauch«, »haben selbst nichts gelernt, außer den Bauch zu versorgen«.31 »Viele von ihnen sind um ihren Bauch besorgt und verlegen sich auf einträgliche Gewerbe«, fügt Melanchthon hinzu.32 Aber die Kinder sind in reformatorischer Sicht nicht einfach Eigentum der Eltern, sondern Gottes Geschöpfe. Eltern müssen deshalb lernen, dass die Kinder – so Luther – »seien nicht so ganz und gar dein, dass du Gott nichts brauchtest davon tun, er will auch Recht dran haben, und sie sind auch mehr sein denn dein«.33 Hier ist es die Geschöpflichkeit des Menschen, die gegen seine Verzweckung und Unterwerfung unter ein reines Nützlichkeitsdenken ins Feld geführt wird, auch gegenüber den leiblichen Eltern, die vor entsprechenden Versuchungen offenbar nicht gefeit sind. Die Geschöpflichkeit begründet so gesehen die Freiheit von Bildung. Heute wird dies mit der Berufung auf die »Maße |25| des Menschlichen« – so schon der Titel der Denkschrift der EKD von 200334 – zum Ausdruck gebracht.

Systematisch gesehen, entwickelt das auf Bildung bezogene Freiheitsargument seine größte Bedeutung jedoch nicht gegenüber den Eltern, sondern im Verhältnis zum Staat, besonders zum modernen Staat mit seinen dann auch systematisch durchgesetzten Ansprüchen gegenüber dem Bildungswesen. Zu denken ist dabei vor allem an diejenige Staatsform, die sich in der Neuzeit zunehmend als Nationalstaat herausgebildet hat. Zu einem solchen Staat gehört ein im nationalen Interesse unterhaltenes Bildungswesen, das vom Staat eingerichtet, beaufsichtigt und normiert wird. Darin liegt, geschichtlich gesehen, an erster Stelle ein im Namen der Bildung insofern zu begrüßender Fortschritt, als nun zumindest prinzipiell Bildungsmöglichkeiten für alle eröffnet werden. Besonders mit der allgemeinen Schulpflicht, die in großen Teilen Deutschlands, trotz bereits früher einsetzender gesetzlicher Regelungen vor allem seit dem 18. Jahrhundert, freilich erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert wirklich durchgesetzt wird, realisieren sich die Forderungen, die bereits von Luther und nachdrücklich von Comenius aufgestellt worden waren: Bildung für alle.

In dem Maße, in dem der Staat zum Bildungsträger wird und für allgemeine Bildungsmöglichkeiten sorgt, nehmen allerdings zugleich auch die Möglichkeiten – und damit die Versuchungen – für eine staatliche Indienstnahme des Bildungswesens deutlich zu. In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion wird dies mit zwei Begriffen kenntlich gemacht: Legitimation und Allokation.35 Die moderne Schule hat eine Legitimations- und eine Allokationsfunktion. Sie soll dafür sorgen, dass die Bürgerinnen und Bürger die bestehende gesellschaftliche Ordnung als legitim akzeptieren, anstatt sie etwa revolutionär in Frage zu stellen. Und sie muss die Aufgabe erfüllen, Kinder und Jugendliche so auf das gesellschaftliche Leben und insbesondere für den Arbeitsmarkt vorzubereiten, dass sie, möglichst von selbst, den Weg genau dorthin finden, wo sie von der Gesellschaft gebraucht werden. Gegen solche Funktionsbestimmungen ist prinzipiell nichts einzuwenden. Die gesellschaftliche Ordnung muss, wo sie demokratischen Ansprüchen genügt, um der Freiheit willen aufrechterhalten werden, auch durch Bildung. Und auch der materielle Erhalt sowie die Passung |26| zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt stellen eine nicht zu bestreitende Notwendigkeit dar. Die spezifische Versuchung besteht jedoch darin, dass der Staat diese Funktionen verabsolutiert und sie zum höchsten Maß der Bildung macht. Bildung dient dann nicht auch materiellen Zwecken, sondern nur wenn, sofern und soweit sie diesen Zwecken dient, kann und darf sie in dieser Sicht auch noch anderen Aufgaben gerecht werden.

Besonders Friedrich Schleiermacher hat in seinem Verständnis von Pädagogik – auch über den bereits genannten Aspekt der Individualität hinaus – zu zeigen versucht, dass das evangelische Bildungsverständnis zu prinzipiellen Einwänden gegen eine vom Staat verfolgte Verzweckung und Nützlichkeitsorientierung führt. Denn durch die Existenz der Kirche werde eine Verabsolutierung des Staates und staatlicher Zwecke ausgeschlossen. Wo es »außer dem gemeinsamen Leben im Staate noch das Leben in der Kirche« gebe, finde der Absolutheitsanspruch des Staates eine prinzipielle Grenze. Denn das kirchliche Leben könne und dürfe dem Staat »nicht subordiniert«, also nicht untergeordnet werden.36 Daraus erwächst eine Offenheit und Pluralität der Bildungsansprüche, die von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.37

Man kann Schleiermachers Argumentation auch als Weiterführung der von Jean-Jacques Rousseau scharf formulierten Alternative zwischen einer »Erziehung zum Bürger«, also für den Staat, und einer »Erziehung zum Menschen«, also für die eigene Menschlichkeit oder Humanität, lesen.38 Was Schleiermacher fordert, ist insofern ganz im Sinne Rousseaus, aber es findet bei ihm eine andere Begründung, und dies in entscheidender Hinsicht. Im geschichtlichen Prozess werde die Macht des Staates pluralisierend begrenzt nicht durch einen allgemeinen Anspruch auf Humanität – so Rousseau –, sondern durch die Kirche. Spätere evangelische Pädagogen wie Christian Palmer sahen hierin überhaupt den Unterschied zwischen einem vorchristlichen und einem christlichen Erziehungsverständnis. Auch für die philosophische Pädagogik, wie sie sich in der griechischen Antike herausgebildet hat, gelte: »gerade die Idee des Menschen als Menschen ist dort noch |27| fremd und unerkannt: der Mensch ist nur dazu da, Bürger des Staates zu sein, das ist seine höchste Bestimmung, sein einziger Wert«.39 Dies erklärt, warum für Palmer eine darüber hinausgehende Pädagogik »nur auf christlichem Boden möglich« ist, eben weil »erst das Christentum den Menschen als Menschen in seinem unendlichen Werte zum Gegenstande der Erziehung macht«. Oder, noch einmal zugespitzt: »hier erst ist Pädagogik möglich, wo durch den Begriff evangelischer Freiheit, d. h. eines durch den heiligen Geist gewirkten und Bestand habenden inneren Lebensgesetzes dem Erzieher erst das wahre Objekt seiner Arbeit, das was er bearbeiten und was er erzielen soll, gegeben ist«.40

Es versteht sich von selbst und muss doch ausdrücklich gesagt werden, dass auch das evangelische Bildungsdenken selbst den damit gesetzten Maßstäben keineswegs zu jeder Zeit gefolgt ist. Immer wieder unterlag es vielmehr der ebenfalls als Versuchung zu bezeichnenen Tendenz, sich vom Staat so in Dienst nehmen zu lassen, dass es nur noch diesem dienen wollte. Besonders leicht zu beobachten war dies an der preußischen Schulpolitik. Die Erwartung, dass Gesetzesgehorsam sowie die Bereitschaft, »dem Landesherrn mit unverbrüchlich treuer Liebe anzuhängen«, »vorzüglich durch Religiosität, in Gefühl« übergehen können, hat in diesem Zusammenhang kein geringerer als Wilhelm von Humboldt formuliert.41 Die Geschichte des staatlichen Missbrauchs von Religion und religiöser Erziehung oder Bildung zu schreiben, der auch mit evangelischer Einwilligung etwa im Nationalsozialismus42 oder jedenfalls ohne viel Gegenwehr geschieht, wäre eine eigene Aufgabe.

Wo sich die Kirche und evangelisches Bildungsdenken in dieser Weise missbrauchen lassen oder sich aktiv, wie zum Teil im Nationalsozialismus, dem Missbrauch sogar anbieten, fallen sie selbst der Versuchung eines verzweckten Bildungsdenkens anheim. Darüber hinaus verbindet sich mit der Nützlichkeitsorientierung aber auch eine spezifisch kirchliche Versuchung, die darin besteht, Bildung letztlich nur als eine Investition zu sehen, die sich für die Kirche auszahlen muss – beispielsweise in der Münze stabiler oder wachsender Kirchenmitgliedschaft, |28| eines gesteigerten Gottesdienstbesuchs oder wenigstens der bekräftigten Zustimmung zum kirchlichen Bekenntnis. Soweit sich solche Effekte dann nicht nachweisen lassen, werden umgekehrt Zweifel daran angemeldet, ob sich für die Kirche solche Investitionen wirklich lohnen. Doch wäre es wenig sinnvoll, wollte die Kirche für Bildung die »Maße des Menschlichen« nur anderen gegenüber geltend machen und für sich selbst klare Zwecksetzungen als Maß der Bildung in Anspruch nehmen. Vor dieser Versuchung ist nach evangelischem Verständnis auch die Kirche keineswegs gefeit, und sie würde ihr erliegen, wenn sie einem verzweckten Bildungsdenken Raum geben würde, auch wenn der Zweck in der vermeintlich die Mittel heiligenden Stabilisierung der Kirche besteht.

Tasuta katkend on lõppenud.

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