Loe raamatut: «Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben»

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Impressum

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Fotos: Robert Allertz

edition ost im Verlag Das Neue Berlin –

eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-360-51003-7

ISBN Print 978-3-360-01897-7

Aktualisierte Neuausgabe 2021

© 2011 Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

www.eulenspiegel.com

Über das Buch

Keßler und Streletz waren 1961 aktiv Beteiligte und 2011 die höchstrangigen Militärs, die fünfzig Jahre später noch darüber selbst Auskunft geben konnten, was damals geschah. Vor allem aber: warum. Inzwischen sind sechzig Jahre ins Land gegangen. Und noch immer wird versucht, die Ursachen für die Maßnahmen am 13. August zu verschleiern. Nicht die Führung im Osten hat aus Willkür gehandelt, sondern es blieb ihr, vom Westen genötigt, keine andere Chance zur Friedenssicherung. Die Autoren beweisen es.

Über die Autoren

Armeegeneral a.D. Heinz Keßler (1920–2017) gelernter Maschinenschlosser aus Chemnitz, trat drei Wochen nach dem Überfall als Wehrmachtsoldat zur Roten Armee über. 1945 Rückkehr nach Berlin. Seit 1950 bei den bewaffneten Organen der DDR. Von 1956 bis 1985 Stellvertretender Verteidigungsminister, danach Verteidigungsminister bis 1989.

Generaloberst a.D. Fritz Streletz, Jahrgang 1926, von 1941 bis 1943 Besuch einer Unteroffiziersvorschule, Kriegseinsatz und -gefangenschaft 1945 bis 1948. Danach Kasernierte Volkspolizei (KVP), studierte zweimal in der Sowjetunion. Von 1979 bis 1989 Stellvertreter des Oberkommandierenden der Streitkräfte des Warschauer Vertrages, Stellvertretender Minister für Nationale Verteidigung und Chef des Hauptstabes der NVA sowie 19 Jahre Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR.


Inhalt

Vorwort zur Neuauflage – 60 Jahre danach

50 Jahre danach

Einstimmung: Die Lage in der DDR 1961

Die Rezeption heute

Die Vorgeschichte

Die deutsche Zweistaatlichkeit

Weder die BRD noch die DDR waren bis 1990 souverän

Die militärischen Planungen im Westen

Die Folgen der separaten Währungsreform im Westen

Die Westintegration und die Wiederbewaffnung der BRD

Die Reaktionen in der DDR

Die sogenannte zweite Berlin-Krise

Der Countdown läuft

Der 13. August 1961 aus Sicht der DDR

Die Grenzsicherungsmaßnahmen

Die Maßnahmen und die Folgen

Der Ausbau der Grenze

Ausblick

Anlagen

Schreiben Gretschkos an Minister Hoffmann

Schreiben Konews an Minister Hoffmann

Schreiben Konews an Minister Hoffmann

Gespräch Chrusch­tschow-Ulbricht

Interview mit Generaloberst Mereschko

Vorwort zur Neuauflage – 60 Jahre danach

Kriege beginnen immer mit Lügen. Mit dem angeblichen Überfall Polens auf den deutschen Sender Gleiwitz wurde der Einmarsch der Wehrmacht im östlichen Nachbarland begründet. Der Krieg der USA gegen das sozialistische Viet­nam wurde mit der Lüge legitimiert, im Golf von Tonkin sei ein US-Kriegsschiff von nordvietnamesischen Booten angegriffen worden. Der erste Krieg gegen den Irak begann mit der Brutkasten-Story in Kuweit, die eine PR-Agentur für zehn Millionen Dollar erfunden hatte, der zweite mit der vorgeblichen Existenz von Massenvernichtungswaffen, die dann aber nicht gefunden wurden. 1999 schickten zwei deutsche Bundesminister, ein Grüner und ein Sozialdemokrat, deutsche Soldaten erstmals nach 1945 wieder in den Kampf. Der von ihnen halluzinierte »Hufeisen-Plan« der serbisch-jugoslawischen Führung zur ethnischen »Säuberung« des Kosovo hat aber nie existiert. Der Krieg gegen Libyen wurde begründet mit der Lüge, Staatschef Al-Gaddafi bombardiere das eigene Volk. Seither herrscht Bürgerkrieg im Land …

Die Erkenntnis, dass im Krieg die Wahrheit das erste Opfer sei, ist bereits zweieinhalbtausend Jahre alt – sie formulierte damals der griechische Dichter Aischylos, heißt es. Doch in der Gegenwart vernebelt die politische Lüge die Hirne von Milliarden Menschen. Mit Hilfe digitaler Technik werden nicht nur Wichtiges und Sinnvolles in Sekunden global verbreitet, sondern auch ungeheuerliche Unwahrheiten in die Welt ­gesetzt. Russland bedroht seine Nachbarn, heißt es beispielsweise, weshalb NATO-Panzer – darunter auch deutsche – ins Baltikum verlegt wurden. Die Behauptung, dass Russland auf seinem Territorium Truppen konzentriere und im Schwarzen Meer Manöver durchführe, weshalb Gegenmaßnahmen ergriffen werden müssten, erinnert mich fatal an 1941. »Heute«, behauptete damals Hitler, »stehen rund 150 russische Divisionen an unserer Grenze.« Damit seien die Abmachungen des Freundschaftsvertrages mit Deutschland gebrochen und »in erbärmlicher Weise« verraten. Das Schicksal Europas sei nunmehr in die Hand der deutschen Soldaten gelegt … Mit dieser infamen Behauptung wurde vor achtzig Jahren die Legende vom Präventivkrieg geboren. Sie ist, wie wir mit Entsetzen täglich sehen und hören, nicht gestorben. Die Kriegsrhetorik lebt.

Vorbeugend – zur Verteidigung der Menschenrechte und der freien Schifffahrt – schicken die NATO-Staaten USA, Großbritannien und Frankreich Flugzeugträger und Kriegsschiffe ins Südchinesische Meer. Auch eine deutsche Fregatte soll im Indo-Pazifik der chinesischen Aggression die Stirn bieten. Komisch, weshalb sich da der Gedanke an die Mission des deutschen Kanonenboots »Panther« aufdrängt, als der deutsche Kaiser dieses und zwei weitere Kriegsschiffe zur Wahrung nationaler Interessen nach Agadir an der marokkanischen Küste schickte … (Der SPD-Bundesverteidigungsminister Peter Struck erklärte 2002 traditionsbewusst, als man in Afghanistan einrückte: »Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.«)

Seit dem Erscheinen der 1. Auflage dieses Buches, in dem über die erfolgreiche Verhinderung eines Krieges 1961 berichtet wird, sind inzwischen zehn Jahre vergangen.

In dem verflossenen Jahrzehnt ist sehr viel geschehen, der Frieden aber nicht sicherer geworden. Die Hochrüstung und die Rüstungsexporte haben ein nie gekanntes Niveau erreicht, Rüstungskontrollverträge wurden annulliert, ausgesetzt oder nicht verlängert. Auf fünf Kontinenten – Australien und Antarktika ausgenommen – toben Dutzende Kriege und bewaffnete Konflikte. Diese wiederum verursachen Not und Elend und treiben Millionen Menschen in die Flucht. Und die Völkerwanderung verschärft die sozialen Probleme in anderen Staaten und gefährdet dort den inneren Frieden.

Am gefährlichsten für den Weltfrieden ist jedoch die aggressive Konfrontationspolitik der NATO und deren Führungsmacht, die gegen ihren Niedergang kämpft. Die USA schrieben sich nicht erst vor wenigen Jahren »America First« auf die Fahnen. Dieser Drang zur Weltbeherrschung treibt sie seit Beginn des Kalten Krieges, der ein Dreivierteljahrhundert bereits geführt wird. Doch seit die Dominanz der USA zunehmend infrage gestellt wird, insbesondere durch den Aufstieg der Volksrepublik China, spricht Washington seinen Anspruch diplomatisch unverhüllt aus und verleiht ihm Nachdruck. Mit Forderungen, Sanktionen, Drohungen, Manövern, militärischen Interventionen und militanten Reden. Da bezeichnet der US-Präsident seinen russischen Amtskollegen als »Killer«, da proben Soldaten aus 26 Ländern im NATO-Manöver »Defender Europe 2021« vor der russischen Grenze, da werden Firmen mit Boykottmaßnahmen belegt, wenn sie Geschäfte mit dem »Feind« machen. Da engagieren sich leidenschaftlich die USA und Westeuropa in der Ukraine gemäß der Ansage des einstigen US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński: »Wer die Ukraine beherrscht, schwächt Russland dramatisch.«

Das alles vergiftet nicht nur die internationalen Beziehungen, sondern erhöht dramatisch die Gefahr eines großen Krieges. Wir sollten nicht vergessen, dass die Weltwirtschaftskrise, die 1929 ihren Anfang in den USA nahm, nicht mit dem New Deal von Präsident Franklin D. Roosevelt, sondern durch den Zweiten Weltkrieg beendet wurde.

Unser Buch zeigt, wie in einer angespannten Sicherheitslage die Politik es vermochte, einen Konflikt zu entschärfen. Damals wie auch heute genügte ein Funke, das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Vor sechzig Jahren gelang es, diesen Funken gemeinsam auszutreten, woran auch der junge US-Präsident John F. Kennedy insofern beteiligt war, als er Moskau zugestand, gemäß seiner Sicherheitsinteressen auf seinem Territorium, in seinem Einflussgebiet ungehindert zu agieren, sofern davon nicht die Interessen der USA betroffen sein ­würden.

Die Sicherheitspolitik und das Sicherheitsverständnis Moskaus haben sich seither nicht geändert. Die der Vereinigten Staaten von Amerika hingegen schon.

An der vorliegenden Dokumentation hat Heinz Keßler mitgewirkt. Der Armeegeneral war als Verteidigungsminister der DDR mein Chef, mein Genosse und auch mein Freund. Gemeinsam haben wir im Sommer 2011 dieses Buch in Berlin vorgestellt. Das Echo war, wie erwartet, geteilt. »Zwei Betonköpfe« (Neue Zürcher Zeitung, 28. Juli 2011) hätten einen »verbalen Schmutzwall zwischen zwei Buchdeckel« errichtet (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Mai 2011) und angeblich die »Schüsse auf Flüchtlinge beschönigt« (Die Welt, 12. Mai 2011). »Selbstzweifel oder gar Selbstkritik« (Der Tagesspiegel, 11. August 2011) seien »den alten Genossen« unbekannt, befand der Journalist.

Dem Hohn, der Ignoranz, der ideologischen Verblendung und der persönlichen Schmähung standen weitaus mehr anerkennende Bekundungen entgegen, die bis heute andauern. Sie fanden ihren Ausdruck auch in der großen Zahl jener, die Heinz das letzte Geleit gaben. Er verstarb am 2. Mai 2017 im Alter von 97 Jahren. So erinnert denn diese Neuauflage nicht nur an ein wichtiges Ereignis der europäischen Nachkriegsgeschichte, sondern auch an einen Soldaten, der wenige Tage nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion aus der Wehrmacht desertierte und zur Roten Armee überlief. »In der DDR wurde mein Vater Offizier, weil er den Krieg hasste«, sagte sein Sohn in der Trauerrede. Heinz Keßler sorgte mit dafür, dass die Nationale Volksarmee die einzige deutsche Armee ist, die nie in einen Krieg zog.

Das alles sollte man im Hinterkopf haben, wenn man dieses Buch liest und die Geschichtsverdrehungen zur Kenntnis nehmen muss, die um den 13. August 2021 ganz gewiss in den deutschen Medien verbreitet werden. »Jede Kriegführung gründet auf Täuschung«, soll schon vor zweieinhalbtausend Jahren der chinesische Militärstratege Sunzi formuliert haben. Das gilt auch für den Informations- und Propagandakrieg, in dem wir uns gegenwärtig befinden.

Fritz Streletz,

Strausberg, im Frühjahr 2021

50 Jahre danach

Quer durch die Mitte Berlins zieht sich ein Band von Pflastersteinen, gelegentlich unterbrochen vom in Metall gegossenen Hinweis, dass sich hier bis 1989 »die Mauer« befunden hätte. Und alljährlich am 13. August formieren sich die Stadtoberen, Vertreter von Parteien und sogenannter Opferverbände in der Bernauer Straße zu einer Trauergemeinde. Die Nachrichtenagenturen vermelden wie etwa dpa an jenem Tag 2010: »Mit Kränzen, Kerzen und Schweigeminuten erinnert Berlin heute an den Mauerbau vor 49 Jahren. An der Gedenkstätte in der Bernauer Straße legt Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit einen Kranz für die Opfer des DDR-Grenzregimes nieder.« Zuvor hatte man »bei einer Andacht auf dem früheren Todesstreifen Kerzen entzündet«.

Solche Bilder gehen um die Welt und ans Gemüt. Wo »Trauer« herrscht, hat die Vernunft zu schweigen. Und alle, die den Finger heben und sich kritisch äußern, gelten augenblicklich als Zyniker. Sie würden »die Opfer« verhöhnen.

Zynisch hingegen sind tatsächlich jene, die einer falschen, einer ahistorischen Darstellung das Wort reden und ihr in solchen Aufmärschen und Erklärungen symbolhaft Gestalt geben. Man könnte es besser wissen, wenn man es denn wissen wollte. Aber die Lesart ist vorgegeben und wird seit einem halben Jahrhundert ins öffentliche Bewusstsein getrommelt: Ulbricht, der Lügner, hat die Mauer gebaut und damit das Land gespalten.

Und zum Beweis sendet man in Endlosschleifen jene Sequenz, wo eben jener Geschmähte erklärt, niemand habe die Absicht, eine Mauer zu errichten. Ohne natürlich, was die journalistische Sorgfaltspflicht verlangte, die Erklärung hinzuzusetzen, dass der DDR-Staatsratsvorsitzende dies am 15. Juni 1961 und auf einer internationalen Pressekonferenz in Berlin nach dem Gipfeltreffen von Chrusch­tschow und Kennedy in Wien gesagt hatte. Und zwar auf die Frage der Korrespondentin der Frankfurter Rundschau Annamarie Doherr: »Bedeutet die Bildung einer Freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?«

Und Ulbricht reagierte darauf in der bekannten Weise: »Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!«

Das genügt als Beweis für die Behauptung, dass erstens Ulbricht log, schließlich errichteten zwei Monate später die Berliner Bauarbeiter eben jene »Mauer«, und dass er zweitens dafür Order erteilt haben musste, denn schließlich hatte Ulbricht selbst diesen Begriff eingeführt: Mauer.

Die tatsächliche Lüge ist die inzwischen offizielle Lesart, Walter Ulbricht sei sowohl Erfinder als auch Bauherr »der Mauer«. Die Wahrheit hingegen ist: Ulbricht hatte in Moskau wirksame Maßnahmen zur Friedenssicherung und gegen den Exodus der DDR durch die hohe Anzahl der Wirtschaftsflüchtlinge gefordert, nicht aber das, was zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 an der Grenze geschah.

Wer was wo und warum entschied, werden wir auf den nachfolgenden Seiten dokumentieren. Als Militärs richten wir naturgemäß unser Augenmerk auf militärpolitische Aspekte, auf militärstrategische Fragen zwischen den beiden damals bestehenden Bündnissen, also zwischen Warschauer Vertrag und Nordatlantikpakt. Diese standen, was zu beweisen ist, im Zentrum aller Überlegungen in Moskau und in Washington. Alle anderen Aspekte, die seither in der politischen und propagandistischen Auseinandersetzung um den 13. August und die Grenzsicherungsmaßnahmen in den Vordergrund gedrängt und behandelt werden, die »menschliche Seite« und die damit verbundenen Emotionen, spielten damals eine nachrangige Rolle. Westliche Militärs würden das Kollateralschaden nennen.

Um nicht missverstanden zu werden: Die Führung der DDR, wir beide eingeschlossen, hat jeden einzelnen Todesfall an der Staatsgrenze bedauert. Kein einziger war gewollt. Und nicht nur, weil dadurch der Sozialismus Schaden nahm. Der Sozialismus war von seinem Anspruch her humanistisch, der Klassenauftrag der NVA und der Grenztruppen lautete, den Frieden zu sichern und zu bewahren, nicht in den Krieg zu ziehen. Weder gegen Völker noch gegen einzelne Gesetzes- und Grenzverletzer. Wir hätten uns auch andere Regelungen an der Staatsgrenze vorstellen können.

Aber die DDR war in militärischer Hinsicht nicht souverän, wie dies weltweit kein Staat und keine Armee ist, die einem Bündnis angehört. Darauf werden wir auch noch zu sprechen kommen. Und zum Zweiten handelte es sich bei jener Demarkationslinie nicht um eine einfache Staatsgrenze, schon gar nicht wie es fälschlich und beschönigend heißt um eine »innerdeutsche Grenze«. Es war die Frontlinie zwischen den stärksten Militärpakten jener Zeit. Das war (und ist) weder vergleichbar mit dem 17. Breitengrad auf der koreanischen Halbinsel noch mit der befestigten Grenze zwischen den USA und Mexiko, mit der Grünen Linie zwischen Nord- und Südzypern (dem eigentlichen Zypern) oder zwischen Israel und Palästina.

Die Maßnahmen am 13. August 1961, auch das ist zu belegen, waren militärisch notwendig und politisch erforderlich. Das muss man nicht relativieren oder gar korrigieren. Worüber geredet werden kann: Weshalb gelang es nicht, diese Grenzsicherungsanlagen in der Folgezeit abzubauen? (Wie Erich Honecker bei seinem Staatsbesuch in der BRD meinte: dass diese Grenze so würde wie jene zwischen der DDR und Polen.) Aber auch daran waren wie schon 1961 zwei Seiten beteiligt. Nur von der einen Seite Selbstkritik einzufordern, wird dem komplexen Vorgang nicht gerecht. Die DDR hat jedoch, worüber ebenfalls berichtet werden wird, das ihr Mögliche zur Entspannung und zur Deeskalation des Konfliktes getan.

Man kann auch nicht behaupten, dass diese Grenze undurchlässig gewesen sei. In den achtziger Jahren beispielsweise reisten im Jahresdurchschnitt über zwei Millionen DDR-Bürger in den Westen und besuchten rund drei Millionen Bundesbürger die DDR. Dazu kamen noch fast zwei Millionen Westberliner.

Allein zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 1988 verzogen mit Genehmigung der zuständigen Behörden der DDR insgesamt 10255 Bürger »für ständig« in die BRD und nach Westberlin. Unter den Ausgereisten befanden sich 6643 Personen im arbeitsfähigen Alter und 1744 Kinder. Im ersten Halbjahr 1989 gingen gar 38917 für immer, darunter 27507 Personen im arbeitsfähigen Alter und 8977 Kinder.

Es ist aus verschiedenen Gründen ungehörig, auf die fünf Meter hohe und zehn Meter dicke Betonmauer zu verweisen, die über mehrere Hundert Kilometer die beiden Koreas teilt, wir mischen uns nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ein. Doch wir versagen uns den Hinweis an dieser Stelle nicht, dass nachdem sich im Jahre 2000 Entspannungserfolge zwischen Nord- und Südkorea abzeichneten erstmals seit Beginn des Krieges vor sechzig Jahren Verwandtenbesuche dort möglich waren. Daran sollen dem Vernehmen nach etwa vierhundert Koreaner beteiligt gewesen sein.

Wir wollen dies in keiner Form bewerten. Aber vielleicht helfen solche Zahlen und Hinweise, den Blick auf den 13. August 1961 und die Zeit danach ein wenig zu schärfen und in der Diskussion zu einer Versachlichung und Differenzierung zu kommen.

»Wo Emotionen den Verstand regieren, ist die objektive Analyse verabschiedet«1, schreibt der international renommierte Historiker Prof. Dr. Kurt Pätzold. Da ist ihm zuzustimmen.

Heinz Keßler und Fritz Streletz,

Berlin/Strausberg im Frühjahr 2011

Einstimmung: Die Lage in der DDR 1961

»Können Sie mich mitnehmen?« Walter Ulbricht ist autolos. Die Staatsratssitzung war kürzer ausgefallen als geplant, Ulbrichts Fahrer noch nicht da. Gerald Götting will in den CDU-Hauptvorstand, nicht nach Pankow, doch er sagt »Ja«. Von einem Christdemokraten erwarten auch Atheisten in der DDR christliche Nächstenliebe.

Vor wenigen Stunden erst ist der CDU-Generalsekretär aus Afrika zurückgekehrt. Zum zweiten Male hatte er Albert Schweitzer in Lambarene in Gabun besucht. Diesmal, um dem Friedensnobelpreisträger Schweitzer für sein Engagement die Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität zu Berlin zu überreichen. Der Urwaldarzt hatte überschwänglich reagiert, neben anderen Schriftstücken übergab er Götting auch einen persönlichen Brief an Walter Ulbricht. Die Maschine nach Europa war jedoch ohne den DDR-Politiker abgeflogen, da sie überbucht war. Die Nacht zum 13. August 1961 verbrachte Götting in Libreville auf einer harten Bank auf dem Flughafen, ehe er via Brazzaville doch noch einen Flug nach Paris bekam. Heute Morgen, am Dienstag, dem 15. August, hatte Götting Orly erreicht.

Bei seiner Ankunft in der französischen Hauptstadt war der stellvertretende DDR-Staatsratsvorsitzende bereits auf dem Flugfeld von einem aufgeregten Deutschen angesprochen worden. In Berlin tobe wahrscheinlich der Bürgerkrieg, haspelte er, das Ostberliner Regime habe versucht, Westberlin dichtzumachen. Er rate Götting dringend, in Paris zu bleiben und die weitere Entwicklung abzuwarten, er könne ihm aber auch bei der Weiterreise in die Bundesrepublik behilflich sein.

Götting erkundigte sich, ob Berlin weiterhin von den internationalen Luftfahrtgesellschaften angeflogen werde. Das wurde bestätigt. Der gebuchte Flug mit der LOT nach Berlin-Schönefeld werde planmäßig erfolgen, hieß es. »Na sehen Sie«, beruhigte Götting den westdeutschen Diplomaten. Er wolle erst einmal in Berlin nach dem Rechten schauen. Und wenn dort wirklich das Chaos herrsche, wie er meine, dann könne er ja noch immer auf sein freundliches Angebot zurückkommen.

In Schönefeld war Götting von Vizeaußenminister Sepp Schwab begrüßt und über die aktuelle Entwicklung unterrichtet worden. Dann fuhr er zur Sitzung des Staatsrates. Der aktuellen Zeitung entnahm Götting, dass auch er im Namen der CDU den Maßnahmen am 13. August zugestimmt habe.

Die Sitzung endete, wie gesagt, vor der Zeit. Die Anwesenden nahmen die Informationen des Vorsitzenden zur Kenntnis. Diskutiert wurde nicht. Beim Verlassen des Sitzungssaales stießen Ulbricht und Götting zusammen. Götting sprach ihn höflich wegen seiner angeblichen Unterschrift an. »Hören Sie, Herr Ulbricht, ich war doch gar nicht im Lande und habe auch nicht an der Sitzung mit den Vorsitzenden der Blockparteien teilgenommen. Wie konnte ich da zustimmen?«

Ulbricht blinzelte ihn durch die Brille an. »Hätten Sie etwa nicht zugestimmt?«

Götting nickte. Ja, doch, selbstverständlich.

»Na sehen Sie, dann ist doch alles in Ordnung, ja.« Ulbrichts Mundwinkel gingen nach oben …

Und nun sitzen sie beide nebeneinander in einem schweren sowjetischen Auto.

»Ach«, beginnt Ulbricht. »Da hat mir Chrusch­tschow ganz schön was eingebrockt.«2

Zu Beginn des Jahres 1961 befand sich die DDR in einer wirtschaftlichen Krise. Bonn hatte im September zum 31. Dezember 1960, also mehr als kurzfristig, das Handelsabkommen mit Berlin aufgekündigt. Alle Lieferungen an wichtigen Rohstoffen und Halbfabrikaten aus der Bundesrepublik sollten eingestellt werden. Damit, so sprach der Rheinische Merkur es am 9. Dezember 1960 aus, war die DDR an ihrer »empfindlichsten Stelle getroffen worden: der Wirtschaftsplanung«. Bonn spekulierte darauf, dass der Ausfall der westdeutschen Exporte »nicht kurzfristig durch Lieferungen aus anderen Ländern zu ersetzen war«, so das Blatt. Und genauso war es.

Am 30. November 1960 traf sich in dieser Sache Ulbricht mit Chrusch­tschow in Moskau, um die Konsequenzen zu erörtern und vor allem darüber zu reden, wie mit Hilfe der Sowjetunion die Lücken geschlossen werden könnten.

Der Sieg in diesem Gefecht des Kalten Krieges ging eindeutig an den Westen. Zwar wurde das Handelsabkommen mit der DDR in letzter Minute wieder in Kraft gesetzt, das absichtsvoll provozierte Chaos aber war dennoch eingetreten. Am 19. Januar 1961 schickte Ulbricht an den ersten Mann in Moskau einen mehrseitigen Hilferuf. Der stützte sich auf eine Analyse, die der Erste Sekretär am Tag zuvor im Politbüro vorgetragen hatte.

»Die Lage ist bei uns in diesem Jahr so kompliziert, dass wir ohne die Verwirklichung der in den November-Beratungen gegebenen [sowjetischen] Zusagen auf Lieferung der wichtigsten industriellen Rohstoffe […] überhaupt keine Grundlage für die Durchführung unserer wirtschaftlichen Aufgaben im Jahre 1961 haben. Es konnten aber nicht alle Fragen geklärt werden. So konnte bisher noch keine konkrete Vereinbarung über die Realisierung der bei den Verhandlungen gegebenen Lieferzusagen getroffen werden. Vor allen Dingen aber wurde noch keine Vereinbarung über die in der Beratung aufgeworfene Frage der Kreditgewährung erzielt.« 3

Moskau hatte zwar einiges versprochen, aber den Worten bislang nur wenig Taten folgen lassen. Nicht nur der erste Mann der DDR wusste, was das in der Systemauseinandersetzung und unter den Bedingungen der offenen Grenze bedeutete. »Damit bleiben wir 1961 weit unter dem zur Zeit in Westdeutschland erreichten Tempo der Produktionssteigerung. Der Abstand zum Lebensstandard Westdeutschlands wird weiterhin groß sein. Das heißt, dass wir die ökonomische Hauptaufgabe nicht lösen. Dabei müssen wir der Tatsache Rechnung tragen, dass das Schwierigkeiten im Innern schafft. Westdeutschland erhöhte die Löhne im Jahre 1960 um ca. 9 Prozent und führt die 5-Tage- bzw. 40-Stunden-Woche ein. Wir haben keine Voraussetzungen für Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen.« 4

Das hieß: Noch mehr Wirtschaftsflüchtlinge, die das Land Richtung Westen verlassen würden.

Das aktuelle Außenhandelsdefizit der DDR betrug 1,35 Milliarden Valuta-Mark. Angesichts heutiger Verbindlichkeiten ein geradezu lächerlicher Betrag. Für die DDR anno 1961 war er von existenzieller Bedeutung. Von diesen Verbindlichkeiten entfielen etwa 500 Millionen auf den Westen, rund 800 Millionen auf die UdSSR. Ulbricht wollte, dass die letztere Summe in einen brüderlichen Kredit umgewandelt würde, der erst ab 1966 getilgt werden sollte.

»Wir haben im Politbüro außerordentlich ernsthaft und gründlich nochmals alle Ausgangsbedingungen und Zusammenhänge geprüft. Wenn es nicht möglich ist, uns eine solche Kredithilfe zu geben, so werden wir das Lebensniveau der Bevölkerung des Jahres 1960 nicht halten können. Es würde in der Versorgung und in der Produktion eine so ernste Lage eintreten, dass wir vor ernsten Krisenerscheinungen stehen würden, denn dann müssten wir Importe von Stahl, Buntmetallen, Textilrohstoffen und Lebensmitteln senken und Waren, die für die Versorgung der Bevölkerung und für die Durchführung wichtiger Investitionen unbedingt benötigt werden, zusätzlich importieren.« 5

Ulbricht nannte im Weiteren die Ursachen für die wirtschaftliche Lage. Sie offenbaren die ganze Verlogenheit, die bis heute üblich ist, wenn man sich über die Mangelwirtschaft in der DDR und die Unzulänglichkeit des sozialistischen Wirtschaftssystems mokiert.

»Unsere wirtschaftliche Basis war von Anfang an sehr viel schwächer als die Westdeutschlands. In den ersten zehn Nachkriegsjahren leisteten wir Wiedergutmachung für ganz Deutschland durch Entnahme aus den bestehenden Anlagen und aus der laufenden Produktion. Westdeutschland hingegen leistete keine Wiedergutmachung aus der laufenden Produktion, sondern erhielt in der gleichen Zeit größere Kredite. Während wir in den ersten zehn Jahren nach Ende des Krieges Reparationen durch Entnahmen aus Produktionsanlagen und der laufenden Produktion aufbrachten und große Mittel aufwendeten, um die Produktion der Wismut 6 in Gang zu setzen und zu unterhalten, erhielt Westdeutschland schon wenige Jahre nach Kriegsschluss finanzielle Zuschüsse der USA in Höhe von vielen Milliarden DM. Wir haben aber alle Leistungen der Wiedergutmachung durch die DDR für politisch ­richtig und notwendig gehalten, um die durch den faschistischen Aggressionskrieg der Sowjetunion zugefügten Schäden mindern zu helfen und damit die Sowjetunion als das Zentrum des sozialistischen Lagers zu stärken.« 7

Ulbrichts Aussage macht den dialektischen Kontext sichtbar, in dem die deutschen Kommunisten der Nachkriegszeit aus Überzeugung agierten. Auf der einen Seite erwiesen sie sich als deutsche Patrioten – sie hatten nicht Hitlers Krieg inszeniert, sie hatten ihn nachweisbar entschieden bekämpft. Insofern konnten sie auch nicht für die von Hitlerdeutschland verursachten Kriegsschäden haftbar gemacht werden. Gleichwohl handelten sie in Verantwortung für die gesamte deutsche Nation. Sie nahmen die Konsequenzen an, die aus deutscher Schuld resultierten.

Zum anderen handelten diese deutschen Kommunisten auch als Internationalisten. Sie glaubten, die Sowjetunion wirtschaftlich und politisch als »Zentrum des sozialistischen Lagers« stärken zu müssen, weil alle Verbündeten und letztlich die Welt davon profitieren würden.

Das taten sie auch, obgleich sie sich der Folgen für die DDR durchaus bewusst waren, wie Ulbricht ausführte. »Die Entnahme aus unserer Produktionskapazität, aus der laufenden Produktion musste aber zu einer Schwächung unserer wirtschaftlichen Kraft führen, die lange Zeit unsere Lage gegenüber Westdeutschland erschwert und unsere ökonomische Entwicklung außerordentlich stark beeinträchtigt.

Westdeutschland konnte aber aufgrund der geleisteten Hilfe zu einem sehr frühen Zeitpunkt bereits große Investitionen durchführen und eine außerordentliche Modernisierung des Produktionsapparates erreichen. Bis zum Erlass der Reparationen 1954 waren die Investitionen in Westdeutschland pro Kopf der Bevölkerung doppelt so hoch wie bei uns. In den Jahren 1950–1959 zusammengenommen wurden pro Kopf der Bevölkerung Investitionen in Westdeutschland für 7400DM durchgeführt, während die ökonomische Kraft der DDR nur Investitionen pro Kopf der Bevölkerung in Höhe von 4650DM ermöglichte. Dabei setzte bei uns eine starke Investitionstätigkeit erst vom Jahre 1956 ein, d.h., dass wir einen wesentlich späteren Starttermin für die Modernisierung unserer Produktionskapazitäten hatten als Westdeutschland. Entsprechend unserer Bevölkerungszahl hätten wir im Vergleich zu Westdeutschland für fünfzig Milliarden Mark mehr investieren müssen.

Das ist der Hauptgrund dafür, dass wir in der Arbeitsproduktivität und im Lebensstandard so weit hinter Westdeutschland zurückgeblieben sind. Dadurch konnte ein ständiger politischer Druck auf uns von Westdeutschland ausgeübt werden.

Die Entwicklung in Westdeutschland, die für jeden Einwohner der DDR sichtbar war, ist der Hauptgrund, dass im Verlaufe von zehn Jahren rund zwei Millionen Menschen unsere Republik verlassen haben.« 8