Loe raamatut: «Hamburgische Dramaturgie»

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Ankuendigung

Es wird sich leicht erraten lassen, dass die neue Verwaltung des hiesigen Theaters die Veranlassung des gegenwaertigen Blattes ist.

Der Endzweck desselben soll den guten Absichten entsprechen, welche man den Maennern, die sich dieser Verwaltung unterziehen wollen, nicht anders als beimessen kann. Sie haben sich selbst hinlaenglich darueber erklaert, und ihre Aeusserungen sind, sowohl hier, als auswaerts, von dem feinern Teile des Publikums mit dem Beifalle aufgenommen worden, den jede freiwillige Befoerderung des allgemeinen Besten verdienet und zu unsern Zeiten sich versprechen darf.

Freilich gibt es immer und ueberall Leute, die, weil sie sich selbst am besten kennen, bei jedem guten Unternehmen nichts als Nebenabsichten erblicken. Man koennte ihnen diese Beruhigung ihrer selbst gern goennen; aber, wenn die vermeinten Nebenabsichten sie wider die Sache selbst aufbringen; wenn ihr haemischer Neid, um jene zu vereiteln, auch diese scheitern zu lassen bemueht ist: so muessen sie wissen, dass sie die verachtungswuerdigsten Glieder der menschlichen Gesellschaft sind.

Gluecklich der Ort, wo diese Elenden den Ton nicht angeben; wo die groessere Anzahl wohlgesinnter Buerger sie in den Schranken der Ehrerbietung haelt und nicht verstattet, dass das Bessere des Ganzen ein Raub ihrer Kabalen, und patriotische Absichten ein Vorwurf ihres spoettischen Aberwitzes werden!

So gluecklich sei Hamburg in allem, woran seinem Woh1stande und seiner Freiheit gelegen: denn es verdienet, so gluecklich zu sein!

Als Schlegel, zur Aufnahme des daenischen Theaters,—(ein deutscher Dichter des daenischen Theaters!)—Vorschlaege tat, von welchen es Deutschland noch lange zum Vorwurfe gereichen wird, dass ihm keine Gelegenheit gemacht worden, sie zur Aufnahme des unsrigen zu tun: war dieses der erste und vornehmste, "dass man den Schauspielern selbst die Sorge nicht ueberlassen muesse, fuer ihren Verlust und Gewinst zu arbeiten".1 Die Prinzipalschaft unter ihnen hat eine freie Kunst zu einem Handwerke herabgesetzt, welches der Meister mehrenteils desto nachlaessiger und eigennuetziger treiben laesst, je gewissere Kunden, je mehrere Abnehmer ihm Notdurft oder Luxus versprechen.

Wenn hier also bis itzt auch weiter noch nichts geschehen waere, als dass eine Gesellschaft von Freunden der Buehne Hand an das Werk gelegt und, nach einem gemeinnuetzigen Plane arbeiten zu lassen, sich verbunden haette: so waere dennoch, bloss dadurch, schon viel gewonnen. Denn aus dieser ersten Veraenderung koennen, auch bei einer nur maessigen Beguenstigung des Publikums, leicht und geschwind alle andere Verbesserungen erwachsen, deren unser Theater bedarf.

An Fleiss und Kosten wird sicherlich nichts gesparet werden: ob es an Geschmack und Einsicht fehlen duerfte, muss die Zeit lehren. Und hat es nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es hierin mangelhaft finden sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und hoere, und pruefe und richte. Seine Stimme soll nie geringschaetzig verhoeret, sein Urteil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden!

Nur dass sich nicht jeder kleine Kritikaster fuer das Publikum halte, und derjenige, dessen Erwartungen getaeuscht werden, auch ein wenig mit sich selbst zu Rate gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht jeder Liebhaber ist Kenner; nicht jeder, der die Schoenheiten eines Stuecks, das richtige Spiel eines Akteurs empfindet, kann darum auch den Wert aller andern schaetzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich ueber Schoenheiten von jeder Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnuegen und Entzuecken erwartet, als sie nach ihrer Art gewaehren kann.

Der Stufen sind viel, die eine werdende Buehne bis zum Gipfel der Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Buehne ist von dieser Hoehe, natuerlicherweise, noch weiter entfernt: und ich fuerchte sehr, dass die deutsche mehr dieses als jenes ist.

Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste, der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer geschwinder, als der ohne Ziel herumirret.

Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzufuehrenden Stuecken halten und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird. Die Wahl der Stuecke ist keine Kleinigkeit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn nicht immer Meisterstuecke aufgefuehret werden sollten, so sieht man wohl, woran die Schuld liegt. Indes ist es gut, wenn das Mittelmaessige fuer nichts mehr ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens daran urteilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinanderzusetzen, warum ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmaessige Stuecke muessen auch schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzuegliche Rollen haben, in welchen der oder jener Akteur seine ganze Staerke zeigen kann. So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition, weil der Text dazu elend ist.

Die groesste Feinheit eines dramatischen Richters zeiget sich darin, wenn er in jedem Falle des Vergnuegens und Missvergnuegens unfehlbar zu unterscheiden weiss, was und wieviel davon auf die Rechnung des Dichters, oder des Schauspielers, zu setzen sei. Den einen um etwas tadeln, was der andere versehen hat, heisst beide verderben. Jenem wird der Mut benommen, und dieser wird sicher gemacht.

Besonders darf es der Schauspieler verlangen, dass man hierin die groesste Strenge und Unparteilichkeit beobachte. Die Rechtfertigung des Dichters kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und kann uns immer wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat.

Eine schoene Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge, die sich nicht wohl mit Worten ausdruecken lassen. Doch sind es auch weder die einzigen noch groessten Vollkommenheiten des Schauspielers. Schaetzbare Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr noetig, aber noch lange nicht seinen Beruf erfuellend! Er muss ueberall mit dem Dichter denken; er muss da, wo dem Dichter etwas Menschliches widerfahren ist, fuer ihn denken.

Man hat allen Grund, haeufige Beispiele hiervon sich von unsern Schauspielern zu versprechen.—Doch ich will die Erwartung des Publikums nicht hoeher stimmen. Beide schaden sich selbst: der zu viel verspricht, und der zu viel erwartet.

Heute geschieht die Eroeffnung der Buehne. Sie wird viel entscheiden; sie muss aber nicht alles entscheiden sollen. In den ersten Tagen werden sich die Urteile ziemlich durchkreuzen. Es wuerde Muehe kosten, ein ruhiges Gehoer zu erlangen.—Das erste Blatt dieser Schrift soll daher nicht eher als mit dem Anfange des kuenftigen Monats erscheinen.

Hamburg, den 22. April 1767.

Erster Band

Erstes Stueck Den 1. Mai 1767

Das Theater ist den 22. vorigen Monats mit dem Trauerspiele: "Olint und Sophronia" gluecklich eroeffnet worden. Ohne Zweifel wollte man gern mit einem deutschen Originale anfangen, welches hier noch den Reiz der Neuheit habe. Der innere Wert dieses Stueckes konnte auf eine solche Ehre keinen Anspruch machen. Die Wahl waere zu tadeln, wenn sich zeigen liesse, dass man eine viel bessere haette treffen koennen.

"Olint und Sophronia" ist das Werk eines jungen Dichters, und sein unvollendet hinterlassenes Werk. Cronegk starb allerdings fuer unsere Buehne zu frueh; aber eigentlich gruendet sich sein Ruhm mehr auf das was er, nach dem Urteile seiner Freunde, fuer dieselbe noch haette leisten koennen, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, haette in seinem sechsundzwanzigsten Jahre sterben koennen, ohne die Kritik ueber seine wahren Talente nicht ebenso zweifelhaft zu lassen?

Der Stoff ist die bekannte Episode beim Tasso. Eine kleine ruehrende Erzaehlung in ein ruehrendes Drama umzuschaffen, ist so leicht nicht. Zwar kostet es wenig Muehe, neue Verwickelungen zu erdenken und einzelne Empfindungen in Szenen auszudehnen. Aber zu verhueten wissen, dass diese neue Verwickelungen weder das Interesse schwaechen, noch der Wahrscheinlichkeit Eintrag tun; sich aus dem Gesichtspunkte des Erzaehlers in den wahren Standort einer jeden Person versetzen koennen; die Leidenschaften nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen und ohne Sprung in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, dass dieser sympathisieren muss, er mag wollen oder nicht: das ist es, was dazu noetig ist; was das Genie, ohne es zu wissen, ohne es sich langweilig zu erklaeren, tut, und was der bloss witzige Kopf nachzumachen, vergebens sich martert.

Tasso scheinet in seinem Olint und Sophronia den Virgil in seinem Nisus und Euryalus vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in diesen die Staerke der Freundschaft geschildert hatte, wollte Tasso in jenen die Staerke der Liebe schildern. Dort war es heldenmuetiger Diensteifer, der die Probe der Freundschaft veranlasste: hier ist es die Religion, welche der Liebe Gelegenheit gibt, sich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die Religion, welche bei dem Tasso nur das Mittel ist, wodurch er die Liebe so wirksam zeiget, ist in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden. Er wollte den Triumph dieser in den Triumph jener veredeln. Gewiss, eine fromme Verbesserung—weiter aber auch nichts, als fromm! Denn sie hat ihn verleitet, was bei dem Tasso so simpel und natuerlich, so wahr und menschlich ist, so verwickelt und romanenhaft, so wunderbar und himmlisch zu machen, dass nichts darueber!

Beim Tasso ist es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Christ noch Mahomedaner ist, sondern sich aus beiden Religionen einen eigenen Aberglauben zusammengesponnen hat, welcher dem Aladin den Rat gibt, das wundertaetige Marienbild aus dem Tempel in die Moschee zu bringen. Warum machte Cronegk aus diesem Zauberer einen mahomedanischen Priester? Wenn dieser Priester in seiner Religion nicht ebenso unwissend war, als es der Dichter zu sein scheinet, so konnte er einen solchen Rat unmoeglich geben. Sie duldet durchaus keine Bilder in ihren Moscheen. Cronegk verraet sich in mehrern Stuecken, dass ihm eine sehr unrichtige Vorstellung von dem mahomedanischen Glauben beigewohnet. Der groebste Fehler aber ist, dass er eine Religion ueberall des Polytheismus schuldig macht, die fast mehr als jede andere auf die Einheit Gottes dringet. Die Moschee heisst ihm "ein Sitz der falschen Goetter", und den Priester selbst laesst er ausrufen:

"So wollt ihr euch noch nicht mit Rach' und Strafe ruesten, Ihr Goetter?

Blitzt, vertilgt das freche Volk der Christen!"

Der sorgsame Schauspieler hat in seiner Tracht das Kostuem, vom Scheitel bis zur Zehe, genau zu beobachten gesucht; und er muss solche Ungereimtheiten sagen!

Beim Tasso koemmt das Marienbild aus der Moschee weg, ohne dass man eigentlich weiss, ob es von Menschenhaenden entwendet worden, oder ob eine hoehere Macht dabei im Spiele gewesen. Cronegk macht den Olint zum Taeter. Zwar verwandelt er das Marienbild in "ein Bild des Herrn am Kreuz"; aber Bild ist Bild, und dieser armselige Aberglaube gibt dem Olint eine sehr veraechtliche Seite. Man kann ihm unmoeglich wieder gut werden, dass er es wagen koennen, durch eine so kleine Tat sein Volk an den Rand des Verderbens zu stellen. Wenn er sich hernach freiwillig dazu bekennet: so ist es nichts mehr als Schuldigkeit, und keine Grossmut. Beim Tasso laesst ihn bloss die Liebe diesen Schritt tun; er will Sophronien retten, oder mit ihr sterben; mit ihr sterben, bloss um mit ihr zu sterben; kann er mit ihr nicht ein Bette besteigen, so sei es ein Scheiterhaufen; an ihrer Seite, an den naemlichen Pfahl gebunden, bestimmt, von dem naemlichen Feuer verzehret zu werden, empfindet er bloss das Glueck einer so suessen Nachbarschaft, denket an nichts, was er jenseit dem Grabe zu hoffen habe, und wuenschet nichts, als dass diese Nachbarschaft noch enger und vertrauter sein moege, dass er Brust gegen Brust druecken und auf ihren Lippen seinen Geist verhauchen duerfe.

Dieser vortreffliche Kontrast zwischen einer lieben, ruhigen, ganz geistigen Schwaermerin und einem hitzigen, begierigen Juenglinge ist beim Cronegk voellig verloren. Sie sind beide von der kaeltesten Einfoermigkeit; beide haben nichts als das Maertertum im Kopfe; und nicht genug, dass er, dass sie fuer die Religion sterben wollen; auch Evander wollte, auch Serena haette nicht uebel Lust dazu.

Ich will hier eine doppelte Anmerkung machen, welche, wohl behalten, einen angehenden tragischen Dichter vor grossen Fehltritten bewahren kann. Die eine betrifft das Trauerspiel ueberhaupt. Wenn heldenmuetige Gesinnungen Bewunderung erregen sollen: so muss der Dichter nicht zu verschwenderisch damit umgehen; denn was man oefters, was man an mehrern sieht, hoeret man auf zu bewundern. Hierwider hatte sich Cronegk schon in seinem "Kodrus" sehr versuendiget. Die Liebe des Vaterlandes, bis zum freiwilligen Tode fuer dasselbe, haette den Kodrus allein auszeichnen sollen: er haette als ein einzelnes Wesen einer ganz besondern Art dastehen muessen, um den Eindruck zu machen, welchen der Dichter mit ihm im Sinne hatte. Aber Elesinde und Philaide, und Medon, und wer nicht? sind alle gleich bereit, ihr Leben dem Vaterlande aufzuopfern; unsere Bewunderung wird geteilt, und Kodrus verlieret sich unter der Menge. So auch hier. Was in "Olint und Sophronia" Christ ist, das alles haelt gemartert werden und sterben fuer ein Glas Wasser trinken. Wir hoeren diese frommen Bravaden so oft, aus so verschiedenem Munde, dass sie alle Wirkung verlieren.

Die zweite Anmerkung betrifft das christliche Trauerspiel insbesondere. Die Helden desselben sind mehrenteils Maertyrer. Nun leben wir zu einer Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallet, als dass jeder Rasender, der sich mutwillig, ohne alle Not, mit Verachtung aller seiner buergerlichen Obliegenheiten in den Tod stuerzet, den Titel eines Maertyrers sich anmassen duerfte. Wir wissen itzt zu wohl die falschen Maertyrer von den wahren zu unterscheiden; wir verachten jene ebensosehr, als wir diese verehren, und hoechstens koennen sie uns eine melancholische Traene ueber die Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir die Menschheit ueberhaupt in ihnen faehig erblicken. Doch diese Traene ist keine von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will. Wenn daher der Dichter einen Maertyrer zu seinem Helden waehlet: dass er ihm ja die lautersten und triftigsten Bewegungsgruende gebe! dass er ihn ja in die unumgaengliche Notwendigkeit setze, den Schritt zu tun, durch den er sich der Gefahr blossstellet! dass er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen, nicht hoehnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter leiden. Ich habe schon beruehret, dass es nur ein ebenso nichtswuerdiger Aberglaube sein konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verachten, welcher den Olint antrieb, das Bild aus der Moschee wieder zu entwenden. Es entschuldiget den Dichter nicht, dass es Zeiten gegeben, wo ein solcher Aberglaube allgemein war und bei vielen guten Eigenschaften bestehen konnte; dass es noch Laender gibt, wo er der frommen Einfalt nichts Befremdendes haben wuerde. Denn er schrieb sein Trauerspiel ebensowenig fuer jene Zeiten, als er es bestimmte, in Boehmen oder Spanien gespielt zu werden. Der gute Schriftsteller, er sei von welcher Gattung er wolle, wenn er nicht bloss schreibet, seinen Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen, hat immer die Erleuchtesten und Besten seiner Zeit und seines Landes in Augen, und nur was diesen gefallen, was diese ruehren kann, wuerdiget er zu schreiben. Selbst der dramatische, wenn er sich zu dem Poebel herablaesst, laesst sich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern; nicht aber ihn in seinen Vorurteilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart zu bestaerken.

Zweites Stueck Den 5. Mai 1767

Noch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel betreffend, wuerde ueber die Bekehrung der Clorinde zu machen sein. So ueberzeugt wir auch immer von den unmittelbaren Wirkungen der Gnade sein moegen, so wenig koennen sie uns doch auf dem Theater gefallen, wo alles, was zu dem Charakter der Personen gehoeret, aus den natuerlichsten Ursachen entspringen muss. Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in der moralischen muss alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das Theater die Schule der moralischen Welt sein soll. Die Bewegungsgruende zu jedem Entschlusse, zu jeder Aenderung der geringsten Gedanken und Meinungen, muessen, nach Massgebung des einmal angenommenen Charakters, genau gegeneinander abgewogen sein, und jene muessen nie mehr hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervorbringen koennen. Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Schoenheiten des Detail, ueber Missverhaeltnisse dieser Art zu taeuschen; aber er taeuscht uns nur einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beifall, den er uns abgetaeuschet hat, zurueck. Dieses auf die vierte Szene des dritten Akts angewendet, wird man finden, dass die Reden und das Betragen der Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden haetten bewegen koennen, aber viel zu unvermoegend sind, Bekehrung an einer Person zu wirken, die gar keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beim Tasso nimmt Clorinde auch das Christentum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie kurz zuvor erfahren, dass ihre Eltern diesem Glauben zugetan gewesen: feine, erhebliche Umstaende, durch welche die Wirkung einer hoehern Macht in die Reihe natuerlicher Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand hat es besser verstanden, wie weit man in diesem Stuecke auf dem Theater gehen duerfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des Zamor, durch Beispiel und Bitten, durch Grossmut und Ermahnungen bestuermet und bis in das Innerste erschuettert worden, laesst er ihn doch die Wahrheit der Religion, an deren Bekennern er so viel Grosses sieht, mehr vermuten, als glauben. Und vielleicht wuerde Voltaire auch diese Vermutung unterdrueckt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zuschauers etwas haette geschehen muessen.

Selbst der "Polyeukt" des Corneille ist, in Absicht auf beide Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer mehr geworden sind, so duerfte die erste Tragoedie, die den Namen einer christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten sein. Ich meine ein Stueck, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessierst.—Ist ein solches Stueck aber auch wohl moeglich? Ist der Charakter des wahren Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die stille Gelassenheit, die unveraenderliche Sanftmut, die seine wesentlichsten Zuege sind, mit dem ganzen Geschaefte der Tragoedie, welches Leidenschaften durch Leidenschaften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht etwa seine Erwartung einer belohnenden Glueckseligkeit nach diesem Leben der Uneigennuetzigkeit, mit welcher wir alle grosse und gute Handlungen auf der Buehne unternommen und vollzogen zu sehen wuenschen?

Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann, wieviel Schwierigkeiten es zu uebersteigen vermag, diese Bedenklichkeiten unwidersprechlich widerlegt, waere also mein Rat:—man liesse alle bisherige christliche Trauerspiele unaufgefuehret. Dieser Rat, welcher aus den Beduerfnissen der Kunst hergenommen ist, welcher uns um weiter nichts als sehr mittelmaessige Stuecke bringen kann, ist darum nichts schlechter, weil er den schwaechern Gemuetern zustatten koemmt, die, ich weiss nicht welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an einer heiligern Staette gefasst machen, im Theater zu hoeren bekommen. Das Theater soll niemanden, wer es auch sei, Anstoss geben; und ich wuenschte, dass es auch allem genommenen Anstosse vorbeugen koennte und wollte.

Cronegk hatte sein Stueck nur bis gegen das Ende des vierten Aufzuges gebracht. Das uebrige hat eine Feder in Wien dazugefueget; eine Feder —denn die Arbeit eines Kopfes ist dabei nicht sehr sichtbar. Der Ergaenzer hat, allem Ansehen nach, die Geschichte ganz anders geendet, als sie Cronegk zu enden willens gewesen. Der Tod loeset alle Verwirrungen am besten; darum laesst er beide sterben, den Olint und die Sophronia. Beim Tasso kommen sie beide davon; denn Clorinde nimmt sich mit der uneigennuetzigsten Grossmut ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt gemacht, und da war es freilich schwer zu erraten, wie er zwei Nebenbuhlerinnen auseinander setzen wollen, ohne den Tod zu Hilfe zu rufen. In einem andern noch schlechtern Trauerspiele, wo eine von den Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen Nachbar: "Aber woran stirbt sie denn?"—"Woran? am fuenften Akte!" antwortete dieser. In Wahrheit; der fuenfte Akt ist eine garstige boese Staupe, die manchen hinreisst, dem die ersten vier Akte ein weit laengeres Leben versprachen.—

Doch ich will mich in die Kritik des Stueckes nicht tiefer einlassen. So mittelmaessig es ist, so ausnehmend ist es vorgestellet worden. Ich schweige von der aeusseren Pracht; denn diese Verbesserung unsers Theaters erfordert nichts als Geld. Die Kuenste, deren Hilfe dazu noetig ist, sind bei uns in eben der Vollkommenheit als in jedem andern Lande; nur die Kuenstler wollen ebenso bezahlt sein, wie in jedem andern Lande.

Man muss mit der Vorstellung eines Stueckes zufrieden sein, wenn unter vier, fuenf Personen einige vortrefflich und die andern gut gespielet haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfaenger oder sonst ein Notnagel so sehr beleidiget, dass er ueber das Ganze die Nase ruempft, der reise nach Utopien und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer ein Garrick ist.

Herr Ekhof war Evander; Evander ist zwar der Vater des Olints, aber im Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indes mag dieser Mann eine Rolle machen, welche er will; man erkennet ihn in der kleinsten noch immer fuer den ersten Akteur und bedauert, auch nicht zugleich alle uebrige Rollen von ihm sehen zu koennen. Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses, dass er Sittensprueche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer Innigkeit zu sagen weiss, dass das Trivia1ste von dieser Art in seinem Munde Neuheit und Wuerde, das Frostigste Feuer und Leben erhaelt.

Die eingestreuten Moralen sind Cronegks beste Seite. Er hat, in seinem "Kodrus" und hier, so manche in einer so schoenen nachdruecklichen Kuerze ausgedrueckt, dass viele von seinen Versen als Sentenzen behalten und von dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit aufgenommen zu werden verdienen. Leider sucht er uns nur auch oefters gefaerbtes Glas fuer Ede1steine, und witzige Antithesen fuer gesunden Verstand einzuschwatzen. Zwei dergleichen Zeilen, in dem ersten Akte, hatten eine besondere Wirkung auf mich. Die eine,

"Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht."

Die andere,

"Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Boesewicht."

Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allgemeine Bewegung, und dasjenige Gemurmel zu bemerken, durch welches sich der Beifall ausdrueckt, wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gaenzlich ausbrechen laesst. Teils dachte ich: Vortrefflich! man liebt hier die Moral; dieses Parterre findet Geschmack an Maximen; auf dieser Buehne koennte sich ein Euripides Ruhm erwerben, und ein Sokrates wuerde sie gern besuchen. Teils fiel es mir zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstoessig diese vermeinten Maximen waeren, und ich wuenschte sehr, dass die Missbilligung an jenem Gemurmle den meisten Anteil moege gehabt haben. Es ist nur ein Athen gewesen, es wird nur ein Athen bleiben, wo auch bei dem Poebel das sittliche Gefuehl so fein, so zaertlich war, dass einer unlautern Moral wegen Schauspieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater herabgestuermet zu werden! Ich weiss wohl, die Gesinnungen muessen in dem Drama dem angenommenen Charakter der Person, welche sie aeussert, entsprechen; sie koennen also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen muessen, dass dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht anders als so habe urteilen koennen. Aber auch diese poetische Wahrheit muss sich, auf einer andern Seite, der absoluten wiederum naehern, und der Dichter muss nie so unphilosophisch denken, dass er annimmt, ein Mensch koenne das Boese, um des Boesen wegen, wollen, er koenne nach lasterhaften Grundsaetzen handeln, das Lasterhafte derselben erkennen und doch gegen sich und andere damit prahlen. Ein solcher Mensch ist ein Unding, so graesslich als ununterrichtend, und nichts als die armselige Zuflucht eines schalen Kopfes, der schimmernde Tiraden fuer die hoechste Schoenheit des Trauerspieles haelt. Wenn Ismenor ein grausamer Priester ist, sind darum alle Priester Ismenors? Man wende nicht ein, dass von Priestern einer falschen Religion die Rede sei. So falsch war noch keine in der Welt, dass ihre Lehrer notwendig Unmenschen sein muessen. Priester haben in den falschen Religionen, so wie in der wahren, Unheil gestiftet, aber nicht weil sie Priester, sondern weil sie Boesewichter waren, die, zum Behuf ihrer schlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines jeden andern Standes gemissbraucht haetten.

Wenn die Buehne so unbesonnene Urteile ueber die Priester ueberhaupt ertoenen laesst, was Wunder, wenn sich auch unter diesen Unbesonnene finden, die sie als die grade Heerstrasse zur Hoelle ausschreien?

Aber ich verfalle wiederum in die Kritik des Stueckes, und ich wollte von dem Schauspieler sprechen.

1."Werke", dritter Teil, S. 252."
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30 september 2018
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