Loe raamatut: «Hamburgische Dramaturgie», lehekülg 3

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Sechstes Stueck Den 19. Mai 1767

Noch habe ich der Anreden an die Zuschauer, vor und nach dem grossen Stuecke des ersten Abends, nicht gedacht. Sie schreiben sich von einem Dichter her, der es mehr als irgendein anderer versteht, tiefsinnigen Verstand mit Witz aufzuheitern, und nachdenklichem Ernste die gefaellige Miene des Scherzes zu geben. Womit koennte ich diese Blaetter besser auszieren, als wenn ich sie meinen Lesern ganz mitteile? Hier sind sie.

Sie beduerfen keines Kommentars. Ich wuensche nur, dass manches darin nicht in den Wind gesagt sei!

Sie wurden beide ungemein wohl, die erstere mit alle dem Anstande und der Wuerde, und die andere mit alle der Waerme und Feinheit und einschmeichelnden Verbindlichkeit gesprochen, die der besondere Inhalt einer jeden erfoderte.

Prolog
(Gesprochen von Madame Loewen)
 
    Ihr Freunde, denen hier das mannigfache Spiel
    Des Menschen in der Kunst der Nachahmung gefiel:
    Ihr, die ihr gerne weint, ihr weichen, bessern Seelen,
    Wie schoen, wie edel ist die Lust, sich so zu quaelen;
    Wenn bald die suesse Traen', indem das Herz erweicht,
    In Zaertlichkeit zerschmilzt, still von den Wangen schleicht,
    Bald die bestuermte Seel', in jeder Nerv' erschuettert,
    Im Leiden Wollust fuehlt und mit Vergnuegen zittert!
    O sagt, ist diese Kunst, die so eur Herz zerschmelzt,
    Der Leidenschaften Strom so durch eur Inners waelzt,
    Vergnuegend, wenn sie ruehrt, entzueckend, wenn sie schrecket,
    Zu Mitleid, Menschenlieb' und Edelmut erwecket,
    Die Sittenbilderin, die jede Tugend lehrt,
    Ist die nicht eurer Gunst und eurer Pflege wert?
    Die Fuersicht sendet sie mitleidig auf die Erde,
    Zum Besten des Barbars, damit er menschlich werde;
    Weiht sie, die Lehrerin der Koenige zu sein,
    Mit Wuerde, mit Genie, mit Feur vom Himmel ein;
    Heisst sie, mit ihrer Macht, durch Traenen zu ergoetzen,
    Das stumpfeste Gefuehl der Menschenliebe wetzen;
    Durch suesse Herzensangst, und angenehmes Graun
    Die Bosheit baendigen und an den Seelen baun;
    Wohltaetig fuer den Staat, den Wuetenden, den Wilden
    Zum Menschen, Buerger, Freund und Patrioten bilden.
    Gesetze staerken zwar der Staaten Sicherheit
    Als Ketten an der Hand der Ungerechtigkeit;
    Doch deckt noch immer List den Boesen vor dem Richter,
    Und Macht wird oft der Schutz erhabner Boesewichter.
    Wer raecht die Unschuld dann? Weh dem gedrueckten Staat,
    Der, statt der Tugend, nichts als ein Gesetzbuch hat!
    Gesetze, nur ein Zaum der offenen Verbrechen,
    Gesetze, die man lehrt des Hasses Urteil sprechen,
    Wenn ihnen Eigennutz, Stolz und Parteilichkeit
    Fuer eines Solons Geist den Geist der Drueckung leiht!
    Da lernt Bestechung bald, um Strafen zu entgehen,
    Das Schwert der Majestaet aus ihren Haenden drehen:
    Da pflanzet Herrschbegier, sich freuend des Verfalls
    Der Redlichkeit, den Fuss der Freiheit auf den Hals.
    Laesst den, der sie vertritt, in Schimpf und Banden schmachten,
    Und das blutschuld'ge Beil der Themis Unschuld schlachten!
    Wenn der, den kein Gesetz straft oder strafen kann,
    Der schlaue Boesewicht, der blutige Tyrann,
    Wenn der die Unschuld drueckt, wer wagt es, sie zu decken?
    Den sichert tiefe List, und diesen waffnet Schrecken.
    Wer ist ihr Genius, der sich entgegenlegt?—
    Wer? Sie, die itzt den Dolch, und itzt die Geissel traegt,
    Die unerschrockne Kunst, die allen Missgestalten
    Strafloser Torheit wagt den Spiegel vorzuhalten;
    Die das Geweb' enthuellt, worin sich List verspinnt,
    Und den Tyrannen sagt, dass sie Tyrannen sind;
    Die, ohne Menschenfurcht, vor Thronen nicht erbloedet,
    Und mit des Donners Stimm' ans Herz der Fuersten redet;
    Gekroente Moerder schreckt, den Ehrgeiz nuechtern macht,
    Den Heuchler zuechtiget und Toren klueger lacht;
    Sie, die zum Unterricht die Toten laesst erscheinen,
    Die grosse Kunst, mit der wir lachen, oder weinen.
    Sie fand in Griechenland Schutz, Lieb' und Lehrbegier;
    In Rom, in Gallien, in Albion, und—hier.
    Ihr, Freunde, habt hier oft, wenn ihre Traenen flossen,
    Mit edler Weichlichkeit die euren mit vergossen;
    Habt redlich euren Schmerz mit ihrem Schmerz vereint
    Und ihr aus voller Brust den Beifall zugeweint:
    Wie sie gehasst, geliebt, gehoffet und gescheuet
    Und eurer Menschlichkeit im Leiden euch erfreuet.
    Lang hat sie sich umsonst nach Buehnen umgesehn:
    In Hamburg fand sie Schutz: hier sei denn ihr Athen!
    Hier, in dem Schoss der Ruh', im Schutze weiser Goenner,
    Gemutiget durch Lob, vollendet durch den Kenner;
    Hier reifet—ja ich wuensch', ich hoff', ich weissag' es!—
    Ein zweiter Roscius, ein zweiter Sophokles,
    Der Graeciens Kothurn Germanien erneute:
    Und ein Teil dieses Ruhms, ihr Goenner, wird der eure.
    O seid desselben wert! Bleibt eurer Guete gleich,
    Und denkt, o denkt daran, ganz Deutschland sieht auf euch!
 
Epilog
(Gesprochen von Madame Hensel)
 
    Seht hier! so standhaft stirbt der ueberzeugte Christ!
    So lieblos hasset der, dem Irrtum nuetzlich ist,
    Der Barbarei bedarf, damit er seine Sache,
    Sein Ansehn, seinen Traum zu Lehren Gottes mache.
    Der Geist des Irrtums war Verfolgung und Gewalt,
    Wo Blindheit fuer Verdienst, und Furcht fuer Andacht galt.
    So konnt' er sein Gespinst von Luegen mit den Blitzen
    Der Majestaet, mit Gift, mit Meuchelmord beschuetzen.
    Wo Ueberzeugung fehlt, macht Furcht den Mangel gut:
    Die Wahrheit ueberfuehrt, der Irrtum fodert Blut.
    Verfolgen muss man die und mit dem Schwert bekehren,
    Die anders Glaubens sind, als die Ismenors lehren.
    Und mancher Aladin sieht staatsklug oder schwach
    Dem schwarzen Blutgericht der heil'gen Moerder nach
    Und muss mit seinem Schwert den, welchen Traeumer hassen,
    Den Freund, den Maertyrer der Wahrheit wuergen lassen.
    Abscheulichs Meisterstueck der Herrschsucht und der List,
    Wofuer kein Name hart, kein Schimpfwort lieblos ist!
    O Lehre, die erlaubt, die Gottheit selbst missbrauchen,
    In ein unschuldig Herz des Hasses Dolch zu tauchen,
    Dich, die ihr Blutpanier oft ueber Leichen trug,
    Dich, Greuel, zu verschmaehn, wer leiht mir einen Fluch!
    Ihr Freund', in deren Brust der Menschheit edle Stimme
    Laut fuer die Heldin sprach, als sie dem Priestergrimme
    Ein schuldlos Opfer ward und fuer die Wahrheit sank:
    Habt Dank fuer dies Gefuehl, fuer jede Traene Dank!
    Wer irrt, verdient nicht Zucht des Hasses oder Spottes:
    Was Menschen hassen lehrt, ist keine Lehre Gottes!
    Ach! liebt die Irrenden, die ohne Bosheit blind,
    Zwar schwaechere vielleicht, doch immer Menschen sind.
    Belehret, duldet sie; und zwingt nicht die zu Traenen,
    Die sonst kein Vorwurf trifft, als dass sie anders waehnen!
    Rechtschaffen ist der Mann, den, seinem Glauben treu,
    Nichts zur Verstellung zwingt, zu boeser Heuchelei;
    Der fuer die Wahrheit glueht und, nie durch Furcht gezuegelt,
    Sie freudig, wie Olint, mit seinem Blut versiegelt.
    Solch Beispiel, edle Freund', ist eures Beifalls wert:
    O wohl uns! haetten wir, was Cronegk schoen gelehrt,
    Gedanken, die ihn selbst so sehr veredelt haben,
    Durch unsre Vorstellung tief in eur Herz gegraben!
    Des Dichters Leben war schoen, wie sein Nachruhm ist;
    Er war, und—o verzeiht die Traen'!—und starb, ein Christ.
    Liess sein vortrefflich Herz der Nachwelt in Gedichten,
    Um sie—was kann man mehr?—noch tot zu unterrichten.
    Versaget, hat euch itzt Sophronia geruehrt,
    Denn seiner Asche nicht, was ihr mit Recht gebuehrt,
    Den Seufzer, dass er starb, den Dank fuer seine Lehre,
    Und—ach! den traurigen Tribut von einer Zaehre.
    Uns aber, edle Freund', ermuntre Guetigkeit;
    Und haetten wir gefehlt, so tadelt; doch verzeiht.
    Verzeihung mutiget zu edelerm Erkuehnen,
    Und feiner Tadel lehrt das hoechste Lob verdienen.
    Bedenkt, dass unter uns die Kunst nur kaum beginnt,
    In welcher tausend Quins fuer einen Garrick sind;
    Erwartet nicht zu viel, damit wir immer steigen,
    Und—doch nur euch gebuehrt zu richten, uns zu schweigen.
 

Siebentes Stueck Den 22. Mai 1767

Der Prolog zeiget das Schauspiel in seiner hoechsten Wuerde, indem er es als das Supplement der Gesetze betrachten laesst. Es gibt Dinge in dem sittlichen Betragen des Menschen, welche, in Ansehung ihres unmittelbaren Einflusses auf das Wohl der Gesellschaft, zu unbetraechtlich und in sich selbst zu veraenderlich sind, als dass sie wert oder faehig waeren, unter der eigentlichen Aufsicht des Gesetzes zu stehen. Es gibt wiederum andere, gegen die alle Kraft der Legislation zu kurz faellt; die in ihren Triebfedern so unbegreiflich, in sich selbst so ungeheuer, in ihren Folgen so unermesslich sind, dass sie entweder der Ahndung der Gesetze ganz entgehen oder doch unmoeglich nach Verdienst geahndet werden koennen. Ich will es nicht unternehmen, auf die erstern, als auf Gattungen des Laecherlichen, die Komoedie; und auf die andern, als auf ausserordentliche Erscheinungen in dem Reiche der Sitten, welche die Vernunft in Erstaunen und das Herz in Tumult setzen, die Tragoedie einzuschraenken. Das Genie lacht ueber alle die Grenzscheidungen der Kritik. Aber so viel ist doch unstreitig, dass das Schauspiel ueberhaupt seinen Vorwurf entweder diesseits oder jenseits der Grenzen des Gesetzes waehlet und die eigentlichen Gegenstaende desselben nur insofern behandelt, als sie sich entweder in das Laecherliche verlieren, oder bis in das Abscheuliche verbreiten.

Der Epilog verweilet bei einer von den Hauptlehren, auf welche ein Teil der Fabel und Charaktere des Trauerspiels mit abzwecken. Es war zwar von dem Hrn. von Cronegk ein wenig unueberlegt, in einem Stuecke, dessen Stoff aus den ungluecklichen Zeiten der Kreuzzuege genommen ist, die Toleranz predigen und die Abscheulichkeiten des Geistes der Verfolgung an den Bekennern der mahomedanischen Religion zeigen zu wollen. Denn diese Kreuzzuege selbst, die in ihrer Anlage ein politischer Kunstgriff der Paepste waren, wurden in ihrer Ausfuehrung die unmenschlichsten Verfolgungen, deren sich der christliche Aberglaube jemals schuldig gemacht hat; die meisten und blutgierigsten Ismenors hatte damals die wahre Religion; und einzelne Personen, die eine Moschee beraubet haben, zur Strafe ziehen, koemmt das wohl gegen die unselige Raserei, welche das rechtglaeubige Europa entvoelkerte, um das unglaeubige Asien zu verwuesten? Doch was der Tragikus in seinem Werke sehr unschicklich angebracht hat, das konnte der Dichter des Epilogs gar wohl auffassen. Menschlichkeit und Sanftmut verdienen bei jeder Gelegenheit empfohlen zu werden, und kein Anlass dazu kann so entfernt sein, den wenigstens unser Herz nicht sehr natuerlich und dringend finden sollte.

Uebrigens stimme ich mit Vergnuegen dem ruehrenden Lobe bei, welches der Dichter dem seligen Cronegk erteilet. Aber ich werde mich schwerlich bereden lassen, dass er mit mir ueber den poetischen Wert des kritisierten Stueckes nicht ebenfalls einig sein sollte. Ich bin sehr betroffen gewesen, als man mich versichert, dass ich verschiedene von meinen Lesern durch mein unverhohlnes Urteil unwillig gemacht haette. Wenn ihnen bescheidene Freiheit, bei der sich durchaus keine Nebenabsichten denken lassen, missfaellt, so laufe ich Gefahr, sie noch oft unwillig zu machen. Ich habe gar nicht die Absicht gehabt, ihnen die Lesung eines Dichters zu verleiden, den ungekuenstelter Witz, viel feine Empfindung und die lauterste Moral empfehlen. Diese Eigenschaften werden ihn jederzeit schaetzbar machen, ob man ihm schon andere absprechen muss, zu denen er entweder gar keine Anlage hatte, oder die zu ihrer Reife gewisse Jahre erfordern, weit unter welchen er starb. Sein "Kodrus" ward von den Verfassern der "Bibliothek der schoenen Wissenschaften" gekroenet, aber wahrlich nicht als ein gutes Stueck, sondern als das beste von denen, die damals um den Preis stritten. Mein Urteil nimmt ihm also keine Ehre, die ihm die Kritik damals erteilet. Wenn Hinkende um die Wette laufen, so bleibt der, welcher von ihnen zuerst an das Ziel koemmt, doch noch ein Hinkender.

Eine Stelle in dem Epilog ist einer Missdeutung ausgesetzt gewesen, von der sie gerettet zu werden verdienet. Der Dichter sagt:

 
    "Bedenkt, dass unter uns die Kunst nur kaum beginnt,
    In welcher tausend Quins fuer einen Garrick sind."
 

Quin, habe ich darwider erinnern hoeren, ist kein schlechter Schauspieler gewesen.—Nein, gewiss nicht; er war Thomsons besonderer Freund, und die Freundschaft, in der ein Schauspieler mit einem Dichter, wie Thomson, gestanden, wird bei der Nachwelt immer ein gutes Vorurteil fuer seine Kunst erwecken. Auch hat Quin noch mehr als dieses Vorurteil fuer sich: man weiss, dass er in der Tragoedie mit vieler Wuerde gespielet; dass er besonders der erhabenen Sprache des Milton Genuege zu leisten gewusst; dass er, im Komischen, die Rolle des Fa1staff zu ihrer groessten Vollkommenheit gebracht. Doch alles dieses macht ihn zu keinem Garrick; und das Missverstaendnis liegt bloss darin, dass man annimmt, der Dichter habe diesem allgemeinen und ausserordentlichen Schauspieler einen schlechten, und fuer schlecht durchgaengig erkannten, entgegensetzen wollen. Quin soll hier einen von der gewoehnlichen Sorte bedeuten, wie man sie alle Tage sieht; einen Mann, der ueberhaupt seine Sache so gut wegmacht, dass man mit ihm zufrieden ist; der auch diesen und jenen Charakter ganz vortrefflich spielet, so wie ihm seine Figur, seine Stimme, sein Temperament dabei zu Hilfe kommen. So ein Mann ist sehr brauchbar und kann mit allem Rechte ein guter Schauspieler heissen; aber wieviel fehlt ihm noch, um der Proteus in seiner Kunst zu sein, fuer den das einstimmige Geruecht schon laengst den Garrick erklaeret hat. Ein solcher Quin machte, ohne Zweifel, den Koenig im "Hamlet", als Thomas Jones und Rebhuhn in der Komoedie waren2; und der Rebhuhne gibt es mehrere, die nicht einen Augenblick anstehen, ihn einem Garrick weit vorzuziehen. "Was?" sagen sie, "Garrick der groesste Akteur? Er schien ja nicht ueber das Gespenst erschrocken, sondern er war es. Was ist das fuer eine Kunst, ueber ein Gespenst zu erschrecken? Gewiss und wahrhaftig, wenn wir den Geist gesehen haetten, so wuerden wir ebenso ausgesehen und eben das getan haben, was er tat. Der andere hingegen, der Koenig, schien wohl auch etwas geruehrt zu sein, aber als ein guter Akteur gab er sich doch alle moegliche Muehe, es zu verbergen. Zudem sprach er alle Worte so deutlich aus und redete noch einmal so laut, als jener kleine unansehnliche Mann, aus dem ihr so ein Aufhebens macht!"

Bei den Englaendern hat jedes neue Stueck seinen Prolog und Epilog, den entweder der Verfasser selbst oder ein Freund desselben abfasset. Wozu die Alten den Prolog brauchten, den Zuhoerer von verschiedenen Dingen zu unterrichten, die zu einem geschwindem Verstaendnisse der zum Grunde liegenden Geschichte des Stueckes dienen, dazu brauchen sie ihn zwar nicht. Aber er ist darum doch nicht ohne Nutzen. Sie wissen hunderterlei darin zu sagen, was das Auditorium fuer den Dichter, oder fuer den von ihm bearbeiteten Stoff einnehmen, und unbilligen Kritiken sowohl ueber ihn als ueber die Schauspieler vorbauen kann. Noch weniger bedienen sie sich des Epilogs, so wie sich wohl Plautus dessen manchmal bedienet; um die voellige Aufloesung des Stuecks, die in dem fuenften Akte nicht Raum hatte, darin erzaehlen zu lassen. Sondern sie machen ihn zu einer Art von Nutzanwendung, voll guter Lehren, voll feiner Bemerkungen ueber die geschilderten Sitten und ueber die Kunst, mit der sie geschildert worden; und das alles in dem schnurrigsten, launigsten Tone. Diesen Ton aendern sie auch nicht einmal gern bei dem Trauerspiele; und es ist gar nichts Ungewoehnliches, dass nach dem Blutigsten und Ruehrendsten die Satire ein so lautes Gelaechter aufschlaegt und der Witz so mutwillig wird, dass es scheinet, es sei die ausdrueckliche Absicht, mit allen Eindruecken des Guten ein Gespoette zu treiben. Es ist bekannt, wie sehr Thomson wider diese Narrenschellen, mit der man der Melpomene nachklingelt, geeifert hat. Wenn ich daher wuenschte, dass auch bei uns neue Origina1stuecke nicht ganz ohne Einfuehrung und Empfehlung vor das Publikum gebracht wuerden, so versteht es sich von selbst, dass bei dem Trauerspiele der Ton des Epilogs unserm deutschen Ernste angemessener sein muesste. Nach dem Lustspiele koennte er immer so burlesk sein, als er wollte. Dryden ist es, der bei den Englaendern Meisterstuecke von dieser Art gemacht hat, die noch itzt mit dem groessten Vergnuegen gelesen werden, nachdem die Spiele selbst, zu welchen er sie verfertiget, zum Teil laengst vergessen sind. Hamburg haette einen deutschen Dryden in der Naehe; und ich brauche ihn nicht noch einmal zu bezeichnen, wer von unsern Dichtern Moral und Kritik mit attischem Salze zu wuerzen, so gut als der Englaender verstehen wuerde.

Achtes Stueck Den 26. Mai 1767

Die Vorstellungen des ersten Abends wurden den zweiten wiederholt.

Den dritten Abend (freitags, den 24. v. M.) ward "Melanide" aufgefuehret. Dieses Stueck des Nivelle de la Chaussee ist bekannt. Es ist von der ruehrenden Gattung, der man den spoettischen Beinamen der Weinerlichen gegeben. Wenn weinerlich heisst, was uns die Traenen nahe bringt, wobei wir nicht uebel Lust haetten zu weinen, so sind verschiedene Stuecke von dieser Gattung etwas mehr, als weinerlich; sie kosten einer empfindlichen Seele Stroeme von Traenen; und der gemeine Prass franzoesischer Trauerspiele verdienet, in Vergleichung ihrer, allein weinerlich genannt zu werden. Denn eben bringen sie es ungefaehr so weit, dass uns wird, als ob wir haetten weinen koennen, wenn der Dichter seine Kunst besser verstanden haette.

"Melanide" ist kein Meisterstueck von dieser Gattung; aber man sieht es doch immer mit Vergnuegen. Es hat sich selbst auf dem franzoesischen Theater erhalten, auf welchem es im Jahre 1741 zuerst gespielt ward. Der Stoff, sagt man, sei aus einem Roman, "Mademoiselle de Bontems" betitelt, entlehnet. Ich kenne diesen Roman nicht; aber wenn auch die Situation der zweiten Szene des dritten Akts aus ihm genommen ist, so muss ich einen Unbekannten, anstatt des de la Chaussee, um das beneiden, weswegen ich wohl eine "Melanide" gemacht zu haben wuenschte.

Die Uebersetzung war nicht schlecht; sie ist unendlich besser, als eine italienische, die in dem zweiten Bande der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Ich muss es zum Troste des groessten Haufens unserer Uebersetzer anfuehren, dass ihre italienischen Mitbrueder meistenteils noch weit elender sind, als sie. Gute Verse indes in gute Prosa uebersetzen, erfodert etwas mehr als Genauigkeit; oder ich moechte wohl sagen, etwas anders. Allzu puenktliche Treue macht jede Uebersetzung steif, weil unmoeglich alles, was in der einen Sprache natuerlich ist, es auch in der andern sein kann. Aber eine Uebersetzung aus Versen macht sie zugleich waessrig und schielend. Denn wo ist der glueckliche Versifikateur, den nie das Silbenmass, nie der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort etwas staerker oder schwaecher, frueher oder spaeter, sagen liesse, als er es, frei von diesem Zwange, wuerde gesagt haben? Wenn nun der Uebersetzer dieses nicht zu unterscheiden weiss; wenn er nicht Geschmack, nicht Mut genug hat, hier einen Nebenbegriff wegzulassen, da statt der Metapher den eigentlichen Ausdruck zu setzen, dort eine Ellipsis zu ergaenzen oder anzubringen: so wird er uns alle Nachlaessigkeiten seines Originals ueberliefert und ihnen nichts als die Entschuldigung benommen haben, welche die Schwierigkeiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der Grundsprache fuer sie machen.

Die Rolle der Melanide ward von einer Aktrice gespielet, die nach einer neunjaehrigen Entfernung vom Theater aufs neue in allen den Vollkommenheiten wieder erschien, die Kenner und Nichtkenner, mit und ohne Einsicht, ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten. Madame Loewen verbindet mit dem silbernen Tone der sonoresten, lieblichsten Stimme, mit dem offensten, ruhigsten und gleichwohl ausdruckfaehigsten Gesichte von der Welt das feinste, schnel1ste Gefuehl, die sicherste, waermste Empfindung, die sich, zwar nicht immer so lebhaft, als es viele wuenschen, doch allezeit mit Anstand und Wuerde aeussert. In ihrer Deklamation akzentuiert sie richtig, aber nicht merklich. Der gaenzliche Mangel intensiver Akzente verursacht Monotonie; aber ohne ihr diese vorwerfen zu koennen, weiss sie dem sparsamern Gebrauche derselben durch eine andere Feinheit zu Hilfe zu kommen, von der, leider! sehr viele Akteurs ganz und gar nichts wissen. Ich will mich erklaeren. Man weiss, was in der Musik das Mouvement heisst; nicht der Takt, sondern der Grad der Langsamkeit oder Schnelligkeit, mit welchen der Takt gespielt wird. Dieses Mouvement ist durch das ganze Stueck einfoermig; in dem naemlichen Masse der Geschwindigkeit, in welchem die ersten Takte gespielet worden, muessen sie alle, bis zu den letzten, gespielet werden. Diese Einfoermigkeit ist in der Musik notwendig, weil ein Stueck nur einerlei ausdruecken kann, und ohne dieselbe gar keine Verbindung verschiedener Instrumente und Stimmen moeglich sein wuerde. Mit der Deklamation hingegen ist es ganz anders. Wenn wir einen Perioden von mehrern Gliedern als ein besonderes musikalisches Stueck annehmen und die Glieder als die Takte desselben betrachten, so muessen die Glieder, auch alsdenn, wenn sie vollkommen gleicher Laenge waeren und aus der naemlichen Anzahl von Silben des naemlichen Zeitmasses bestuenden, dennoch nie mit einerlei Geschwindigkeit gesprochen werden. Denn da sie, weder in Absicht auf die Deutlichkeit und den Nachdruck, noch in Ruecksicht auf den in dem ganzen Perioden herrschenden Affekt, von einerlei Wert und Belang sein koennen: so ist es der Natur gemaess, dass die Stimme die geringfuegigern schnell herausstoesst, fluechtig und nachlaessig darueber hinschlupft; auf den betraechtlichern aber verweilet, sie dehnet und schleift, und jedes Wort, und in jedem Worte jeden Buchstaben, uns zuzaehlet. Die Grade dieser Verschiedenheit sind unendlich; und ob sie sich schon durch keine kuenstliche Zeitteilchen bestimmen und gegeneinander abmessen lassen, so werden sie doch auch von dem ungelehrtesten Ohre unterschieden, sowie von der ungelehrtesten Zunge beobachtet, wenn die Rede aus einem durchdrungenen Herzen und nicht bloss aus einem fertigen Gedaechtnisse fliesset. Die Wirkung ist unglaublich, die dieses bestaendig abwechselnde Mouvement der Stimme hat; und werden vollends alle Abaenderungen des Tones, nicht bloss in Ansehung der Hoehe und Tiefe, der Staerke und Schwaeche, sondern auch des Rauhen und Sanften, des Schneidenden und Runden, sogar des Holprichten und Geschmeidigen an den rechten Stellen damit verbunden: so entstehet jene natuerliche Musik, gegen die sich unfehlbar unser Herz eroeffnet, weil es empfindet, dass sie aus dem Herzen entspringt, und die Kunst nur insofern daran Anteil hat, als auch die Kunst zur Natur werden kann. Und in dieser Musik, sage ich, ist die Aktrice, von welcher ich spreche, ganz vortrefflich, und ihr niemand zu vergleichen, als Herr Ekhof, der aber, indem er die intensiven Akzente auf einzelne Worte, worauf sie sich weniger befleissiget, noch hinzufueget, bloss dadurch seiner Deklamation eine hoehere Vollkommenheit zu geben imstande ist. Doch vielleicht hat sie auch diese in ihrer Gewalt; und ich urteile bloss so von ihr, weil ich sie noch in keinen Rollen gesehen, in welchen sich das Ruehrende zum Pathetischen erhebet. Ich erwarte sie in dem Trauerspiele und fahre indes in der Geschichte unsers Theaters fort.

Den vierten Abend (montags, den 27. v. M.) ward ein neues deutsches Original, betitelt "Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe", aufgefuehret. Es hat den Hrn. Heufeld in Wien zum Verfasser, der uns sagt, dass bereits zwei andere Stuecke von ihm den Beifall des dortigen Publikums erhalten haetten. Ich kenne sie nicht; aber nach dem gegenwaertigen zu urteilen, muessen sie nicht ganz schlecht sein.

Die Hauptzuege der Fabel und der groesste Teil der Situationen sind aus der "Neuen Heloise" des Rousseau entlehnet. Ich wuenschte, dass Herr Heufeld, ehe er zu Werke geschritten, die Beurteilung dieses Romans in den "Briefen, die neueste Literatur betreffend"3 gelesen und studiert haette. Er wuerde mit einer sicherern Einsicht in die Schoenheiten seines Originals gearbeitet haben und vielleicht in vielen Stuecken gluecklicher gewesen sein.

Der Wert der "Neuen Heloise" ist, von der Seite der Erfindung, sehr gering, und das Beste darin ganz und gar keiner dramatischen Bearbeitung faehig. Die Situationen sind alltaeglich oder unnatuerlich, und die wenig guten so weit voneinander entfernt, dass sie sich, ohne Gewaltsamkeit, in den engen Raum eines Schauspiels von drei Aufzuegen nicht zwingen lassen. Die Geschichte konnte sich auf der Buehne unmoeglich so schliessen, wie sie sich in dem Romane nicht sowohl schliesst, als verlieret. Der Liebhaber der Julie musste hier gluecklich werden, und Herr Heufeld laesst ihn gluecklich werden. Er bekoemmt seine Schuelerin. Aber hat Herr Heufeld auch ueberlegt, dass seine Julie nun gar nicht mehr die Julie des Rousseau ist? Doch Julie des Rousseau oder nicht: wem liegt daran? Wenn sie nur sonst eine Person ist, die interessierst. Aber eben das ist sie nicht; sie ist nichts als eine kleine verliebte Naerrin, die manchmal artig genug schwatzet, wenn sich Herr Heufeld auf eine schoene Stelle im Rousseau besinnet. "Julie", sagt der Kunstrichter, dessen Urteils ich erwaehnet habe, "spielt in der Geschichte eine zweifache Rolle. Sie ist anfangs ein schwaches und sogar etwas verfuehrerisches Maedchen und wird zuletzt ein Frauenzimmer, das, als ein Muster der Tugend, alle, die man jemals erdichtet hat, weit uebertrifft." Dieses letztere wird sie durch ihren Gehorsam, durch die Aufopferung ihrer Liebe, durch die Gewalt, die sie ueber ihr Herz gewinnet. Wenn nun aber von allen diesen in dem Stuecke nichts zu hoeren und zu sehen ist: was bleibt von ihr uebrig, als, wie gesagt, das schwache verfuehrerische Maedchen, das Tugend und Weisheit auf der Zunge, und Torheit im Herzen hat?

Den St. Preux des Rousseau hat Herr Heufeld in einen Siegmund umgetauft. Der Name Siegmund schmecket bei uns ziemlich nach dem Domestiken. Ich wuenschte, dass unsere dramatischen Dichter auch in solchen Kleinigkeiten ein wenig gesuchterer, und auf den Ton der grossen Welt aufmerksamer sein wollten.—St. Preux spielt schon bei dem Rousseau eine sehr abgeschmackte Figur. "Sie nennen ihn alle", sagt der angefuehrte Kunstrichter, "den Philosophen. Den Philosophen! Ich moechte wissen, was der junge Mensch in der ganzen Geschichte spricht oder tut, dadurch er diesen Namen verdienst? In meinen Augen ist er der albernste Mensch von der Welt, der in all- gemeinen Ausrufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt und nicht den geringsten Funken davon besitzet. In seiner Liebe ist er abenteuerlich, schwuelstig, ausgelassen, und in seinem uebrigen Tun und Lassen findet sich nicht die geringste Spur von Ueberlegung. Er setzet das stolzeste Zutrauen in seine Vernunft und ist dennoch nicht entschlossen genug, den kleinsten Schritt zu tun, ohne von seiner Schuelerin oder von seinem Freunde an der Hand gefuehret zu werden."—Aber wie tief ist der deutsche Siegmund noch unter diesem St. Preux!

2.Teil VI, S. 15.
3.Teil X, S. 255 u. f.
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30 september 2018
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