Loe raamatut: «Hamburgische Dramaturgie», lehekülg 5

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Zwoelftes Stueck Den 9. Junius 1767

Ich bemerke noch einen Unterschied, der sich zwischen den Gespenstern des englischen und franzoesischen Dichters findet. Voltaires Gespenst ist nichts als eine poetische Maschine, die nur des Knotens wegen da ist; es interessiert uns fuer sich selbst nicht im geringsten. Shakespeares Gespenst hingegen ist eine wirklich handelnde Person, an dessen Schicksale wir Anteil nehmen; es erweckt Schauder, aber auch Mitleid.

Dieser Unterschied entsprang, ohne Zweifel, aus der verschiedenen Denkungsart beider Dichter von den Gespenstern ueberhaupt. Voltaire betrachtet die Erscheinung eines Verstorbenen als ein Wunder; Shakespeare als eine ganz natuerliche Begebenheit. Wer von beiden philosophischer denkt, duerfte keine Frage sein; aber Shakespeare dachte poetischer. Der Geist des Ninus kam bei Voltairen als ein Wesen, das noch jenseit dem Grabe angenehmer und unangenehmer Empfindungen faehig ist, mit welchem wir also Mitleiden haben koennen, in keine Betrachtung. Er wollte bloss damit lehren, dass die hoechste Macht, um verborgene Verbrechen ans Licht zu bringen und zu bestrafen, auch wohl eine Ausnahme von ihren ewigen Gesetzen mache.

Ich will nicht sagen, dass es ein Fehler ist, wenn der dramatische Dichter seine Fabel so einrichtet, dass sie zur Erlaeuterung oder Bestaetigung irgendeiner grossen moralischen Wahrheit dienen kann. Aber ich darf sagen, dass diese Einrichtung der Fabel nichts weniger als notwendig ist; dass sehr lehrreiche vollkommene Stuecke geben kann, die auf keine solche einzelne Maxime abzwecken; dass man unrecht tut, den letzten Sittenspruch, den man zum Schlusse verschiedener Trauerspiele der Alten findet, so anzusehen, als ob das Ganze bloss um seinetwillen da waere.

Wenn daher die "Semiramis" des Herrn von Voltaire weiter kein Verdienst haette, als dieses, worauf er sich so viel zugute tut, dass man naemlich daraus die hoechste Gerechtigkeit verehren lerne, die, ausserordentliche Lastertaten zu strafen, ausserordentliche Wege waehle: so wuerde "Semiramis" in meinen Augen nur ein sehr mittelmaessiges Stueck sein. Besonders da diese Moral selbst nicht eben die erbaulichste ist. Denn es ist ohnstreitig dem weisesten Wesen weit anstaendiger, wenn es dieser ausserordentlichen Wege nicht bedarf und wir uns die Bestrafung des Guten und Boesen in die ordentliche Kette der Dinge von ihr mit eingeflochten denken.

Doch ich will mich bei dem Stuecke nicht laenger verweilen, um noch ein Wort von der Art zu sagen, wie es hier aufgefuehret worden. Man hat alle Ursache, damit zufrieden zu sein. Die Buehne ist geraeumlich genug, die Menge von Personen ohne Verwirrung zu fassen, die der Dichter in verschiedenen Szenen auftreten laesst. Die Verzierungen sind neu, von dem besten Geschmacke, und sammeln den so oft abwechselnden Ort so gut als moeglich in einen.

Den siebenten Abend (donnerstags, den 30. April) ward "Der verheiratete Philosoph", vom Destouches, gespielet.

Dieses Lustspiel kam im Jahr 1727 zuerst auf die franzoesische Buehne und fand so allgemeinen Beifall, dass es in Jahr und Tag sechsunddreissigmal aufgefuehret ward. Die deutsche Uebersetzung ist nicht die prosaische aus den zu Berlin uebersetzten saemtlichen Werken des Destouches; sondern eine in Versen, an der mehrere Haende geflickt und gebessert haben. Sie hat wirklich viel glueckliche Verse, aber auch viel harte und unnatuerliche Stellen. Es ist unbeschreiblich, wie schwer dergleichen Stellen dem Schauspieler das Agieren machen; und doch werden wenig franzoesische Stuecke sein, die auf irgendeinem deutschen Theater jemals besser ausgefallen waeren, als dieses auf unserm. Die Rollen sind alle auf das schicklichste besetzt, und besonders spielet Madame Loewen die launigte Celiante als eine Meisterin, und Herr Ackermann den Geront unverbesserlich. Ich kann es ueberhoben sein, von dem Stuecke selbst zu reden. Es ist zu bekannt und gehoert unstreitig unter die Meisterstuecke der franzoesischen Buehne, die man auch unter uns immer mit Vergnuegen sehen wird.

Das Stueck des achten Abends (freitags, den 1. Mai) war "Das Kaffeehaus, oder Die Schottlaenderin" des Hrn. von Voltaire.

Es liesse sich eine lange Geschichte von diesem Lustspiele machen. Sein Verfasser schickte es als eine Uebersetzung aus dem Englischen des Hume, nicht des Geschichtschreibers und Philosophen, sondern eines andern dieses Namens, der sich durch das Trauerspiel "Douglas" bekannt gemacht hat, in die Welt. Es hat in einigen Charakteren mit der "Kaffeeschenke" des Goldoni etwas Aehnliches; besonders scheint der Don Marzio des Goldoni das Urbild des Frelon gewesen zu sein. Was aber dort bloss ein boesartiger Kerl ist, ist hier zugleich ein elender Skribent, den er Frelon nannte, damit die Ausleger desto geschwinder auf seinen geschwornen Feind, den Journalisten Freron, fallen moechten. Diesen wollte er damit zu Boden schlagen, und ohne Zweifel hat er ihm einen empfindlichen Streich versetzt. Wir Auslaender, die wir an den haemischen Neckereien der franzoesischen Gelehrten unter sich keinen Anteil nehmen, sehen ueber die Persoenlichkeiten dieses Stuecks weg und finden in dem Frelon nichts als die getreue Schilderung einer Art von Leuten, die auch bei uns nicht fremd ist. Wir haben unsere Frelons so gut, wie die Franzosen und Englaender, nur dass sie bei uns weniger Aufsehen machen, weil uns unsere Literatur ueberhaupt gleichgueltiger ist. Fiele das Treffende dieses Charakters aber auch gaenzlich in Deutschland weg, so hat das Stueck doch, noch ausser ihm, Interesse genug, und der ehrliche Freeport allein koennte es in unserer Gunst erhalten. Wir lieben seine plumpe Edelmuetigkeit, und die Englaender selbst haben sich dadurch geschmeichelt gefunden.

Denn nur seinetwegen haben sie erst kuerzlich den ganzen Stamm auf den Grund wirklich verpflanzt, auf welchem er sich gewachsen zu sein ruehmte. Colman, unstreitig itzt ihr bester komischer Dichter, hat die "Schottlaenderin", unter dem Titel des "Englischen Kaufmanns", uebersetzt und ihr vollends alle das nationale Kolorit gegeben, das ihr in dem Originale noch mangelte. So sehr der Herr von Voltaire die englischen Sitten auch kennen will, so hatte er doch haeufig dagegen verstossen; z.E. darin, dass er seine Lindane auf einem Kaffeehause wohnen laesst. Colman mietet sie dafuer bei einer ehrlichen Frau ein, die moeblierte Zimmer haelt, und diese Frau ist weit anstaendiger die Freundin und Wohltaeterin der jungen verlassenen Schoene, als Fabriz. Auch die Charaktere hat Colman fuer den englischen Geschmack kraeftiger zu machen gesucht. Lady Alton ist nicht bloss eine eifersuechtige Furie; sie will ein Frauenzimmer von Genie, von Geschmack und Gelehrsamkeit sein und gibt sich das Ansehen einer Schutzgoettin der Literatur. Hierdurch glaubte er die Verbindung wahrscheinlicher zu machen, in der sie mit dem elenden Frelon stehet, den er Spatter nennet. Freeport vornehmlich hat eine weitere Sphaere von Taetigkeit bekommen, und er nimmt sich des Vaters der Lindane ebenso eifrig an, als der Lindane selbst. Was im Franzoesischen der Lord Falbridge zu dessen Begnadigung tut, tut im Englischen Freeport, und er ist es allein, der alles zu einem gluecklichen Ende bringet.

Die englischen Kunstrichter haben in Colmans Umarbeitung die Gesinnungen durchaus vortrefflich, den Dialog fein und lebhaft und die Charaktere sehr wohl ausgefuehrt gefunden. Aber doch ziehen sie ihr Colmans uebrige Stuecke weit vor, von welchen man "Die eifersuechtige Ehefrau" auf dem Ackermannischen Theater ehedem hier gesehen, und nach der diejenigen, die sich ihrer erinnern, ungefaehr urteilen koennen. "Der englische Kaufmann" hat ihnen nicht Handlung genug; die Neugierde wird ihnen nicht genug darin genaehret; die ganze Verwickelung ist in dem ersten Akte sichtbar. Hiernaechst hat er ihnen zuviel Aehnlichkeit mit andern Stuecken, und den besten Situationen fehlt die Neuheit. Freeport, meinen sie, haette nicht den geringsten Funken von Liebe gegen die Lindane empfinden muessen; seine gute Tat verliere dadurch alles Verdienst usw.

Es ist an dieser Kritik manches nicht ganz ungegruendet; indes sind wir Deutschen es sehr wohl zufrieden, dass die Handlung nicht reicher und verwickelter ist. Die englische Manier in diesem Punkte zerstreuet und ermuedet uns; wir lieben einen einfaeltigen Plan, der sich auf einmal uebersehen laesst. So wie die Englaender die franzoesischen Stuecke mit Episoden erst vollpfropfen muessen, wenn sie auf ihrer Buehne gefallen sollen; so muessten wir die englischen Stuecke von ihren Episoden erst entladen, wenn wir unsere Buehne gluecklich damit bereichern wollten. Ihre besten Lustspiele eines Congreve und Wycherley wuerden uns, ohne diesen Ausbau des allzu wolluestigen Wuchses, unausstehlich sein. Mit ihren Tragoedien werden wir noch eher fertig; diese sind zum Teil bei weitem so verworren nicht, als ihre Komoedien, und verschiedene haben, ohne die geringste Veraenderung, bei uns Glueck gemacht, welches ich von keiner einzigen ihrer Komoedien zu sagen wuesste.

Auch die Italiener haben eine Uebersetzung von der "Schottlaenderin", die in dem ersten Teile der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Sie folgt dem Originale Schritt vor Schritt, so wie die deutsche; nur eine Szene zum Schlusse hat ihr der Italiener mehr gegeben. Voltaire sagte, Frelon werde in der englischen Urschrift am Ende bestraft; aber so verdient diese Bestrafung sei, so habe sie ihm doch dem Hauptinteresse zu schaden geschienen; er habe sie also weggelassen. Dem Italiener duenkte diese Entschuldigung nicht hinlaenglich, und er ergaenzte die Bestrafung des Frelons aus seinem Kopfe; denn die Italiener sind grosse Liebhaber der poetischen Gerechtigkeit.

Dreizehntes Stueck Den 12. Junius 1767

Den neunten Abend (montags, den 4. Mai) sollte "Cenie" gespielet werden. Es wurden aber auf einmal mehr als die Haelfte der Schauspieler durch einen epidemischen Zufall ausserstand gesetzet, zu agieren; und man musste sich so gut zu helfen suchen, als moeglich. Man wiederholte "Die neue Agnese" und gab das Singspiel "Die Gouvernante".

Den zehnten Abend (dienstags, den 5. Mai) ward "Der poetische Dorfjunker", vom Destouches, aufgefuehrt.

Dieses Stueck hat im Franzoesischen drei Aufzuege, und in der Uebersetzung fuenfe. Ohne diese Verbesserung war es nicht wert, in die "Deutsche Schaubuehne" des weiland beruehmten Herrn Professor Gottscheds aufgenommen zu werden, und seine gelehrte Freundin, die Uebersetzerin, war eine viel zu brave Ehefrau, als dass sie sich nicht den kritischen Ausspruechen ihres Gemahls blindlings haette unterwerfen sollen. Was kostet es denn nun auch fuer grosse Muehe, aus drei Aufzuegen fuenfe zu machen? Man laesst in einem andern Zimmer einmal Kaffee trinken; man schlaegt einen Spaziergang im Garten vor; und wenn Not an den Mann gehet, so kann ja auch der Lichtputzer herauskommen und sagen: "Meine Damen und Herren, treten Sie ein wenig ab; die Zwischenakte sind des Putzens wegen erfunden, und was hilft Ihr Spielen, wenn das Parterre nicht sehen kann?"—Die Uebersetzung selbst ist sonst nicht schlecht, und besonders sind der Fr. Professorin die Knittelverse des Masuren, wie billig, sehr wohl gelungen. Ob sie ueberall ebenso gluecklich gewesen, wo sie den Einfaellen ihres Originals eine andere Wendung geben zu muessen geglaubt, wuerde sich aus der Vergleichung zeigen. Eine Verbesserung dieser Art, mit der es die liebe Frau recht herzlich gut gemeinet hatte, habe ich demohngeachtet aufmutzen hoeren. In der Szene, wo Henriette die alberne Dirne spielt, laesst Destouches den Masuren zu ihr sagen: "Sie setzen mich in Erstaunen, Mademoiselle; ich habe Sie fuer eine Virtuosin gehalten." "O pfui!" erwidert Henriette; "wofuer haben Sie mich gehalten? Ich bin ein ehrliches Maedchen; dass Sie es nur wissen." "Aber man kann ja", faellt ihr Masuren ein, "beides wohl zugleich, ein ehrliches Maedchen und eine Virtuosin, sein." "Nein", sagt Henriette; "ich behaupte, dass man das nicht zugleich sein kann. Ich eine Virtuosin!" Man erinnere sich, was Madame Gottsched anstatt des Worts "Virtuosin" gesetzt hat: ein Wunder. Kein Wunder! sagte man, dass sie das tat. Sie fuehlte sich auch so etwas von einer Virtuosin zu sein, und ward ueber den vermeinten Stich boese. Aber sie haette nicht boese werden sollen, und was die witzige und gelehrte Henriette, in der Person einer dummen Agnese, sagt, haette die Frau Professorin immer, ohne Maulspitzen, nachsagen koennen. Doch vielleicht war ihr nur das fremde Wort Virtuosin anstoessig; Wunder ist deutscher; zudem gibt es unter unsern Schoenen fuenfzig Wunder gegen eine Virtuosin; die Frau wollte rein und verstaendlich uebersetzen; sie hatte sehr recht.

Den Beschluss dieses Abends machte "Die stumme Schoenheit", von Schlegeln.

Schlegel hatte dieses kleine Stueck fuer das neuerrichtete Kopenhagensche Theater geschrieben, um auf demselben in einer daenischen Uebersetzung aufgefuehret zu werden. Die Sitten darin sind daher auch wirklich daenischer, als deutsch. Demohngeachtet ist es unstreitig unser bestes komisches Original, das in Versen geschrieben ist. Schlegel hatte ueberall eine ebenso fliessende als zierliche Versifikation, und es war ein Glueck fuer seine Nachfolger, dass er seine groessern Komoedien nicht auch in Versen schrieb. Er haette ihnen leicht das Publikum verwoehnen koennen, und so wuerden sie nicht allein seine Lehre, sondern auch sein Beispiel wider sich gehabt haben. Er hatte sich ehedem der gereimten Komoedie sehr lebhaft angenommen; und je gluecklicher er die Schwierigkeiten derselben ueberstiegen haette, desto unwiderleglicher wuerden seine Gruende geschienen haben. Doch, als er selbst Hand an das Werk legte, fand er ohne Zweifel, wie unsaegliche Muehe es koste, nur einen Teil derselben zu uebersteigen, und wie wenig das Vergnuegen, welches aus diesen ueberstiegenen Schwierigkeiten entstehet, fuer die Menge kleiner Schoenheiten, die man ihnen aufopfern muesse, schadlos halte. Die Franzosen waren ehedem so ekel, dass man ihnen die prosaischen Stuecke des Moliere, nach seinem Tode, in Verse bringen musste; und noch itzt hoeren sie ein prosaisches Lustspiel als ein Ding an, das ein jeder von ihnen machen koenne. Den Englaender hingegen wuerde eine gereimte Komoedie aus dem Theater jagen. Nur die Deutschen sind auch hierin, soll ich sagen billiger, oder gleichgueltiger? Sie nehmen an, was ihnen der Dichter vorsetzt. Was waere es auch, wenn sie itzt schon waehlen und ausmustern wollten?

Die Rolle der stummen Schoene hat ihre Bedenklichkeiten. Eine stumme Schoene, sagt man, ist nicht notwendig eine dumme, und die Schauspielerin hat unrecht, die eine alberne plumpe Dirne daraus macht. Aber Schlegels stumme Schoenheit ist allerdings dumm zugleich; denn dass sie nichts spricht, koemmt daher, weil sie nichts denkt. Das Feine dabei wuerde also dieses sein, dass man sie ueberall, wo sie, um artig zu scheinen, denken muesste, unartig machte, dabei aber ihr alle die Artigkeiten liesse, die bloss mechanisch sind, und die sie, ohne viel zu denken, haben koennte. Ihr Gang z.E., ihre Verbeugungen, brauchen gar nicht baeurisch zu sein; sie koennen so gut und zierlich sein, als sie nur immer ein Tanzmeister kehren kann; denn warum sollte sie von ihrem Tanzmeister nichts gelernt haben, da sie sogar Quadrille gelernt hat? Und sie muss Quadrille nicht schlecht spielen; denn sie rechnet fest darauf, dem Papa das Geld abzugewinnen. Auch ihre Kleidung muss weder altvaetrisch, noch schlumpicht sein; denn Frau Praatgern sagt ausdruecklich:

 
    "Bist du vielleicht nicht wohl gekleidet?—Lass doch sehn!
    Nun!—dreh dich um!—das ist ja gut, und sitzt galant.
    Was sagt denn der Phantast, dir fehlte der Verstand?"
 

In dieser Musterung der Fr. Praatgern ueberhaupt hat der Dichter deutlich genug bemerkt, wie er das Aeusserliche seiner stummen Schoene zu sein wuensche. Gleichfalls schoen, nur nicht reizend.

"Lass sehn, wie traegst du dich?—Den Kopf nicht so zuruecke!"

Dummheit ohne Erziehung haelt den Kopf mehr vorwaerts, als zurueck; ihn zurueckhalten, lehrt der Tanzmeister; man muss also Charlotten den Tanzmeister ansehen, und je mehr, je besser; denn das schadet ihrer Stummheit nichts, vielmehr sind die zierlich steifen Tanzmeistermanieren gerade die, welche der stummen Schoenheit am meisten entsprechen; sie zeigen die Schoenheit in ihrem besten Vorteile, nur dass sie ihr das Leben nehmen.

"Wer fragt: hat sie Verstand? der seh' nur ihre Blicke."

Recht wohl, wenn man eine Schauspielerin mit grossen schoenen Augen zu dieser Rolle hat. Nur muessen sich diese schoene Augen wenig oder gar nicht regen; ihre Blicke muessen langsam und stier sein; sie muessen uns mit ihrem unbeweglichen Brennpunkte in Flammen setzen wollen, aber nichts sagen.

 
    "Geh doch einmal herum!—Gut! hieher!—Neige dich!
    Da haben wir's, das fehlt. Nein, sieh! So neigt man sich."
 

Diese Zeilen versteht man ganz falsch, wenn man Charlotten eine baeurische Neige, einen dummen Knicks machen laesst. Ihre Verbeugung muss wohl gelernt sein, und wie gesagt, ihrem Tanzmeister keine Schande machen. Frau Praatgern muss sie nur noch nicht affektiert genug finden. Charlotte verbeugt sich, und Frau Praatgern will, sie soll sich dabei zieren. Das ist der ganze Unterschied, und Madame Loewen bemerkte ihn sehr wohl, ob ich gleich nicht glaube, dass die Praatgern sonst eine Rolle fuer sie ist. Sie kann die feine Frau zu wenig verbergen, und gewissen Gesichtern wollen nichtswuerdige Handlungen, dergleichen die Vertauschung einer Tochter ist, durchaus nicht lassen.

Den eilften Abend (mittewochs, den 6. Mai) ward "Miss Sara Sampson" aufgefuehret.

Man kann von der Kunst nichts mehr verlangen, als was Madame Henseln in der Rolle der Sara leistet, und das Stueck ward ueberhaupt sehr gut gespielet. Es ist ein wenig zu lang, und man verkuerzt es daher auf den meisten Theatern. Ob der Verfasser mit allen diesen Verkuerzungen so recht zufrieden ist, daran zweifle ich fast. Man weiss ja, wie die Autores sind; wenn man ihnen auch nur einen Nietnagel nehmen will, so schreien sie gleich: Ihr kommt mir ans Leben! Freilich ist der uebermaessigen Laenge eines Stuecks durch das blosse Weglassen nur uebel abgeholfen, und ich begreife nicht, wie man eine Szene verkuerzen kann, ohne die ganze Folge des Dialogs zu aendern. Aber wenn dem Verfasser die fremden Verkuerzungen nicht anstehen; so mache er selbst welche, falls es ihm der Muehe wert duenket und er nicht von denjenigen ist, die Kinder in die Welt setzen, und auf ewig die Hand von ihnen abziehen.

Madame Henseln starb ungemein anstaendig; in der malerischsten Stellung; und besonders hat mich ein Zug ausserordentlich ueberrascht. Es ist eine Bemerkung an Sterbenden, dass sie mit den Fingern an ihren Kleidern oder Betten zu rupfen anfangen. Diese Bemerkung machte sie sich auf die gluecklichste Art zu nutze; in dem Augenblicke, da die Seele von ihr wich, aeusserte sich auf einmal, aber nur in den Fingern des erstarrten Armes, ein gelinder Spasmus; sie kniff den Rock, der um ein weniges erhoben ward und gleich wieder sank: das letzte Aufflattern eines verloeschenden Lichts; der juengste Strahl einer untergehenden Sonne.—Wer diese Feinheit in meiner Beschreibung nicht schoen findet, der schiebe die Schuld auf meine Beschreibung; aber er sehe sie einmal!

Vierzehntes Stueck Den 16. Junius 1767

Das buergerliche Trauerspiel hat an dem franzoesischen Kunstrichter, welcher die "Sara" seiner Nation bekannt gemacht,4 einen sehr gruendlichen Verteidiger gefunden. Die Franzosen billigen sonst selten etwas, wovon sie kein Muster unter sich selbst haben.

Die Namen von Fuersten und Helden koennen einem Stuecke Pomp und Majestaet geben; aber zur Ruehrung tragen sie nichts bei. Das Unglueck derjenigen, deren Umstaende den unsrigen am naechsten kommen, muss natuerlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Koenigen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Koenigen. Macht ihr Stand schon oefters ihre Unfaelle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin moegen ganze Voelker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfodert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff fuer unsere Empfindungen.

"Man tut dem menschlichen Herze unrecht", sagt auch Marmontel, "man verkennst die Natur, wenn man glaubt, dass sie Titel beduerfe, uns zu bewegen und zu ruehren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters, des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen ueberhaupt: diese sind pathetischer als alles; diese behaupten ihre Rechte immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname, die Geburt des Ungluecklichen ist, den seine Gefaelligkeit gegen unwuerdige Freunde und das verfuehrerische Beispiel ins Spiel verstricket, der seinen Wohlstand und seine Ehre darueber zugrunde gerichtet, und nun im Gefaengnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen? Wenn man fragt, wer er ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist er Gemahl und Vater; seine Gattin, die er liebt und von der er geliebt wird, schmachtet in der aeussersten Beduerfnis und kann ihren Kindern, welche Brot verlangen, nichts als Traenen geben. Man zeige mir in der Geschichte der Helden eine ruehrendere, moralischere, mit einem Worte, tragischere Situation! Und wenn sich endlich dieser Unglueckliche vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet, erfaehrt, dass der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet diesem schmerzlichen und fuerchterlichen Augenblicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes marternde Vorstellungen, wie gluecklich er habe leben koennen, gesellen; was fehlt ihm, frage ich, um der Tragoedie wuerdig zu sein? Das Wunderbare, wird man antworten. Wie? Findet sich denn nicht dieses Wunderbare genugsam in dem ploetzlichen Uebergange von der Ehre zur Schande, von der Unschuld zum Verbrechen, von der suessesten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in dem aeussersten Ungluecke, in das eine blosse Schwachheit gestuerzet?"

Man lasse aber diese Betrachtungen den Franzosen, von ihren Diderots und Marmontels, noch so eingeschaerft werden: es scheint doch nicht, dass das buergerliche Trauerspiel darum bei ihnen besonders in Schwang kommen werde. Die Nation ist zu eitel, ist in Titel und andere aeusserliche Vorzuege zu verliebt; bis auf den gemeinsten Mann will alles mit Vornehmern umgehen; und Gesellschaft mit seinesgleichen ist so viel als schlechte Gesellschaft. Zwar ein glueckliches Genie vermag viel ueber sein Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und sie erwartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der sie in aller ihrer Wahrheit und Staerke zu zeigen verstehet. Der Versuch, den ein Ungenannter in einem Stuecke gemacht hat, welches er "Das Gemaelde der Duerftigkeit" nennet, hat schon grosse Schoenheiten; und bis die Franzosen daran Geschmack gewinnen, haetten wir es fuer unser Theater adoptieren sollen.

Was der erstgedachte Kunstrichter an der deutschen "Sara" aussetzet, ist zum Teil nicht ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Verfasser wird lieber seine Fehler behalten, als sich der vielleicht ungluecklichen Muehe einer gaenzlichen Umarbeitung unterziehen wollen. Er erinnert sich, was Voltaire bei einer aehnlichen Gelegenheit sagte: "Man kann nicht immer alles ausfuehren, was uns unsere Freunde raten. Es gibt auch notwendige Fehler. Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel heilen wollte, muesste man das Leben nehmen. Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich sonst ganz gut."

Den zwoelften Abend (donnerstags, den 7. Mai) ward "Der Spieler", vom Regnard, aufgefuehret.

Dieses Stueck ist ohne Zweifel das beste, was Regnard gemacht hat; aber Riviere du Freny, der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die Buehne brachte, nahm ihn wegen der Erfindung in Anspruch. Er beklagte sich, dass ihm Regnard die Anlage und verschiedene Szenen gestohlen habe; Regnard schob die Beschuldigung zurueck, und itzt wissen wir von diesem Streite nur so viel mit Zuverlaessigkeit, dass einer von beiden der Plagiarius gewesen. Wenn es Regnard war, so muessen wir es ihm wohl noch dazu danken, dass er sich ueberwinden konnte, die Vertraulichkeit seines Freundes zu missbrauchen; er bemaechtigte sich, bloss zu unserm Besten, der Materialien, von denen er voraussahe, dass sie verhunzt werden wuerden. Wir haetten nur einen sehr elenden Spieler, wenn er gewissenhafter gewesen waere. Doch haette er die Tat eingestehen und dem armen Du Freny einen Teil der damit erworbnen Ehre lassen muessen.

Den dreizehnten Abend (freitags, den 8. Mai) ward "Der verheiratete Philosoph" wiederholst; und den Beschluss machte "Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter".

Der Verfasser dieses kleinen artigen Stueckes heisst Cerou; er studierte die Rechte, als er es im Jahre 1740 den Italienern in Paris zu spielen gab. Es faellt ungemein wohl aus.

Den vierzehnten Abend (montags, den 11. Mai) wurden "Die kokette Mutter", vom Quinault, und "Der Advokat Patelin" aufgefuehrt.

Jene wird von den Kennern unter die besten Stuecke gerechnet, die sich auf dem franzoesischen Theater aus dem vorigen Jahrhunderte erhalten haben. Es ist wirklich viel gutes Komisches darin, dessen sich Moliere nicht haette schaemen duerfen. Aber der fuenfte Akt und die ganze Aufloesung haette weit besser sein koennen; der alte Sklave, dessen in den vorhergehenden Akten gedacht wird, koemmt nicht zum Vorscheine; das Stueck schliesst mit einer kalten Erzaehlung, nachdem wir auf eine theatralische Handlung vorbereitet worden. Sonst ist es in der Geschichte des franzoesischen Theaters deswegen mit merkwuerdig, weil der laecherliche Marquis darin der erste von seiner Art ist. "Die kokette Mutter" ist auch sein eigentlichster Titel nicht, und Quinault haette es immer bei dem zweiten "Die veruneinigten Verliebten" koennen bewenden lassen.

"Der Advokat Patelin" ist eigentlich ein altes Possenspiel aus dem funfzehnten Jahrhunderte, das zu seiner Zeit ausserordentlichen Beifall fand. Es verdiente ihn auch, wegen der ungemeinen Lustigkeit und des guten Komischen, das aus der Handlung selbst und aus der Situation der Personen entspringet und nicht auf blossen Einfaellen beruhet. Brueys gab ihm eine neue Sprache und brachte es in die Form, in welcher es gegenwaertig aufgefuehret wird. Hr. Ekhof spielt den Patelin ganz vortrefflich.

Den funfzehnten Abend (dienstags, den 12. Mai) ward Lessings "Freigeist" vorgestellt.

Man kennt ihn hier unter dem Titel des "Beschaemten Freigeistes", weil man ihn von dem Trauerspiele des Hrn. von Brawe, das eben diese Aufschrift fuehret, unterscheiden wollen. Eigentlich kann man wohl nicht sagen, dass derjenige beschaemt wird, welcher sich bessert. Adrast ist auch nicht einzig und allein der Freigeist; sondern es nehmen mehrere Personen an diesem Charakter teil. Die eitle unbesonnene Henriette, der fuer Wahrheit und Irrtum gleichgueltige Lisidor, der spitzbuebische Johann sind alles Arten von Freigeistern, die zusammen den Titel des Stuecks erfuellen muessen. Doch was liegt an dem Titel? Genug, dass die Vorstellung alles Beifalls wuerdig war. Die Rollen sind ohne Ausnahme wohl besetzt; und besonders spielt Herr Boek den Theophan mit alle dem freundlichen Anstande, den dieser Charakter erfordert, um dem endlichen Unwillen ueber die Hartnaeckigkeit, mit der ihn Adrast verkennet, und auf dem die ganze Katastrophe beruhet, dagegen abstechen zu lassen.

Den Beschluss dieses Abends machte das Schaeferspiel des Hrn. Pfeffels:

"Der Schatz".

Dieser Dichter hat sich, ausser diesem kleinen Stuecke, noch durch ein anders, "Der Eremit", nicht unruehmlich bekannt gemacht. In den "Schatz" hat er mehr Interesse zu legen gesucht, als gemeiniglich unsere Schaeferspiele zu haben pflegen, deren ganzer Inhalt taendelnde Liebe ist. Sein Ausdruck ist nur oefters ein wenig zu gesucht und kostbar, wodurch die ohnedem schon allzu verfeinerten Empfindungen ein hoechst studiertes Ansehen bekommen, und zu nichts als frostigen Spielwerken des Witzes werden. Dieses gilt besonders von seinem "Eremiten", welches ein kleines Trauerspiel sein soll, das man, anstatt der allzu lustigen Nachspiele, auf ruehrende Stuecke koennte folgen lassen. Die Absicht ist recht gut; aber wir wollen vom Weinen doch noch lieber zum Lachen, als zum Gaehnen uebergehen.

4."Journal Etranger", Decembre 1761.
Vanusepiirang:
12+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
30 september 2018
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