Heidlings hörten lange nichts von Martin Greffinger.
Nachdem der Regierungsrat es durch heftige Szenen und eindringliche Ermahnungsbriefe versucht hatte, ihn von seinen törichten, verworrenen Plänen abzuhalten und er den väterlichen Warnungen nur einen hartnäckigen Widerstand entgegensetzte, verbot ihm der Onkel sein Haus. Man ließ ihn seiner Wege gehen, und die Verwandtschaft kümmerte sich nicht mehr um ihn. Denn er war mündig, elternlos und besaß ein kleines Vermögen, von dem er zur Not leben konnte. Freilich war bei seinen unglücklichen Grundsätzen und seiner Verspottung jeder Autorität nichts anderes anzunehmen, als dass er sein Geld auf irgend eine unsinnige Weise unter die Leute bringen und schließlich mit dem Bettelstab reumütig bei der Familie wieder anklopfen werde. Walter und der Regierungsrat sprachen oft von dieser Aussicht – mit Zorn, aber doch mit dem heimlichen Wunsch, den Triumph in nicht allzu ferner Zeit zu erleben.
Nicht einmal seinen Doktor hatte Martin gemacht. Jetzt redigierte er eine Zeitung, von der Agathe nur wusste, dass keine ihrer Bekannten sie las, und jedes Mal, wenn jemand ihren Namen erwähnte, brachen alle in ein verächtliches Lachen aus. Sie musste also wohl nichts wert sein.
Einmal kam ihr eine Nummer in die Hand, man hatte ihr in einem Laden etwas hineingewickelt. Es war schlechtes Papier, elender Druck – und dabei hieß das Blatt so lächerlich prahlerisch: Die Fackel. Agathe las darin – der Ton schien ihr unfein.
Wie schade, dass Martin so heruntergekommen war. Sie hatte großes Mitleid mit ihm.
Er war gewiss sehr verbittert und unglücklich. Sie hätte gern irgend welchen Einfluss auf ihn geübt, aber wie sollte sie das anstellen? Trotzdem er jetzt in M. wohnte, war er seit Eugenies Hochzeit gleichsam in eine andere, unterirdische Welt hinabgesunken, zu der Agathe nicht einmal den Zugang gefunden haben würde. Er war der einzige, mit dem sich ihre Gedanken außer mit Herrn von Lutz zuweilen beschäftigten. Sie konnte ihn nicht verdammen – was er auch tat, sie fühlte ihm den Weg nach, der dorthin führte, wo es dunkel und schaurig war.
Als sie ihn einmal auf der Straße traf und er mit eiligem Gruß an ihr vorüber wollte, stand sie still, gab ihm die Hand und fragte schüchtern, wie es ihm ginge.
Ein freundlicher Schein kam in sein düsteres, hart gewordenes Antlitz. Er schüttelte ihr sehr herzlich die Hand und sah sich noch einmal nach ihr um. Etwas von der alten Kinderfreundschaft für ihn lebte plötzlich in ihr auf. Sie hütete die flüchtige Begegnung als ihr Geheimnis.
Papa und Mama waren verreist, sie wollten das Osterfest in Bornau zubringen. Agathe sollte erst die Wäsche fertig besorgen und ihnen dann folgen. Es hatte so viel geregnet, dass die Sachen nicht zur rechten Zeit trocken geworden waren, und Papa wollte sich von seiner Urlaubszeit nicht noch ein paar Tage rauben lassen. Der Arzt hatte die Erholung dringend für ihn gefordert.
Warum musste er nur gerade jetzt so angegriffen sein? Gerade jetzt M. verlassen … es wurde Agathe furchtbar schwer. Zuweilen sagte sie sich: die Reise konnte nun auch einmal eine Prüfung für Lutz werden – wenn sein Gefühl nicht eine kurze Trennung bestand, so war es weiß Gott wenig genug wert.
Aber man konnte nicht wissen …
Von Stolz und Freudigkeit war nichts mehr in ihrer Liebe – der letzte Rest war von angstvollem Bangen verzehrt.
Sie hatte den ganzen Tag ordentlich gearbeitet, sich künstlich zu einem heftigen Tatendurst steigernd, und schickte nun die beiden Mädchen mit den Körben voll gelegter Wäsche zur Rolle.
Es war ein trüber Abend, feiner Regen ging nieder. Ungewöhnlich früh kam die Dämmerung geschlichen. Agathe hatte sich auf die Chaiselongue gelegt. Wie wenig sie jetzt leisten konnte – jammervoll.
Ein Klingeln schreckte sie aus leichtem Halbschlaf. Mit zitternden Knien ging sie nach der Tür. Immer kam ihr gleich der wahnwitzige Gedanke: wenn das jetzt Lutz wäre!
Sie öffnete die Flurtür ein wenig.
»Ich bin’s – Martin Greffinger«, sagte eine bekannte Stimme. »Bitte, lass mich einen Augenblick hinein, Agathe.«
Er schob die Tür auf und trat ein, während sie noch überlegte, ob sie das Verbot des Vaters ignorieren dürfe. Und dann verschloss er selbst die Tür und hängte die Sicherheitskette ein – das fiel ihr als sonderbar auf.
»Ich will Dich nicht lange stören«, sagte er etwas kurzatmig. »Deine Eltern sind verreist – sie werden nicht erfahren, dass ich hier war … Ich wusste, dass die Mädchen vorhin fortgegangen sind. Ich will Dich nicht in Ungelegenheiten bringen.«
»Willst Du nicht hereinkommen?« fragte Agathe verlegen.
Er folgte ihr ins Wohnzimmer, aber als sie ihm einen Stuhl bieten wollte, sagte er hastig:
»Nein, lass nur – ich stehe auf dem Sprunge … Ich wollte Dir nur Adieu sagen.«
»Willst Du verreisen?« fragte Agathe höflich.
»Ich bin ausgewiesen. Ja – polizeilich.«
»Martin – um Gotteswillen!«
Er lachte kurz auf. »Sie sind ja wie die Spürhunde hinter uns her – die feige Bande!«
Er ballte die Faust.
»Wenn ich mich nach zwölf Uhr noch hier blicken lasse, werde ich von Gendarmen über die Grenze geschafft. – Na hab’ nur keine Angst, ich fahre mit dem nächsten Schnellzug nach der Schweiz. Dann seid Ihr mich los!«
Er lachte wieder, und Agathe sah ihn verwirrt, erschrocken und ratlos an.
Er beobachtete sie einen Augenblick schweigend.
»Du – ich habe eine Bitte an Dich. Hebe mir dies Paket auf – ich werde jedenfalls an der Grenze untersucht.«
»– Kannst ruhig sein«, fügte er mit humoristischem Ausdruck hinzu, »es sind nur Schriften. Wenn ich sie verbrenne, ist’s immerhin ein Verlust für mich. Darum dacht’ ich, Du könntest sie mir vielleicht nachschicken. Willst Du sie übrigens vorher lesen – dem steht nichts im Wege.«
Agathe schauderte wie vor etwas Unreinem zurück.
»Das möcht’ ich nicht, Martin – bedenke doch …«
»Es hat ja keine Gefahr! Bei der Tochter vom Regierungsrat Heidling wird keine Haussuchung gehalten – darauf kannst Du Dich verlassen … Deine Eltern beaufsichtigen Deine Korrespondenz doch nicht?«
»Nein – aber …«
»Neulich kam es mir vor, als wäre Mut in Dir … Ja, das habe ich Dir hoch angerechnet – dass Du mir da auf der Straße die Hand gabst … Na – interessiert es Dich nicht, zu wissen, warum ich mich eigentlich von Euch allen losgemacht habe?«
»Doch – es ist mir nur so etwas Fremdes, Ängstliches.«
»Ganz wie Du willst. Ich hatte das Bedürfnis, mich auf irgend eine Weise dankbar zu zeigen. Verstehst Du? Ich dachte: sie ist doch einen Versuch wert. – Siehst Du – da sind Geschichten drin, die Dich aufrütteln – das weiß ich – die Dich anders packen werden, als das blödsinnige Zeug, was Du sonst liest.«
»Ich möchte nicht …«
»Also – Du bist doch feige!«
»Nein – aber ich finde es unrecht, sich gegen die gesetzliche Ordnung zu empören«, antwortete Agathe kalt. Es schwebte ihr vor, dass sie ihre Pflicht tun müsse, indem sie dieses Urteil über die Richtung ihres Vetters fällte.
Martin blickte sie an in dem grauen Dämmerlicht des trüben Frühlingsabends. Sein Gesicht war müde und abgearbeitet, Falten zogen sich über die Stirn, seine Augen hatten einen tiefen, gramvollen Ausdruck, aber der Kummer lag nur wie eine Staubschicht über einer still zehrenden Glut.
Er drückte das Paket Schriften mit dem Arm fester an sich.
»Agathe – mir tut’s ja nichts, ob ich in der Schweiz bin oder hier. Aber es lassen sich arme Leute von ihrer Arbeit und ihrer Familie fortjagen, ins bittere Elend – um ihrer Überzeugung willen. Ja – zucke nur mit den Schultern! Ich habe im Dienste unserer Sache Frauen kennen gelernt, die täglich ihre Freiheit, ihre Existenz aufs Spiel setzten, um ihren Schwestern aus Not und Schande zu helfen. Das sind Frauen, die das Herz auf dem rechten Fleck haben! Die ich hochachte! – Aber Du willst von ihnen ja nicht einmal hören … Ihr kalten, armseligen Bougeois-Würmer – ich glaube, Ihr könntet nicht einmal ein Opfer bringen, wenn der Liebste es von Euch verlangte!«
»Martin …«
»Ich danke Dir, dass Du mir gezeigt hast, was wir von Euresgleichen zu erwarten haben. Das soll mir eine Lehre sein. Leb’ wohl.«
Agathe atmete schnell, ihr Antlitz brannte.
Greffinger war schon an der Tür, als sie die Hand ausstreckte und leise rief:
»Lass die Bücher hier.«
»Du willst? Du willst wirklich?«
»Ich will sie Dir nachschicken. Aber weiter nichts.«
»Agathe – das ist schön! Vergiss nicht … ich bin Dein Freund … Und lesen wirst Du sie schon. Steck’ sie dann ins Feuer!«
Die Hand wurde ihr geschüttelt, dass sie ihr weh tat. Die Tür schlug ins Schloss, und draußen verklangen Martin Greffingers kräftige Schritte, mit denen er in die Verbannung ging.
Agathe hielt das Bündel verbotener Bücher in den Händen und blickte beklommen auf sie nieder.
Dokumente einer Welt, aus der große, geheimnisvolle Stimmen zu ihr herübertönten – von Schicksalen redend, welche die Alltäglichkeit überragten – aus einer Welt, in der man mit so stolzem frohen Lachen Vaterland, Freunde, die sanfte, bequeme Gewohnheit ließ und Verachtung und Gefahr auf sich nahm … Aus einer Welt, in der Frauen, die ihr täglich Brot verdienen mussten, allstündlich sich dem Hunger oder dem Gefängnis preisgaben, um den Genossen und der heiligen Sache zu dienen.
Wo geschah solches in ihrer – in der guten Gesellschaft? Wer war dessen fähig von allen – allen, die sie kannte?
Wie kam das Feuer über diese Menschen? Auf welche Weise wurden sie ergriffen? Wie musste es sein, so tatbereit, so opferglücklich dazustehen und sich selbst zu geben in schauernder Lust – sich selbst in einen ungeheuren, furchtbaren Kampf zu werfen, dessen dumpfes Toben sie plötzliche um sich her ahnte.
Sie musste davon erfahren – wissen – empfinden – alles, was sie erfassen konnte – was in dem Bereich ihrer Hände war … Das Paket öffnen – sehen – sehen … Unter diesem braunen Papier glühte eine Offenbarung.
Martin – der war stark und freudig – der war gerettet! Gab es hier Erlösung von der Gewalt, die heimlich an ihr sog und sog, dass das Blut ihr blass und krank wurde, dass die Sehnen ihr erschlafften und die Nerven in schmerzlichem Zucken vibrierten, dass alles klare Denken in ihr zu einem dumpfen, fieberhaften, quälerischen Träumen wurde –?
Der Wunsch überwältigte sie bis zur Atemlosigkeit, ähnlich jenem, der sie einst als Kind heimlich in der Nacht zur Leiche der Mitschülerin getrieben hatte.
Wenn nur jetzt niemand sie störte – fasste es nicht wieder draußen an die Klingel Eugenie? Nein – es ging vorüber.
Gott sei Dank!
Wie unsinnig, Gott zu danken für etwas, das doch unrecht war … Aber so froh ist sie lange nicht gewesen, als nun, da die Hefte und die losen Blätter im Schein der schnell entzündeten Lampe vor ihr liegen: Schwarze Hefte mit roter Schrift – rote mit schwarzen Buchstaben und seltsamen Sinnbildern geschmückt: eine Hand, die eine Fackel schwingt, ein Weib mit einer Freiheitsmütze und einem bloßen Schwert, ihr zu Füßen zerbrochene Kronen, gestürzte Kreuze, – ein Thron, durch dessen klaffende Fugen Schlangen und Würmer kriechen.
Sie las im Stehen.
Verse … Gott – solche Dichter hatten die …?
Ja, ja – tausendmal ja! Das war schön – wild, herrlich! –
*
Und wenn sie morgen, statt nach Bornau zu reisen, Martin, in die Schweiz folgte? – Ihr Vater bekam einen Brief: seine Tochter habe sich entschlossen, Sozialdemokratin zu werden und »der Sache« ihre Dienste zu widmen. Martin würde sie freudig als Genossin empfangen. Das war sicher. – Keine Liebe zwischen ihnen. Zwei Unglückliche, die dem Volke ihre gebrochenen Herzen weihten. Elend zu Elend. Das gehörte zusammen! Lutz würde dann wissen, was er verloren – sie suchen und niemals finden … Vielleicht im Zuchthaus … Vielleicht auf dem Schaffot. Dahin würde es kommen, Walter sagte es ja immer. Der Bruder zu ihrer Exekution beordert. Sie – ruhig, lächelnd, ohne Tränen. Gott! mein Gott!
Aber sie konnte so stehend nicht weiter lesen. Der Rücken tat ihr zu weh. Die Arme waren ihr wie gelähmt vom Hantieren mit den schweren Wäschestücken. – zwölf Tischtücher waren es allein gewesen.
Die Mädchen würden noch lange nicht wiederkommen, sie hatten drei Körbe mit, und außerdem fanden sie auf der Rolle immer Freundinnen, mit denen sie endlos schwatzten. Das kleine Vergnügen war ihnen zu gönnen. Dorte und Luise erschienen ihr plötzlich wie von einer heiligen Würde umleuchtet – sie waren geplagte Proletarierinnen.
Agathe legte sich behaglich auf die Chaiselongue und zog die Lampe näher. Da stand noch der Rest von dem Wein, den sie sich vorhin eingeschenkt hatte, und kleine Kuchen lagen auf einem Tellerchen. Sie war brennend durstig und aß und trank, während sie las und las – von dem Elend und dem Hunger und der Not des Volkes und ihrem Hass und dem Ringen nach Befreiung.
Die Leidenschaft, die aus den Blättern sprühte, stieg ihr zu Kopf und jagte ihr das matte Blut durch die Adern.
Einmal schrak sie jäh zusammen – sie glaubte, es überraschte sie jemand.
Die Mädchen kamen keuchend zurück, sie trieften vor Nässe, denn es regnete stark. Küchen-Dorte ging brummend in ihre Kammer. Aber Wiesing huschte noch einmal hinaus ins Dunkel, wo einer wartend in der Nähe der Haustür stand und heftige Küsse das feuchte Mädchen wärmten. Agathe fasste die Hefte und nahm die Lampe, um das ihr anvertraute Gut in ihrem Zimmer zu verbergen. Sie kam an dem großen Stehspiegel vorüber. Wie sie aussah … Sie stand still und hob die Lampe empor. Das Haar hatte sie zerwühlt, es hing ihr in losem, dicken Gelock um das heiße Gesicht, die Wangen schienen wie von der Sonne durchglüht, und ihre Augen strahlten in Begeisterung – sie war sich selbst überraschend in dieser ihr fremden, leuchtenden Schöne.
Sähe Lutz sie so!
Warum kam er nicht in dem Augenblick … Ach …! warum war das unmöglich!
Warum konnte sie nicht zu Martin?
Ein kurzer, schluchzender Schrei, und das Mädchen warf sich lang auf das kleine Sofa nieder – die Arme weit hinausgebreitet in dem hilflosen Begehren nach etwas, das sie an die Brust drücken konnte – nach der Empfängnis von Kraft, von dem befruchtenden Geistesodem, der im Frühlingssturm über die Erde strömt.
Rings um sie her standen die zierlichen, hellen Möbel still und ordentlich auf ihren Plätzen, der kleine Lampenschein glimmerte durch rosa Papierschleier auf den gläsernen und elfenbeinernen Nippsachen, den Fotografien und Kotillonandenken. Und die ganze niedliche kleine Welt – ihre Welt sah sie verwundert an. – Die ausgebreiteten Arme sanken ihr nieder, ein wildes verzweifeltes Weinen beruhigte endlich den Krampf, der sie schüttelte.
In der Charwoche fuhr Agathe nach Bornau. Während sie ihr Billet löste, stand eine kleine Dame in diskreter schwarzer Toilette neben ihr und wartete, bis der Zugang zum Schalter frei wurde. Ein grauer Gazeschleier verhüllte ihr Gesicht, doch erkannte Agathe Fräulein Daniel.
Wohin mochte sie fahren? Wenn sie nun beide in dasselbe Coupé gerieten? Ob Lutz in der Nähe war?
Er hatte sie nicht begleitet!
Das heftigste Triumphgefühl durchdrang Agathe.
Die Daniel war viel vornehmer gekleidet, als sie selbst. Und Lutz legte so großen Wert auf diese Äußerlichkeiten!
Agathe wurde vom Schaffner in ein schon fast gefülltes Damencoupé geschoben. Wo die Daniel einstieg, konnte sie nicht mehr beobachten. Sie war enttäuscht, als ihr die Sensation entging, mit der Schauspielerin zusammen zu fahren. Ihre Gedanken beschäftigten sich, eine Szene auszumalen, die zwischen ihnen hätte entstehen können, wenn die Daniel, allein mit ihr im Wagen, ihr vorgeworfen hätte, sie raube ihr Adrians Herz.
Es war schon später Nachmittag. Ehe man die Station erreichte, wo Agathe den Zug wechseln musste, hielt die Lokomotive auf offenem Felde. Wartend, miteinander flüsternd, standen die Schaffner im Regen.
Und das ist Frühling, dachte Agathe, die flach sich dehnende, braune, von blassgrünen Feldstreifen durchzogene, nebelfeuchte Landschaft betrachtend, – das soll Frühling sein. –
Sie interessierte sich nicht besonders für die Ursachen ihres unvorhergesehenen Aufenthaltes. Irgendwie musste die Sache schon in Ordnung gebracht werden und man ans Ziel kommen.
Pfeifen und langsames Weiterfahren – nach kurzer Zeit stand der Zug abermals, die Türen wurden aufgerissen.
»Aussteigen!!«
Bahnbeamte, ein paar Schutzleute wiesen den Weg und gaben Antwort.
Das Gleis war nicht frei. Ein Zusammenstoß von Güterwagen hatte stattgefunden. Passagiere waren nicht verunglückt – nur ein Heizer tot. Dort – rechts lag die Unglücksstätte. Die zertrümmerten Wagen, wie im Todeskampfe sich gegeneinander bäumende Ungeheuer, hoch und schwarz in die graue Luft ragend. Rufen und Laufen von Menschen. Der Regen prasselte stärker. Die Menge drängte dem Bahnhofs-Gebäude entgegen. Zwischen zwei Beamten kam eine Frau geschwankt, das Gesicht in eine blaue Schürze gepresst, das Haar durchnässt, hin und her taumelnd in fassungslosem Weinen. Die Frau des verunglückten Heizers. Man blickte ihr in scheuem Mitleid nach.
Als die hohe, glasbedeckte Halle erreicht war, sonderte sich ein Teil der Menschen nach dem Ausgange ab. Die Zurückbleibenden, unter ihnen Agathe, strömten eine breite Treppe hinunter, um durch einen Tunnel den jenseitigen Bahnsteig und womöglich noch den Schnellzug erreichen zu können.
Junge Männer mit koketten Reisemützen und flatternden Havelocks eilten gewandt voraus, sich die besten Plätze zu sichern, Kofferträger schafften rufend und scheltend Platz für ihre Bürde. Die gelben Gepäckkarren rasselten, Kinder wurden an der Hand von Müttern und Vätern rücksichtslos weitergezerrt, alte Damen mit Schachteln und Schirmen trippelten und rannten keuchend vorwärts. Eile tat not – man hatte sich sehr verspätet.
Agathe fiel ein kleiner Junge auf in einem hübschen Mäntelchen, der schon sekundenlang mit dem Strom in ihrer Nähe fortgeschoben wurde, wobei er sich furchtsam nach allen Seiten umsah. Und nun blieb er stehen, ein winziges Hindernis für die Vorwärtsdrängenden, das unsanft aus dem Wege gestoßen wurde. Er begann zu weinen. Agathe wendete sich zu ihm zurück.
»Kleiner, Du hast Dich wohl verloren?«
Er schluchzte aus und nickte mit dem Kopfe.
Was war zu tun? Man konnte doch das kleine Kind hier nicht allein lassen.
»Mit wem bist Du denn gekommen? Mit Deiner Mama?«
Er schüttelte den Kopf.
»Wie heißt Du denn?«
»Didi.«
Agathe führte das Kind ins Restaurant und sah dabei durch die großen Fenster, wie draußen ihr Zug abfuhr. Sie wandte sich zu der Büffetdame, um zu fragen, was man tun könne. Augenscheinlich war das Kind in der Verwirrung vom anderen Perron herübergekommen. Ein Dienstmann sollte den Fund bei den Portiers und in den verschiedenen Wartesälen des weitläufigen Zentralbahnhofes bekannt machen. Inzwischen behielt Agathe den Kleinen unter ihrer Obhut. Der nächste Zug für sie ging erst in einer Stunde.
Hier auf dieser Seite spürte man schon nichts mehr von dem Unglücksfall, der jenseits des Tunnels die Ordnung störte. Hier ging alles seinen einförmig ruhelosen Gang weiter.
Neue Züge rasselten donnernd in die gewaltige Halle – Läuten – Pfeifen. Neue Menschenströme drangen die Treppen hinab und in die Säle.
Agathe zog sich mit ihrem Schützling ins Damenzimmer zurück. Sie nahm ihm das nasse Mäntelchen ab und wickelte ihn in ihr Plaid, dann setzte sie sich neben das Kind auf das Sofa und fütterte es mit einer Tasse Schokolade. Ganz still und traulich war es hier. Der Kellner hatte eine Gasflamme angezündet und die Tür geschlossen.
Ein Kind wie dieses – und von der Reise kommen … Von Lutz abgeholt werden, in einem geschlossenen Wagen, an die Scheiben schlägt der Regen, in seinen Arm sich drücken, mit dem schläfrigen Kleinen auf dem Schoß … Wie trugen denn Menschen nur solche Wonne? Sie wurde doch manchem zu teil. Aber mehr zu fühlen, als bei der Vorstellung, wie das sein könnte … das war ja nicht möglich.
Agathe zog den kleinen Buben an sich – fest – fest, und küsste ihn auf die Stirn, auf das feine blonde Haar, auf die Augenbrauen.
Erschrocken ließ sie ihn los, als habe sie etwas Unrechtes getan, weil die Tür aufgerissen wurde. Zwei Frauen kamen eilig herein. Agathe sah eine diskrete, schwarze Toilette – einen grauen Gazeschleier, von einem blassen, verschminkten Gesichtchen fortgeschoben – Didi sprang vom Sofa, aus dem Plaid und jauchzte ihnen entgegen:
»Mama! Meine Mama!«
»Da ist er, der Unglücksbube! wahrhaftig!« rief die Daniel. »Mein Schatz! O Du Schatzerl – haben wir Dich gesucht!«
Sie hob ihn auf und hielt ihn am Herzen – fest – fest. Küsste ihn auf die Stirn – auf das feine blonde Haar und auf die Augenbrauen.
Die Frau, die mit ihr kam, entschuldigte sich bei Agathe, sie habe das Kind nur einen Augenblick allein gelassen, gerade unter der großen Uhr, wo sie die Mama erwarteten, weil sie gern das Unglück sehen wollte – und der Schrecken, als das Kind verschwunden war!
Agathe hörte nichts.
Die Daniel – sie, eine Mutter!
Und Adrian Lutz?
Es wurde mit einem Mal hell und klar und eiskalt in ihr. Sie sah alles Vorhergegangene – sie wusste alles.
Die Schauspielerin wandte sich mit ausgestreckten Händen zu Agathe, um ihr zu danken. »Ich bin Ihnen sehr verpflichtet –«
Sie fand ihre Worte nicht weiter vor dem verletzenden Hochmut in Agathes Haltung.
»Sie sind lieb zu dem Kinde gewesen«, stammelte sie unsicher und erregt. »Es ist nun einmal … Ich bin immer so in Angst um das Kind, weil ich nicht bei ihm sein kann … Wenn ich einen Tag keine Nachricht habe, gebärde ich mich wie eine Unsinnige.«
Sie war ganz verweint und zerstört. Sie sah Agathes stumme, starre Abwehr schon nicht mehr. Sie band dem Kinde das Mäntelchen um, setzte ihm die runde Mütze auf. Die Frau, bei der das Kind in Pflege war, wollte ihr helfen, aber sie ließ es nicht zu.
Agathe folgte dem mütterlichen Tun der kleinen Soubrette mit den Blicken, wie sie sie oft auf der Bühne beobachtet hatte. Nicht anders. Alles Empfinden schien plötzlich in ihr ausgelöscht.
Der Kleine war bereit zum Gehen.
»Komm, Adrian, küss’ der Dame die Hand und sag’ Adieu!«
Agathe wich zurück. Aber es war ja gleich – alles war gleichgültig. Und sie bückte sich und berührte des Kindes Wange mit ihren kalten, erstarrten Lippen. Sie reichte auch der Daniel die Hand – ganz mechanisch.
Über das erregte Gesichtchen der Schauspielerin ging ein Ausdruck von Erschrecken. Unschlüssig stand sie vor Agathe.
»Ich glaube – kommen wir nicht aus derselben Stadt?«
»Wir sind uns wohl öfter begegnet«, antwortete Agathe.
Die Daniel wurde plötzlich sehr rot, ihr Mund begann zu zittern.
Auch Agathe errötete und sah zur Seite. Jetzt kam er plötzlich – der Schmerz.
»Fräulein – ich bitte Sie – verraten Sie mein armes Geheimnis nicht!«
Die Augen der beiden Mädchen blickten ineinander und strömten plötzlich über von Tränen – von einer unendlichen Traurigkeit. Sie verstanden sich in etwas Geheimnisvollem, in einem Leiden, für das es keinen Laut gab – das auch durch kein Wort hatte bezeichnet werden können und das weit hinausging über ihr eigenes Schicksal.
»Sie sind gut«, flüsterte die Daniel. »Es ist nicht meinetwegen. Nur er – es ist ihm so peinlich!«
Bitter und hastig sagte sie, indem sie die Hand auf des Kindes Kopf legte:
»Man begreift eben nicht, wie ein Vater solchen Buben verleugnen will. Alles lernt man vergeben – schließlich, wenn man immer fürchtet, alles zu verlieren.«
Agathe vermochte sich fast nicht mehr aufrecht zu halten. Fröstelnd empfand sie einen Rest von Bühnenroutine in der Art, wie die Daniel ihre Worte betonte.
Nur sich selbst nicht verraten – nicht dieser! Alle ihre Kräfte rangen mit dem Verlangen, das wie ein Schwindel sie überströmte, sich zu entblößen und in armseligem Jammer der, die ihn auch liebte, um den Hals zu fallen, zu schreien, zu verzweifeln.
Aber ruhig bleiben – Dame bleiben – das hatte Agathe lebenslang geübt – das wenigstens gelang ihr.
Mit ernster, mädchenhafter Würde antwortete sie der Schauspielerin:
»Ich könnte nicht vergeben, wo ich verachten müsste.«
»Verachten? Das verstehn Sie ja nicht. – Ach – er –! Er liebt mich ja nicht mehr. Aber er liebt auch die anderen nicht – keine – keine. Sie werden ihm eben alle so schnell zuwider. Und wenn ich sterbe und man öffnet mir das Herz – ich glaube, man findet seinen Namen da mit glühenden Buchstaben eingebrannt.«
»Gnädige Frau – regen sich doch nicht auf, das Kind fängt auch schon an zu weinen«, mahnte die Bürgersfrau, welche Didi an die Hand genommen hatte.
Die Daniel schluchzte auf, trocknete sich das Antlitz und zog den grauen Schleier vor.
»Warum denn auch darüber reden – es ist ja umsonst. Verzeihen Sie, dass ich Sie mit meinem Kummer belästigte. Nicht wahr – ich habe Ihr Versprechen?«
Agathe neigte den Kopf. Die Frauen verließen mit dem Kinde das Wartezimmer. Nach einigen Minuten kamen andere Leute herein, es läutete – man rief zum Einsteigen.