Mission: Haruspex

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»Eine Woche? Das darf doch nicht wahr sein! Solange alles stillsteht, rinnt mir das Geld durch die Finger. Können Sie nicht in einigen Abschnitten weiterarbeiten?«

»Das geht nicht, Herr van Bronk, das wissen Sie doch. Es tut mir leid, das Gelände muss erst von der Behörde freigegeben werden. Und das passiert erst, wenn die Archäologen fertig sind. Da kann man nichts machen …«

Van Bronk schnaubte wütend und legte auf. Kann man nichts machen? Von wegen! Er würde demnächst beim Empfang im Rathaus, zu dem er als großer Investor

und Gönner der Stadt Bremen natürlich eingeladen war, Dampf machen. Die richtigen Leute würden anwesend sein. Diejenigen, die im Bauressort das Sagen hatten, würden sicher zuhören, wenn er ihnen klarmachte, dass das großartige Vorhaben auf der Kippe stand, wenn es nicht bald weiterginge. Da sich die Politiker immer gerne im Erfolg sonnten und so taten, als wären große Projekte wie das BEC auf ihrem Mist gewachsen, hatten sie auch Interesse daran, das Ganze so schnell wie möglich umzusetzen. Dynamisch vorangetriebene Stadtentwicklung war immer ein gutes Argument, wenn Wahlen anstanden. Und wenn die ganze Sache platzte, würde nicht nur van Bronk selbst, sondern auch die Politik dumm dastehen.

Während er noch darüber nachdachte, wie und bei wem er seine Kontakte am besten spielen lassen konnte, fiel ihm ein, dass er unbedingt bei Heinlein anrufen musste. Der einzige Vorteil an der ganzen Warterei war, dass der Wachschutz-Heini mehr Zeit hatte, die Baustelle zu »säubern«, wie er es nannte. Nur wenn die Archäologen nichts mehr fänden, würde es endlich weitergehen. Wenn der Bauleiter mit seiner Prognose recht hatte, dass die Archäologen in etwa einer Woche zurückkehrten, musste bis dahin alles verschwunden sein. Heinlein würde sich mit dem Umgraben und Wegschaffen also ganz schön beeilen müssen. Van Bronk griff zum Telefon. »Dem werde ich mal ordentlich einheizen«, grummelte er, während er die Nummer tippte.

Raika hatte schon mehrmals Anlauf genommen, aber dann ihr Handy doch wieder weggesteckt. Es fiel ihr unglaublich schwer, ihre Großtante anzurufen, denn sie wusste, dass alle Diskussionen von vorne beginnen würden – jetzt sogar mit noch mehr Zündstoff, denn das Stäbchen würde allem, was Tante Jol von ihr erwartete, noch mehr Dringlichkeit verleihen. Sie stöhnte. Diesmal legte sie nicht wieder auf und wartete, bis ihre Tante dranging.

»Raika! Wie schön, dass du dich meldest. Ich hatte schon so ein Gefühl …«

»Hallo, Tante Jol, wie geht es dir?«

»Danke, ganz gut. Aber um mich das zu fragen, hast du doch nicht angerufen, oder? Gibt es was zu besprechen?«

Raika schluckte. Ihre Tante war immer so direkt. Kein Geplauder, keine Höflichkeitsfloskeln, immer gleich zur Sache. Na ja, manchmal machte das die Dinge auch einfacher.

»Ja«, antwortete sie. »Ich habe etwas gefunden, was ich dir gerne zeigen möchte. Hast du am Wochenende Zeit? Ich komme nach Schortens, wenn du da bist?«

Sie hörte ihre Tante kichern. »Wo soll ich denn sonst sein? Komm nur, ich freue mich schon auf dich.«

Damit war das Gespräch beendet. Nicht mal tschüs hatte Tante Jol gesagt. Und auch nicht gefragt, wann genau Raika denn kommen würde. Trotzdem würde sie mit ihrem sechsten Sinn den Kaffee exakt dann auf den Tisch stellen, wenn sie mit ihrem klapprigen Wagen auf den Hof rollte, da war sich Raika sicher.

»Mark hat geschrieben«, sagte Zack zu Tomke und Michi, als er sein Handy beim Verlassen des Schulgebäudes an der Hamburger Straße wieder anschaltete. »Er will, dass wir ihn besuchen, um etwas zu besprechen, und fragt, wann wir können.«

»Ich kann sofort«, sagte Michi fröhlich und holte eine Banane aus seinem Rucksack. »Nur erst was essen.«

Tomke guckte ihren Bruder an und sagte: »Nein, kannst du nicht. Wir haben Mama versprochen, uns heute ums Aufräumen zu kümmern. Und einkaufen sollen wir auch, erinnerst du dich?«

Michi zuckte mit den Schultern. »Dann eben danach.«

»Nein, danach gehe ich zum Handball wie jeden Donnerstag, du Torfnase.«

Michi nickte. »Dann geh doch zum Handball, ich fahr mit Zack zu Mark.«

»Ich kann heute auch nicht, Zahnarzttermin. Soll ich ihm sagen, dass wir morgen kommen?«, schlug Zack vor.

»Okay, dann eben morgen. Obwohl ich das blöd finde. Wenn er sich schon meldet, können wir doch auch direkt hinfahren.«

»Also, ganz verstehe ich die Eile nicht. Neulich warst du doch noch total beleidigt, weil er nicht sagen wollte, was er da für Fotos auf dem Bildschirm hatte. Lass ihn doch ein bisschen schmoren«, sagte Tomke und warf ihre Haare zurück.

»Du bist sooo zickig«, stöhnte Michi und schüttelte den Kopf. »Das war nur in dem Moment komisch. Ist vergeben und vergessen, stimmt’s, Zack?«

Zack grinste. »Ich sag ihm, dass wir morgen nach der Schule vorbeikommen, okay?«

»Meinetwegen«, grummelte Michi.

Freitagnachmittag – und für Anfang Februar sogar einigermaßen passables Wetter, sodass das Fahrradfahren von der östlichen Vorstadt bis zur Neuen Vahr keine allzu große Herausforderung darstellte. Die Altbauten und kleinen Mehrfamilienhäuser des Bremer Gete-Viertels wichen langsam den großen Wohnblocks der Bremer Vahr, die für den zum Ende der 1950er-Jahre des letzten Jahrhunderts aus dem Boden gestampften Stadtteil so typisch waren. Ziel der drei sich abstrampelnden Jugendlichen war das von weitem sichtbare Aalto-Hochhaus, das alles wie ein riesiger Leuchtturm überragte.

Im fünften Stock wurden Zack, Tomke und Michi bereits von Mark erwartet: »Da seid ihr ja, gut, dass ihr Zeit habt. Ich muss euch unbedingt was zeigen!«

»Warte«, schnaufte Michi, »erst mal Jacke aus und so.«

Mark war ungeduldig. Seit 24 Stunden überlegte er hin und her, was es mit der Baustelle und vor allem mit der Unwissenheit von Meyers Kollegen auf sich haben könnte. Er rollte in sein Zimmer und rief die Fotos auf.

»Guckt mal«, begann er zu erklären, während die drei Freunde noch im Flur mit Jacken und Schuhen beschäftigt waren.

»Hey, das ist doch das Zeug, was du uns neulich nicht zeigen wolltest«, rief Michi, der als erster neben Mark Platz nahm.

»Ja, äh, sorry, ist eigentlich geheim … Oder jedenfalls hat dieser Meyer von der Polizei gesagt, ich soll es niemandem zeigen. Aber jetzt kommt mir das alles so komisch vor, und Meyer ist nicht erreichbar. Und deshalb dachte ich, ihr könntet mal draufschauen und mit mir zusammen überlegen, was ich jetzt machen soll.«

Während er erklärte, womit Meyer ihn beauftragt hatte, ließ er die Bilder der letzten Woche durchlaufen.

»Und warum sollst du das für Meyer machen?«, fragte Zack mit gerunzelter Stirn. »Ich meine, da passiert doch nichts. Wieso überwacht die Polizei eine Baustelle mit einer Drohne? Was soll der Aufwand?«

»Das habe ich mich auch gefragt, aber letztendlich habe ich mich über die Kohle gefreut und nicht weiter nachgebohrt. War auch voll langweilig – bis gestern. Da ist mir aufgefallen, dass sich das Gelände verändert. Nachts bewegt da irgendjemand Sand hin und her.«

»Sehr merkwürdig«, sagte Tomke. »Was wird denn da überhaupt gebaut?«

»Im Moment nicht viel, da passiert seit drei Wochen so gut wie nichts. Eigentlich soll es eine Shopping-Mall mit allem möglichen Schnick-Schnack werden. ›Event-Center‹ steht im Bauantrag, das habe ich beim Stadtamt gefunden.«

»Mark, du hast doch nicht die Behördenrechner gehackt, oder?« Tomke war sich zwar sicher, dass das eine überflüssige Frage war, aber sie konnte es sich dennoch nicht verkneifen, Mark an sein Versprechen zu erinnern.

»Ich weiß, das hätte ich nicht tun dürfen, aber was soll ich denn machen? Ich muss doch irgendwo anfangen, nach Informationen zu suchen. Soweit ich sehen konnte, sind die mit ihrem Zeitplan schon weit im Verzug. Das Fundament für das Gebäude hätte schon längst fertig sein müssen.«

»Also«, sagte Michi, »nur, damit ich das richtig kapiere: Meyer bezahlt Geld dafür, dass du Sandhaufen überwachst, richtig?«

»So würde ich das jetzt nicht sagen …«, fing Mark an.

»Moment, ich bin noch nicht fertig. Also, du überwachst Sandhaufen, und als du ihm sagen willst, dass sie sich bewegen, ist er nicht erreichbar, und sein Kollege weiß nicht, wovon du redest, stimmt’s?«

»Na ja, das hört sich ziemlich blöde an, wenn du es so formulierst.«

»Korrekt, oberbekloppt würde ich sagen. Gut, dass wir dich schon länger kennen, sonst würde ich vermuten, du hast nicht alle Tassen im Schrank.« Michi lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenigstens kann ich jetzt verstehen, warum du uns das neulich nicht zeigen wolltest. Ist ja irgendwie peinlich, sowas Blödes machen zu müssen.«

Tomke gab ihrem Bruder einen Hieb auf den Oberarm. »Sei doch nicht so arrogant! Mark fragt uns ja um Hilfe, weil er das Gefühl hat, dass das alles ziemlich blöd ist, da musst du doch nicht noch in die Kerbe hauen. Lass uns mal überlegen, was man jetzt tun kann. Was sagst du, Zack?«

»Weiß ich auch nicht.« Er fand es auch unnötig, dass sich Mark so aufregte. »Warte einfach, bis Meyer sich meldet.«

»Ich fasse es nicht! Hier geht ganz offensichtlich etwas Merkwürdiges vor, und ihr wollt mir nicht helfen?«

»Wir wollen helfen, aber wenn die Polizei …« Weiter kam Tomke nicht, denn sie hatte dem enttäuschten Gesichtsausdruck von Mark nichts entgegenzusetzen.

Zack lenkte ein: »Na gut, ich denke, wir könnten uns das etwas näher ansehen. Fahren wir mal hin, okay?«

Drei Augenpaare waren auf Zack gerichtet. Michi sprach als Erster: »Im Ernst jetzt? Du meinst, wir sollen das Sandhaufen-Movement auch noch persönlich überwachen? Das wird ja immer bescheuerter!«

 

»Ich weiß auch nicht …«, fügte Tomke an.

»Das wäre super! Ich würde ja selbst hinfahren und mich da umsehen, aber ich kann halt nicht«, sagte Mark grinsend und klopfte auf die Räder seines Rollstuhls. »Für mich müssten sie da erst ’ne Straße bauen.«

»Also, ich finde nach wie vor, Meyer kann sich darum kümmern«, wandte Michi ein.

»Michi, Mann, was ist mit dir los? Sonst bist du doch auch sofort dabei, wenn’s spannend wird!« Mark blickte ihn erwartungsvoll an.

»Erstens finde ich es gar nicht spannend, und zweitens ist es nach Huchting so weit, ich habe keine Lust, da mit dem Rad hinzufahren«, gab Michi zu.

Tomke rollte mit den Augen und sagte dann: »Vielleicht hat Mark recht. Wenn die anderen Leute bei der Polizei davon nichts wissen, dann sollten wir erst mal gucken, was da los ist. Vielleicht ist Polizeioberrat Meyer in irgendwelche merkwürdigen Dinge verstrickt, an denen Mark sich nicht beteiligen sollte. Wir können ja mit der Straßenbahn fahren, wenn du zu faul bist.«

»Na gut, von mir aus. Wann denn?«

»Lasst uns doch einfach morgen Nachmittag fahren. Samstags haben wir garantiert freie Bahn, da arbeitet niemand.« Zack grinste. »Außerdem ist es doch ganz lustig, mal wieder ein bisschen im Sand zu buddeln!«

Kapitel 3:

Missionsziel

»Du musst dort nachsehen. Es sind immer zwei, das weißt du genau!« Tante Jol saß auf der Sesselkante und sprach seit einer halben Stunde eindringlich auf Raika ein.

Auf der Fahrt nach Schortens hatte Raika schon überlegt, was sie sagen würde, falls Tante Jol sie zum Suchen aufforderte. Und dass es genau darauf hinauslaufen würde, war glasklar. Ihre Tante war förmlich erstarrt, als Raika das Stäbchen aus van Bronks Hosentasche auf den Kaffeetisch gelegt hatte. Dann war sie aufgesprungen, hatte ihre Lupe aus dem Schreibtisch neben dem Sofa geholt und sich das Stück von allen Seiten angesehen. Es hätte nur noch gefehlt, dass sie das Ding in den Mund genommen und probiert hätte. Bei dieser Vorstellung musste Raika grinsen.

»Findest du das etwa komisch?«, blaffte ihre Tante. »Das ist unser kulturelles Erbe, sich darüber lustig zu machen, ist unverschämt! Wir sind dazu verpflichtet, es zu hüten und zu bewahren!«

Raika rollte mit den Augen. »Ich lache doch gar nicht. Ich weiß ja, wie wichtig dir unsere Geschichte ist. Du beschäftigst dich schon dein Leben lang damit, und ich würde mich niemals darüber lustig machen. Aber ich bin nicht wie du. Ich glaube, das Leben geht weiter und die Dinge ändern sich. Nichts bleibt, wie es ist, und die Vergangenheit ist vergangen. Man muss darum keinen Kult betreiben.«

»Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Zukunft gestalten. Wir müssen unsere Wurzeln kennen, um zu verstehen, wer und wie wir sind. Unsere Vorfahren waren ein friedliches, produktives Volk, das großen Wert auf die Gemeinschaft gelegt hat. Davon sollte sich die heutige Gesellschaft mal ’ne Scheibe abschneiden!«

Tante Jol war jetzt richtig in Fahrt. Raika machte sich auf einen weiteren Vortrag gefasst. Sie hätte schon fast mitsprechen können, so vertraut war ihr jedes Wort.

Als sie klein war, war Raika von Tante Jols Erzählungen fasziniert gewesen. Die Römer, die Friesen, die Chauken … Tante Jol spann Fäden, die fast 2000 Jahre zurückreichten, was besser war als jedes Märchen, denn die Geschichten waren wahr, und die Fundstücke, die ihre Tante ihr zeigte, waren echt. Genauso echt wie das Stäbchen, dessentwegen sie hergekommen war. Sie hatte im Grunde ihres Herzens sofort gewusst, um was es sich dabei handelte, als sie es bei van Bronk entdeckte. Denn ein sehr ähnliches Paar in den Händen ihrer Tante war ein vertrauter Anblick aus Kindertagen. Jol bekleidete in der abgeschiedenen Gemeinde von Chauken das heilige Amt der Hüterin, der Bewahrerin und der Seherin. Jolke Hayen versuchte, mit der Weisheit der Vergangenheit in die Zukunft zu blicken. In allen Stämmen und Kulturen wurden die Seher oder Druiden sehr verehrt – früher.

Während ihre Tante wild gestikulierend einen Monolog hielt, blickte Raika auf das Paar Orakelstäbchen, das vor Tante Jol auf dem Tisch lag. Uralt, daneben das kleine Samtsäckchen, in dem ihre Tante das Wahrsage-Instrument aufbewahrte. In einem Schrank in ihrem Schlafzimmer waren weitere alte Artefakte und Kunstgegenstände verstaut, die zu rituellen Feiern hervorgeholt wurden. Es war der Lebensinhalt ihrer Tante, und schon als Raika klein war, hatte Jol sie mit vielem vertraut gemacht – als Schulung und Vorbereitung für die Übernahme des Amts der Hüterin, wie sie inzwischen wusste. Nur wollte Raika inzwischen mit dem ganzen Hokuspokus nichts mehr zu tun haben. Ihrer Ansicht nach gehörte das Zeug ins Museum, basta.

Wie aus weiter Ferne hörte sie ihre Tante reden: »Unsere Tradition zu bewahren, war jahrzehntelang meine Aufgabe. Aber ich bin inzwischen schon ganz schön alt, und wer außer dir kommt dafür infrage, unser kulturelles und spirituelles Erbe am Leben zu erhalten? Du musst anfangen, dich damit auseinanderzusetzen.«

Raika seufzte. »Ich verstehe ja, was du von mir willst. Aber ich kann das nicht. Ich habe die Gegend hier verlassen, um zu studieren und später einen spannenden Job zu haben, die Welt zu sehen. Ich will nicht hier auf dem Land versauern. Warum geben wir nicht alles an eine landeskundliche Sammlung, wo es gut verwahrt und für alle sichtbar ausgestellt wird? Das wäre doch eine Möglichkeit, oder?«

»Nein, und das weißt du genau. Im Museum sind die Sachen wie tot. In deinen Händen leben sie weiter!«

»In deinen vielleicht«, sagte Raika. »Ich weiß doch von alledem so gut wie nichts. Ich wüsste nicht, was bei den Riten zu tun ist. Oder wie man den Fall der Orakelstäbchen deutet. Ich kann und will das nicht. Mein Leben soll anders sein!«

Sie schnappte sich das einzelne Stäbchen vom Tisch, verpasste ihrer Tante einen flüchtigen Abschiedskuss und verließ das Zimmer. Während Tante Jol hörte, wie Raika den Motor anließ und losfuhr, griff sie nach ihren Orakel

stäbchen. Sie murmelte ein paar Worte und warf die beiden Bronzestifte auf die Tischplatte. »Unheil braut sich zusammen«, flüsterte sie. Sie seufzte und lehnte sich zurück. Selbst wenn man es auf sich zukommen fühlte, wusste man nicht immer, was zu tun war.

Die Argo nahm Fahrt auf. »Welchen Kurs anlegen?«

Gute Frage, dachte Zack und starrte auf den Monitor, wo ihm der ziemlich ungeduldig wirkende, große griechische Steuermann gerade diese Frage stellte. Michi alias McMike und Tomke a.k.a. TomaHawk waren leider nicht online, also würde er selbst entscheiden müssen, wohin die Reise des mythischen Abenteurerschiffs gehen sollte. Nur hatte er leider keinen blassen Schimmer, was er als nächste Spielstation in das Textfenster eingeben sollte.

Ziel der Mission war natürlich das Goldene Vlies, ein goldenes Widderfell, das Jason und die Argonauten in der Sage erbeuten sollten. Aber bevor man auch nur in die Nähe des Drachen kam, der das Vlies bewachte, gab es das eine oder andere Rätsel zu lösen. Mark hatte sich so einiges einfallen lassen, um es ihnen nicht zu einfach zu machen.

»Welchen Kurs anlegen?«, grollte der Hüne erneut.

»Langsam, Mann, ich muss überlegen«, murmelte Zack. Besonders perfide fand er, dass der Kerl irgendwie Ähnlichkeit mit Mark hatte. Bestimmt hatte Mr. Computergenie diebische Freude daran gehabt, seine eigenen Gesichtszüge in diesen altgriechischen Motzbrocken rendern zu lassen.

Also, wohin sollte die Argo zuerst schippern?

Plötzlich sah Zack eine Schriftrolle an Deck des Schiffs liegen. »Die war aber eben noch nicht da«, grummelte er zu sich selbst. Er ließ seinen Avatar das Ding aufheben und entrollen:

Ich bin das Herz der Demokratie.

Wer mich verehrt, den tyrannisiere ich nie.

Im Wettstreit mit Poseidon legte ich den Samen

und gab der Polis ihren Namen.

Auch euch will ich etwas vermachen,

denn dann ebnet sich der Weg zum Drachen.

Nur holen müsst ihr das entscheidende Teil

von dort, wo es wächst seit langer Weil’.

Ein Baum, der weiser ist als des Menschen Verstand,

wird vervollkommnen das Schiff, daher geht dort an Land.

Zack stöhnte. Ein Gedicht, bitte nicht … »Was denkt sich Mark nur dabei?«, schimpfte er laut. So ein Computerspiel sollte doch Spaß machen und kein Lyrik-Kurs sein! Er las die Zeilen noch zweimal. Okay, also wenn er rauskriegen konnte, von wem hier die Rede war, dann müsste sich ja feststellen lassen, wohin die Argo segeln sollte, um das »entscheidende Teil« zu ergattern. Zack erinnerte sich dunkel daran, in der 6. Klasse mal was über das alte Griechenland im Unterricht gehabt zu haben. Er beschloss, Michi und Tomke das Rätsel zu schicken. Drei Hirne waren besser als nur seine eigene vergessliche Birne. Er fotografierte die Schriftrolle vom Bildschirm und verschickte das Foto – nicht ohne zu bemerken, dass der markähnliche Motzbrocken höhnisch grinste.

»Diana, komm hierher!« Der Junge blickte sich suchend um. Das hohe Gras am Ufer der Ochtum raschelte verdächtig. Sein Hund war schon zweimal in die trübe Brühe dieses sogenannten Flusses gefallen. Er hatte Stunden gebraucht, um den muffigen Geruch aus dem Fell zu waschen und wollte deshalb gerne verhindern, dass die Zwergschnauzerdame auf der Suche nach Mäusen oder anderen vielversprechenden Nagern erneut baden ging.

»Diana! Jetzt komm endlich her!« Er wusste genau, dass der Hund ihn hörte. »Leckerli!« Wenn das nichts nützte … Das verfressene Vieh wollte doch immer Leckerlis. Und schon sprang der kleine graue Schnauzer freudestrahlend an ihm hoch. Schlammige Pfoten hinterließen wunderschöne Abdrücke auf der Jeans. »Da bist du ja, was hast du denn da?« Diana hatte definitiv etwas im Maul. Hoffentlich keine Maus, dachte er und gab das Kommando: »Gib aus!« Der Hund legte auch prompt ab und präsentierte Herrchen schwanzwedelnd und mit dem für seine Spezies typischen Stolz sein Fundstück. Der Junge nahm das, was er zunächst für einen Stock hielt, in die Hand und verpasste seiner Jagdgöttin das wohlverdiente Leckerli. »Komisches Ding … sieht aus wie eine Flöte oder so was.« Diana bellte. Herrchen sollte doch werfen, aber stattdessen steckte der Junge das Ding einfach in die Tasche seiner Winterjacke. »Das gucken wir uns zu Hause mal genauer an. Komm, ab geht’s!« Diana trabte beleidigt hinter ihm her.

»Michi, wenn du den Staubsauger nicht auch mal in die anderen Zimmerecken hältst, werden wir hier nie fertig«, rief Tomke ihrem Bruder über das Gedröhne des Geräts hinweg zu. »Außerdem würde es helfen, wenn du das Handy mal weglegst beim Saugen!«

Michi blickte hoch. Tatsächlich saugte er seit gefühlten zehn Minuten die gleiche Stelle des Wohnzimmerbodens.

»Ich habe hier ’ne Nachricht von Zack. Ich glaube, der dreht durch. Er hat mir ein Gedicht geschickt!«

Tomke ließ ihren Staublappen fallen und guckte auf Michis Handydisplay.

»… Herz der Demokratie … Wettstreit mit Poseidon …«, murmelte sie. »Haben wir Hausaufgaben in Geschichte, oder was will der mit Athen und so?«

»Da steht doch gar nichts von Athen«, sagte Michi verständnislos.

»Die Göttin Athene! Hatten wir doch damals in der Schule, weißt du noch? Die Bürger sollten entscheiden, wie ihre Stadt heißen soll, und haben einen Wettstreit zwischen Poseidon und Athene ausgerufen. Athene hat gewonnen, deshalb heißt die griechische Hauptstadt jetzt nach ihr!«

»Ach ja, so langsam dämmert es … Die Wiege der Demokratie und so! Aber warum schickt der denn jetzt so ein Rätsel? Hey, Moment mal, Zack spielt bestimmt Marks Spiel einfach weiter, während wir hier Hausputz machen müssen!«

In ziemlicher Hektik erledigten die beiden ihre samstägliche Pflichtaufgabe und sprinteten anschließend an ihre Rechner. Über Skype kontaktierten sie Zack.

»Segelst du ohne uns los, du fieser Pirat?«, rief Michi ins Mikro, als sie sich ins Spiel geloggt hatten und ihre Avatare an Bord erschienen.

»Ich segle leider überhaupt nicht. Der Typ da vorne mit dem glänzenden Brustpanzer fragt mich die ganze Zeit, wohin es gehen soll. Und ich habe keine Ahnung. Hast du die Nachricht gesehen? Das Rätsel müssen wir knacken, damit wir rauskriegen, was das nächste Ziel der Argo ist.«

»Schon geschehen«, freute sich Michi. »Meine nicht ganz so doofe Schwester hat nämlich in der Schule aufgepasst. Die Polis, also die Stadtgemeinde, um die es geht, ist Athen!«

»Moment«, meldete sich Tomke zu Wort. »Athene ist die Göttin, um die es geht. Aber wohin das Schiff segeln soll, ist noch nicht klar. Da steht doch was von einem Baum, der weiser ist als des Menschen Verstand. Da sollen wir hin. Aber wo der steht, weiß ich auch nicht.«

 

»Klar, Athene! Ich erinnere mich! Leider fällt mir sonst nicht mehr viel ein. Ich gucke mal im Internet, okay?«

Zack öffnete seinen Browser. Er gab »Athene« ein sowie das Wort »Jason«. Das Ergebnis war ernüchternd: Neben dem »Jason Inn Hotel« in Athen sowie Bildern von alten Tongefäßen erschien ein Link zur Argonautensage. Er versuchte es anders und gab »Griechenland, Baum, Weisheit« ein. Etliche Adressen, die mit Olivenbäumen, Eulen und esoterischen Sprüchen zu tun hatten, erschienen. Nichts davon klang vielversprechend. Zack lehnte sich zurück. Wie war er im November, als Mark sich als Jason bezeichnete, der Argonautensage auf die Spur gekommen? Mit einem Buch …

»Papa«, rief er, während er die Treppe runterrannte. »Hast du noch dieses Buch mit den schönsten Sagen des klassischen Altertums? Du weißt schon: das, was ich im Herbst von dir hatte.«

Sein Vater, Arzt an der Professor-Hess-Kinderklinik, war mal wieder total erschöpft hinter seiner Zeitung eingeschlafen und schreckte jetzt hoch. »Hm, was? Wozu denn? Habt ihr wieder irgendwas Seltsames laufen?«

»Nein, ist nur ein Spiel. Da muss man Rätsel lösen und so … Also, wo ist denn jetzt das Buch?«

Zack schnappte sich die Sagen-Sammlung und zusätzlich das »Who’s who in der antiken Mythologie« aus den Händen seines verständnislos guckenden Vaters und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Er suchte nach Jason, fand aber nichts. Bis ihm plötzlich auffiel, dass der Buchstabe »J« gar nicht im alphabetischen Register vorhanden war. Nach »I« kam direkt der Buchstabe »K«. Er blätterte »I« durch und fand tatsächlich »Iason«.

»Na gut, dann eben so geschrieben«, murmelte er und begann zu lesen: »… Der aber plante sein Unternehmen sorgfältig und ließ zunächst das Schiff Argo bauen …« Zacks Augen wanderten weiter. Er kreischte: »Ich habe was, hört mal: ›Athene gab gute Ratschläge und ein Stück Holz von der Orakeleiche in Dodona dazu …‹ Das muss es sein! Wir sollen zu einem Ort mit dem Namen Dodona fahren, wo auch immer das ist! Da kriegen wir ein Holz von so ’ner Onkel-Eiche oder so … Lasst uns mal gucken, ob das funktioniert!«

»Welchen Kurs anlegen?« Wie ein Gladiator hatte sich der Steuermann vor Zacks Avatar positioniert. Er sah ganz schön schlecht gelaunt aus, und Zack war sich nicht sicher, ob er nicht gleich im hohen Bogen über Bord fliegen würde, sollte das Kommando falsch sein. Er tippte »Dodona« ins Textfenster, in der Hoffnung, dass Mark für alle Fälle einen Respawn einprogrammiert hatte.

Erst passierte nichts. Der Riese im glänzenden Brustharnisch schien zu überlegen. Dann verneigte er sich kurz, schrie der Mannschaft »Nord-Nord-Ost« zu und schritt zum Steuer, von wo aus er majestätisch verkündete: »Argo auf Kurs.«

Linus schrubbte den Schlamm mit einer Nagelbürste von dem Ding, das seiner Meinung nach eine Flöte war. Dianas Meinung nach war das Ding ihr Stöckchen. Sie saß winselnd auf dem Küchenfußboden und beobachtete haargenau, was Herrchen mit ihrer Jagdtrophäe veranstaltete. Der Schlamm roch muffig, und das Spülwasser hatte eine gänzlich undefinierbare Farbe angenommen, aber so langsam zeigte sich das Objekt in seiner ganzen Pracht.

»Igitt, das ist ja ein Knochen!« Fast hätte Linus das Teil fallengelassen. Bei genauerer Betrachtung handelte es sich eigentlich um beides: einen Knochen, der zu einer Flöte zurechtgeschnitzt worden war. Linus hatte den Eindruck, dass es sich hier eher um Kunst als um ein Verbrechen handelte. Das Ding sah wirklich uralt aus. Geschnitzte Symbole verzierten die Seiten neben den Flötenlöchern. Er trocknete die Flöte ab. Sollte er das Ding mal testen? Ganz vorsichtig und ein wenig angeekelt hob er es zum Mund und blies hinein. Ein schrilles, hohes Fiepen entsprang dem »Instrument« und veranlasste Diana, fluchtartig unter das Sofa zu hechten. Auch Linus erschrak. »Sorry, das habe ich nicht erwartet. Zeigen wir das Teil mal Mama, vielleicht weiß die, was es damit auf sich hat.«

Der Rückweg von Schortens führte Raika über die Autobahn an Oldenburg und Delmenhorst vorbei und dann über die B 75 entlang des Stadtteils Huchting. Da ihr alter Opel nicht sehr schnell war, hatte sie reichlich Zeit, darüber nachzudenken, ob sie einen Abstecher zu van Bronks Baustelle machen oder lieber vorbeifahren sollte. Van Bronk hatte seine Unterlagen zu dem BEC-Projekt offen auf dem Schreibtisch zu Hause liegengelassen.

Raika musste immer um die Aktenstapel herumputzen und hatte strikte Weisung, nichts anzufassen. Aber dass sie die offenen Seiten nicht anschauen durfte, hatte niemand gesagt, daher wusste sie, dass Kirchhuchting die richtige Abfahrt war.

Je näher sie kam, desto nervöser wurde sie. Hin und her gerissen zwischen der Loyalität gegenüber ihrer Tante und dem Wunsch, mit den uralten Geschichten nichts zu tun haben zu müssen, tuckerte sie auf der Hochstraße entlang.

Raika hatte das Gefühl, sich freigekämpft zu haben. Frei von der ziemlich traditionellen Lebensweise, die ihre Familie seit Generationen führte. Nicht, dass sie etwas gegen das beschauliche Schortens im schönen Friesland gehabt hätte. Nur was hätte sie dort tun sollen? Sie liebte zwar Kühe, Schafe und den Duft von frischem Heu, aber in der Landwirtschaft zu arbeiten oder gar Tante Jols Hof zu übernehmen, kam für sie nicht infrage. Sie träumte vom Leben in der Stadt, wünschte sich einen aufregenden Job in den Medien oder in einer Kultureinrichtung und wollte abends mit anderen jungen Leuten Konzerte oder das Theater besuchen und ausgehen. Auch Wilhelmshaven und Jever waren ihr zu klein und zu nah dran; ihr Ziel war Bremen – mindestens. Und mit Paukerei und Zielstrebigkeit hatte alles genauso geklappt, wie Raika es sich gewünscht hatte. Bis Tante Jol sie immer häufiger aufforderte, sich zu Hause blicken zu lassen oder zu Versammlungen zu kommen. Zu Beginn ihrer Studienzeit war sie auch gelegentlich zu den Treffen der als »Heimatfreunde« bezeichneten Chaukengemeinde erschienen, aber je länger sie in Bremen lebte, desto absurder erschien ihr das krampfhafte Aufrechterhalten des traditionellen Brauchtums. Raika fühlte sich, als würde ihre Tante sie zurückzerren, weg von dem Leben, das sie sich aufbauen wollte. Deshalb fuhr sie immer seltener hin. Bei den letzten Besuchen waren sie leider genau deshalb jedes Mal in Streit geraten.

Dennoch hatte Raika ein schlechtes Gewissen, denn eigentlich war sie der alten Dame unheimlich dankbar. Nach dem Tod von Raikas Eltern hatte Tante Jol sie großgezogen und immer unterstützt. Sogar bei dem Wunsch, zu studieren, hatte Tante Jol ihr Mut gemacht – allerdings hatte ihre Tante ihr nahegelegt, Alte Geschichte zu studieren, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass Raika anschließend in die Heimat zurückkehren würde, um dort die »Aufgabe«, die sie Jols Meinung nach hatte, zu erfüllen. Zähneknirschend hatte die alte Dame dann zur Kenntnis genommen, dass Raika sich stattdessen für Kulturwissenschaften eingeschrieben hatte. Doch je älter Jol wurde, desto mehr bedrängte sie Raika, sich nach dem Studium zurückzubegeben. Vielleicht hätte sie Jol das Stäbchen lieber nicht zeigen sollen, dann wäre ihr die erneute Auseinandersetzung erspart geblieben.

Na gut, dachte sie, wer A sagt, muss auch B sagen. Einmal gucken konnte sie ja wenigstens, das war sie ihrer Tante schuldig. Sie nahm ihr Handy und rief die Bremen-Karte im Navigationsprogramm auf. Zu van Bronks Baustelle an der Obervielander Straße waren es gerade mal eineinhalb Kilometer.

Ein alter Opel Corsa fuhr knatternd vorbei, als Zack, Tomke und Michi an dem Zaun entlang Richtung Baustelleneinfahrt gingen. Es war kalt, ein eisiger Wind heulte zwischen den Zaunstangen durch und blähte die Folien auf, die die Werkzeuge und Baumaterialien schützen sollten.

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