Unentbehrliches Handbuch zum Umgang mit Grenzen

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Es waren zwei Versionen im Umlauf, wie es zu dem Sturz des Genossen Mete vom Dach gekommen war. Die erste, die man sich hinter vorgehaltener Hand zu Hause und in den Cafés erzählte, besagte, dass der Genosse Mete außer unter seiner klassischen Leidenschaft für die Kontrolle der Antennenausrichtung auch noch unter einer anderen, äußerst merkwürdigen Leidenschaft litt. Es hieß, er würde für sein Leben gern Paaren bei der Liebe zusehen. Außerdem liebte er es über die Maßen, heimlich den nackten Hintern der Frauen zu begaffen, wenn sie auf der Toilette saßen oder ein Bad nahmen. An jenem schicksalhaften Abend also, so erzählte man sich, beobachtete er vom Dach aus die Richterin, die im obersten Stockwerk unseres Hauses wohnte, wie sie ihr Bad nahm, und geriet beim Anblick ihres enormen Hinterteils in Verzückung. Gänzlich seiner Leidenschaft hingegeben und bemüht, seinen Genuss um kein Quäntchen zu mindern, hatte er sich, ohne den Neigungswinkel des Dachs zu beachten, in eine gefährliche Position gebracht. Zu seinem Pech hatte es vorher geregnet, und so kam es, dass er abrutschte und dabei den Hintern der Richterin aus dem Blick und sein Leben verlor. So weit die Verfechter der ersten Version.

Die zweite Version stammte von Onkel Jani. Nach der war der Genosse Mete ein Opfer der Verschwörung der Feinde im Innern des Staates geworden. Onkel Jani schwor, nicht eher aus dem Leben zu scheiden, bevor er den Feind gefunden hätte, der hinter diesem hinterlistigen Mord und dem heldenhaften Tod des Genossen Mete steckte. Eines Tages verkündete er, dass er mit seinen Nachforschungen gut vorankäme und der Feind höchstwahrscheinlich in unserem Haus zu finden wäre. Diese Ankündigung rief unter den Bewohnern große Panik hervor. Keme fürchtete aufgrund der Vorgeschichte seines Sohnes, dass Onkel Jani ihn als Hauptverdächtigen auf die Liste setzen könnte, und verkaufte flugs seinen Fernsehapparat, damit erst gar nicht der Verdacht aufkommen könnte, er würde ausländische Sender schauen. Unser Nachbar Loni wurde wegen ernsthafter psychischer Störungen im Krankenhaus behandelt, nachdem er geträumt hatte, Onkel Jani habe ihm befohlen, die Leiche des Genossen Mete wieder auszugraben. Onkel Jani aber starb völlig unerwartet an einem Herzinfarkt. Nicht wenige Menschen in unserem Haus atmeten erleichtert auf – nur im Verborgenen, das versteht sich.

EIN NAHEZU LÄCHERLICHER HELD

Allein das Verlassen seiner Heimat verleiht dem Migranten etwas vom Glanz eines Helden. Im Alltag aber erweist er sich als fragil und verwirrt, ja zuweilen als lächerlich. Er ähnelt einem Kartenspieler, der vom großen Coup träumt und noch nicht einmal die Spielregeln kennt. Er hatte geglaubt, dass im Gastland die Dinge einfacher und alle bereit wären, ihm unter die Arme zu greifen, ihm die Spielregeln beizubringen, ihn loben würden, wenn es ihm gelänge, gegen sie zu gewinnen. Jetzt entdeckt er, dass seine Idole keinen Pfifferling auf ihn geben. Und noch Schlimmeres entdeckt er: Niemand hat ihn, den Migranten, eingeladen, ungebeten ist er in dieses Land gekommen. Und für die anderen ist er wie Luft, als existiere er gar nicht, bestenfalls schenkt man ihm einen Blick voller Bedauern oder voller Abscheu.

Wenn er doch nur ihre Sprache beherrschte, denkt er, dann könnte er all jenen, die ihn keines Blickes würdigen, zeigen, was er wert ist. Das müssen sie nämlich unbedingt erfahren. Er spricht aber ihre Sprache nicht; er steht unter Schock, weil die Einheimischen so schnell sprechen, dass es wie eine ratternde Nähmaschine klingt. Nein, ausgeschlossen, dass er diese Sprache lernt, sollen sie sich doch zum Teufel scheren, sie und ihre Sprache! Doch lernt er ihre Sprache nicht, findet er keine Arbeit und kann nicht überleben. Also gut, dann lernt er gerade mal das Notwendigste. Die ersten zehn Wörter. Die ersten zehn Sätze. Und er lernt sie, ohne dass ihm richtig bewusst wird, wie er das tut. Überrascht stellt er fest, dass diese Sprache gar nicht so schwer ist. Dann entdeckt er, dass diese Sprache ihm zu gefallen beginnt, denn jetzt, da er die Sprache spricht, ist er keine stumme Erscheinung mehr. Doch rasch verfliegt seine erste Begeisterung. Er spricht die Sprache nicht, er macht sie kaputt, er zersägt sie förmlich. Die weiblichen Namen macht er zu männlichen, die männlichen zu weiblichen, und die meisten Substantive verlieren ganz ihr Geschlecht, werden zu Neutren. Am Anfang war er stumm, nun ist er eine Nervensäge.

5

All das geschah zu der Zeit, da das Regime unser Albanien zu einem blühenden Garten und einzigartigen Leuchtturm für die ganze Weltgemeinschaft erklärt hatte. Die Lehrer in der Schule sagten uns immer wieder, dass wir so etwas wie das auserwählte Volk seien. Und wenn man zum auserwählten Volk gehört, ergeben sich zwei Obliegenheiten: Erstens die nicht Auserwählten zu hassen, und zweitens, um jeden Preis glücklich zu sein. Das Glücklichsein ist in einem totalitären System keine Frage der Wahl oder des Zufalls: Es ist eine Pflicht. Sein Unglücklichsein öffentlich kundzutun, erregt Verdacht.

Um es kurz zu machen, wir waren die einzigen Glücklichen, die durch und durch reinen Menschen, die alleinigen Opfer. Während sich auf der anderen Seite der Grenze die Unglücklichen, die Lügner und Betrüger, die Primitiven, die Verseuchten, die Täter befanden. Schon manches Mal habe ich gedacht, dass wir Albaner so etwas wie das große Los des Weltenglücks gezogen hatten: Alles Glück, alles Echte, die vollkommene Reinheit der Welt fand sich zusammengedrängt auf achtundzwanzigtausend Quadratkilometern, der Fläche Albaniens.

Da sich die Welt für uns also in das Paradies (wir) und die Hölle (die ganze übrige Welt) gespalten hatte, wurde jemand, der versuchte, die Grenzen des Paradieses zu überschreiten und zu fliehen, automatisch für einen Insassen der Hölle gehalten. Deshalb waren auch die Reisepässe abgeschafft worden, sie hatten für uns ohnehin keinen Nutzen, und ein Fluchtversuch galt als Hochverrat.

Eines schönen Tages, ich lebte noch gänzlich in meiner kindlichen, sorgenfreien Welt, verschafften sich die Grenzen auf blutige Weise Zutritt zu meinem verträumten Kopf. Der Tod meines Nachbars Artur brachte sie wie furchteinflößende Gespenster in mein Leben.

WENN DU TOURIST WÄRST

Wenn du Tourist wärst, dann klänge dein gebrochenes Griechisch für die Ohren der Zuhörer ganz reizend. Der ganze Unterschied besteht am Ende darin: Wenn ein Amerikaner gebrochen Griechisch spricht, ist er ein sympathischer Amerikaner. Wenn ein Albaner gebrochen Griechisch spricht, ist er nichts anderes als ein Scheißalbaner. Wenn ein Amerikaner sehr gut Griechisch spricht, ist er im Allgemeinen ein bewundernswerter Amerikaner. Wenn aber ein Albaner hervorragend Griechisch spricht, dann bekommt er den Spruch zu hören: »Grieche wirst du trotzdem nie, Albaner bleibt Albaner«.

Da er also ein beklagenswerter illegaler Einwanderer ist, reizt sein gebrochenes Griechisch die Nerven der Einheimischen. Und das hat er völlig verinnerlicht. Wenn er in einen Bus steigt, vermeidet er es, Fragen zu stellen, und wenn er etwas gefragt wird, fängt er an, vor Verlegenheit zu schwitzen, und antwortet extra leise. Doch die Einheimischen drehen sich trotzdem nach ihm um, wenn sie seine Aussprache hören, und er kommt sich vor wie ein Aussätziger.

Warum sehen sie mich so voller Angst an, fragt er sich. Er würde gerne in seinem holprigen Griechisch zu ihnen sagen: »Ich diese Land liebe. Was Angst?« Aber diese Frage stellt er nicht, er kennt die Antwort im Voraus: »Hörst du dir eigentlich selber zu? Guckst du denn keine Nachrichten? Ihr habt uns nach Strich und Faden beklaut, ihr habt uns niedergemetzelt! Man sollte euch alle einsammeln und in euer Scheißland zurückverfrachten!« »Jetzt schon?!«, fragt er sich im Stillen, »jetzt schon soll ich in mein Land zurück? Ich habe doch gerade erst Arbeit gefunden und schufte wie ein Ackergaul, von morgens früh bis abends spät, bei Wind und Wetter. Schaut euch meine Hände an, sie sind total zerschunden, ja, ich arbeite, damit eure Hände schön und glatt bleiben. Ich will auch ein Auto kaufen. Nein, zuerst eine große Stereoanlage, dann einen großen Farbfernseher, dann eine richtige Waschmaschine, dann … dann sehen wir weiter …«

Und in dem Moment wird ihm bewusst, dass ihn die Bezeichnung »Euer Scheißland« gestört hatte. Er kennt die Scheiße seines Landes, darum ist er ja geflohen. Aber deswegen ist es noch lange kein »Scheißland«. Auch dort gibt es Kinder wie hier, auch dort gibt es Mütter, die ihre Kinder lieben, auch dort gibt es Jugendliche, die sich verlieben wie hier. Auch dort gibt es Menschen, die Hoffnungen hegen und die enttäuscht werden. Na ja, wenn wir ehrlich sind, dort nehmen die enttäuschten Menschen immer mehr zu.

Plötzlich muss der Bus anhalten, und zwei Herren steigen ein. Sie tragen die gleiche Uniform und haben beide einen aggressiven Gesichtsausdruck. Das Blut gefriert ihm in den Adern: »Illegale Einwanderer raus, raus, raus, raus!« Und er steigt aus, die Stufen hinunter, immer weiter abwärts, tiefer geht’s nicht mehr, verdammte Scheiße!

6

Das geschah, als plötzlich die Chinesen in unserer Stadt auftauchten. Ganz friedlich, als wären sie vom Himmel gefallen, marschierten sie eines schönen Tages in unserer Stadt ein. Wir wachten auf und sahen sie. Auch sie sahen uns. Zu Dutzenden, alle in blauer Uniform, die rote Mao- Bibel in der Hand, schritten sie geschäftig umher. Zu dieser Zeit war Albanien in leidenschaftlicher Liebe zu China entflammt. Die kleine Stadt beobachtete die vielen Chinesen etwas verwirrt und konnte nicht nachvollziehen, was sie hier zu suchen hatten.

 

In den Cafés brodelte die Gerüchteküche, höchst verwegene Hypothesen wurden aufgestellt. Die Einheimischen äußerten vor allem, dass es für sie sehr schwierig sei, einen Chinesen vom anderen zu unterscheiden, da sie sich wie ein Ei dem anderen glichen. Doch immerhin eigneten sie sich ein paar chinesische Namen und Vokabeln an.

Es hieß, die Chinesen seien gekommen, um eine Fabrik zu bauen, in der Kriegsflugzeuge produziert werden. Eine phantasievollere Variante lautete, sie seien gekommen, um aus Albanien die größte Industrienation Europas zu machen. Am Ende stellte sich heraus, dass sie ganz einfach gekommen waren, um eine Kunststofffabrik im Umland zu errichten.

Was unsere Lehrer anging, so erklärten sie uns, dass wir jetzt keinen Feind mehr zu fürchten bräuchten, da Mao Tse-tung Enver Hodscha sein Wort gegeben habe und uns, sollte jemand es wagen, Albanien ein Haar zu krümmen, eine Milliarde Chinesen zur Verteidigung unseres Landes schicken würde. Kurz gesagt, aus einem äußerst kleinen Volk von drei Millionen würde aufgrund unserer Freundschaft mit den Chinesen eine Milliarde und drei Millionen werden.

Eines Morgens jedenfalls kam es zu einer höchst bizarren Begebenheit zwischen den Chinesen und den Einwohnern unserer kleinen Stadt. Die Chinesen hatten den Platz vor ihrem Hotel, dem einzigen in der ganzen Stadt, in Beschlag genommen und vollführten merkwürdige Bewegungen, als tanzten sie Ballett, aber in einem extra langsamen Rhythmus. Ein jeder ganz in sich versunken: Der eine bewegte den Kopf, ein anderer beugte sich ganz langsam hinunter zur Erde, wieder ein anderer zog das Knie zur Brust hoch. Wie sie sich da alle so in ihren blauen Uniformen bewegten, sahen sie aus, als wären sie nicht richtig im Kopf. Wir verstanden überhaupt nichts mehr. Fast die ganze Stadt hatte sich vor dem kleinen Platz versammelt, um die Chinesen anzustarren; und angesichts der großen Menschenansammlung hielt sich die Polizei in Alarmbereitschaft.

Da sprach sich mit einem Mal herum, dass das, was die Chinesen da machten, nichts anderes war als ihre Art von Gymnastik. Diese Nachricht entlockte einigen den Ausruf: »Allah, beschütze uns vor diesen Leuten!«

Die ganze Geschichte habe ich nur erzählt, weil sich Artur einige Wochen nach der Ankunft der Chinesen im Dezember am Silvesterabend in ein Dorf an der Grenze in der Nähe von Korça aufgemacht hatte. Dort lebte noch eine Tante von ihm, die er besuchen und gemeinsam mit ihr Neujahr feiern wollte.

Natürlich musste man eine besondere polizeiliche Genehmigung haben, um die Dörfer in Grenznähe zu besuchen, denn diese Gegend war Teil der »verbotenen Zone«.

Auf Arturs Beerdigung erfuhr ich, dass er gar nicht zum Dorf der Tante gefahren war, um Neujahr zu feiern, sondern um die Grenze zu überqueren und zu fliehen. Er hatte sich wohl ausgerechnet, dass die Grenzsoldaten in jenen Tagen besonders entspannt und nicht so wachsam wären wie sonst. Da hatte er sich verrechnet. Die Soldaten erwischten ihn und brachten ihn um. Auf seiner Beerdigung hörte ich zum ersten Mal, dass ein Soldat, der einen Menschen auf der Flucht tötete, als Prämie ein paar Tage Urlaub erhielt. Bei der Vorstellung, dass die Grenzsoldaten sich womöglich darum gestritten hatten, wer nun Artur töten durfte und dafür frei bekäme, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter.

Arturs Tod traf mich schwer, regte zugleich aber auch meine Phantasie an. Die Grenzen in meinem Kopf nahmen langsam metaphysische Dimensionen an. Grenzen geisterten durch meine Träume, und im Wachzustand sog ich begierig jede Geschichte auf, die gerade im Umlauf war und von Verhaftungen, Tötungen und Fluchtversuchen handelte – die meisten waren missglückt, die wenigsten geglückt.

Menschen, denen die Flucht gelungen war, hielt ich für die stärksten und außergewöhnlichsten der Welt. Einige stammten von hier und ihre Namen erfuhr die ganze Stadt und wiederholte sie flüsternd. Nicht allein wegen ihres Tuns, sondern vor allem wegen des Terrors, der auf ihre Flucht gefolgt war. Ihre Familienmitglieder wurden verbannt, ihre Verwandten verloren ihre Arbeit und blieben auf ewig stigmatisiert, weil sie mit dem Volksfeind verwandt waren. Als potenzielle Feinde des Regimes wurden sie, genau wie die Aussätzigen im Mittelalter, auf Lebenszeit unter Generalverdacht gestellt und zu einer beliebten Zielscheibe für die zahlreichen Spitzel unserer Stadt.

ILLEGALE GRENZÜBERQUERUNG, IMMER WIEDER

Er wird die Grenze aber wieder passieren, er wird nach Griechenland zurückkehren. Korça – Kalampaka, acht Tage Fußmarsch und die Nacht unter Sternen verbracht, falls welche zu sehen sind. Dreihundert Dollar pro Kopf nimmt der »Führer«, der die geheimen Pfade kennt. Die Gruppe der Illegalen zählt gewöhnlich acht bis elf Personen. Der Basar findet in Korça statt, das Geld behält der Bürge, und wenn sie von griechischen Soldaten geschnappt und zurückgebracht werden, wird jedem der gezahlte Betrag zurückerstattet. So lautet die Vereinbarung. Man kann sich aber nie darauf verlassen, denn der Bürge löst sich oft in Luft auf, und den Illegalen bleibt allein ihre Enttäuschung.

Er aber wird wieder zu Fuß über die Berge nach Griechenland zurückkehren. In sechs Monaten werden sie ihn wahrscheinlich wieder schnappen und sehr wahrscheinlich auf die gleiche Weise. Wieder werden die zwei Herren mit den gleichen Uniformen und der angsteinflößenden Miene in den Bus steigen. Danach heißt es: »Käfig«: fünf Personen in einen zwei Mal zwei Meter großen Käfig auf dem Mannschaftswagen der Polizei gepfercht und ab in den Knast, in Erwartung der Auslieferung. Zankereien unter den Häftlingen, Gestank nach Urin, die reinste Scheiße.

Nach ein paar Tagen, wenn die erforderliche Anzahl Illegaler für den Transport zur Grenze beisammen ist, wird besagter »Käfig« ihn nach Kakavija bringen, und an der Grenze wird ein Lastwagen ihn in sein Dorf mitnehmen, und seine Verwandten werden fragen: »Haben sie dich schon wieder geschnappt?« Und die restlichen Dorfbewohner werden sich über ihn lustig machen, in etwa so: »Oh, ist er wieder geschnappt worden, der Arme! Na ja, für die Fremde braucht es Eier in der Hose …«

7

Ein großes Land – wie Russland zum Beispiel – das sich mit seinen hermetisch abgeriegelten Grenzen vom Rest der Welt isoliert, gleicht einem endlosen Gefängnis. Ein kleines Land wie Albanien mit seinen hermetisch abgeriegelten Grenzen gleicht dem reinsten Irrenhaus.

Als ich in der Oberstufe war, sprachen wir, ich und meine Freunde – natürlich nur die, mit denen ich meine Gedanken zu teilen wagte –, oft davon, dass es genügte, auf das flache Hausdach hinauszutreten, um von dort aus die Grenzen unseres Vaterlands zu betrachten.

Eines Tages machten wir einen Schulausflug nach Saranda, von wo in der Nacht die Lichter der Welt-jenseitsder-Grenze zu sehen waren. Ob es sich um Lichter eines Dorfes oder einer Stadt handelte, war unbekannt. Wir standen da, schauten, träumten und fragten uns insgeheim: »Wie mag die Welt dort drüben wohl sein?« Jeder schilderte seine eigene Version und ließ Gerüchte oder Bilder aus dem Fernsehen in seine Geschichten einfließen. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt. Wir sprachen über wunderschöne Strände, über Schwimmbecken, über Farbfernseher, besonders aber über hübsche Mädchen, die weder überschüssige Pfunde noch Tabus hatten. »Die Mädchen dort sind frei, sie warten nicht darauf, angemacht zu werden, sie machen die Jungs an«, sagte einer. »Dort herrscht Freiheit, Leute! Wie soll ich es ausdrücken, der Sex lauert dir regelrecht auf, ja, das ist es«, fuhr ein anderer fort und heizte unserer pubertären Phantasie und Libido bis zur Unerträglichkeit ein.

Da fragte eines der Mädchen aus unserer Klasse, eine exzellente, aber hoffnungslos naive Schülerin, unseren Marxismus-Leninismus-Lehrer, wie es denn zu erklären sei, dass die Städte der Kapitalisten in hellstem Licht erstrahlten, während wir gelernt hatten, dass die Proletarier dort drüben Hungers sterben und in dunklen Baracken leben. Der Lehrer sah sie über die Brille hinweg an, ließ seinen Blick über die ganze Klasse schweifen und antwortete – nachdem er schließlich zu der Überzeugung gelangt war, dass diese Frage einfach nur das Ergebnis naiver Unschuld war – mit der gewohnten Ruhe, wie er sie an den Tag legte, um uns zu erklären, dass die Proletarier im kapitalistischen Westen zwanzig Stunden am Tag arbeiten und sich nur von Wiesenkräutern ernähren: »Es scheint, dass einige von euch, anstatt zu schlafen, um dem Klassenfeind ausgeruht entgegenzutreten, wach geblieben sind und die Lichter der griechischen Monarcho-Faschisten gesehen haben. Also die vielen Lichter gehören zu den Villen der Reichen. Sie leben in riesigen Häusern, während die Arbeiter hungern, nichts besitzen und in Löchern hausen. Ihr Leben findet gänzlich im Dunkeln statt – im Gegensatz zum glücklichen Proletariat in unserem Land. Schaut euch die Aufzeichnungen der letzten Stunden noch einmal an. Dann werdet ihr ruhig schlafen, ohne dass euch reaktionäre Fragen quälen. Habt ihr mich alle verstanden?«

Selbstverständlich hatten ihn alle verstanden. Ich hatte den Eindruck, selbst die naive Schülerin hatte ihn verstanden, denn plötzlich wurde sie ganz blass, setzte sich hin und brachte keinen Pieps mehr heraus.

Außer den Grenzen, die man in Wirklichkeit weder sehen noch berühren und schon gar nicht überqueren konnte, gab es die »verbotenen Zonen«: Es handelte sich um Gebiete, die dreißig oder vierzig Kilometer von der Grenze entfernt lagen und für deren Betreten man eine besondere polizeiliche Genehmigung brauchte. Wurde man dort ohne eine solche Genehmigung angetroffen, galt man automatisch als fluchtverdächtig. Und insofern besaß Albanien doppelte Grenzen: die offiziellen Staatsgrenzen und die »verbotenen Zonen«, die als inoffizielle Grenzen vor den offiziellen fungierten. Das hieß, in welche Richtung auch immer man ging, stets stieß man an Grenzen.

In dieser Situation waren die einzigen Fenster zu der Welt-jenseits-der-Grenzen das Fernsehen und das Radio. Besonders wir jungen Leute versuchten die Zeichen jenes anderen Planeten zu empfangen und zu entschlüsseln, was jedoch nicht möglich war, solange man die Sprache des anderen Planeten nicht verstand. Also entwickelte sich, besonders in den Städten, eine wahre Leidenschaft für Fremdsprachen – vor allem für das Italienische.

Das Erlernen von Fremdsprachen war weder ein Hobby noch ein Luxus oder diente einem konkreten Zweck: Es war einfach eine unglaubliche Verlockung, mittels der Phantasie dorthin zu reisen, wohin leibhaftig zu reisen streng verboten war: in die Welt-jenseits-der-Grenze. In unserer Phantasie idealisierten wir die-Welt-jenseits- der-Grenze, und je unerträglicher die Unterdrückung durch das Regime wurde, desto idealer erschien sie uns. Das Regime hatte die Welt in eine absolut gute und in eine absolut schlechte unterteilt, und das hatten auch wir getan, nur in genau umgekehrter Richtung: Die absolut schlechte war die Welt hier, innerhalb der Landesgrenzen, und die absolut gute die jenseits der Grenze. Das Regime brauchte zwingend die paranoide Angst vor dem Fremden, um sich durchzusetzen und sich an der Macht zu halten. Und wir brauchten die übertriebene Verehrung alles Fremden, um uns der vollkommenen Verblödung zu widersetzen.

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