Loe raamatut: «Fremde Richter»

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Inhalt

Einleitung

Woher der Begriff «fremde Richter» kommt

Frühe Abwehr «fremder Richter»

Frühe Abwehr – zweite Runde

Wer die Formel der «fremden Richter» aufgeladen hat

Indirekte Stärkung des Richtertopos

Fanal im Bundesbriefarchiv

Die Bedeutung der «fremden Richter» in der heutigen Europapolitik

Hochstehende Diskussion im Jahr 2013

Endlich ein Ende der Endlosdebatte?

Die Bedeutung «fremder Richter» im Rahmen der Zugehörigkeit zur EMRK

Unzufrieden mit «Strassburg»

Testfälle mit überraschendem Ausgang

Die Schweiz und ihre Richter

«Fremdes» Bundesgericht?

Nur ein Reizwort?

Schlusswort

Anhang

Einleitung

«Keine fremden Richter!» Das ist eine starke Maxime des schweizerischen Selbstverständnisses. Wir begegnen ihr in der Schweiz beinahe täglich in den aktuellen Debatten um die institutionelle Regelung des Verhältnisses mit der Europäischen Union und wegen der Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention sowohl für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wie auch für das Schweizer Bundesgericht in Lausanne.

Woher kommt die Begrifflichkeit, dieses Bild, dieser Topos? Und was ist damit gemeint? Das Gemeinte lässt sich schneller umschreiben als seine Herkunft. Gemeint ist, dass man die Jurisdiktion in den eigenen Grenzen behalten will. Zugleich steht die Maxime auch im allgemeineren Sinne für die Forderung nach nationalstaatlicher Unabhängigkeit und gegen formale Fremdbestimmung. Zudem verbindet sich damit ein innerer Herrschaftsanspruch – doch dazu erst später.

Es geht freilich nicht nur um Richter, sondern um Gerichte und Gesetze. Darum gilt die Ablehnung sogenannt fremder Richter auch Gerichten, in denen die Schweiz zwar regulär vertreten ist, aber Richter anderer Staaten darin die Mehrheit bilden. Und sie gilt Rechtsverständnissen, die nicht gleichsam dem eigenen Boden entstammen.

In den letzten Jahren ist viel über «fremde Richter» gesagt und geschrieben worden, viel Irrlichterndes, manchmal auch gut Informiertes. Dieses Buch will einen Überblick geben und den Interessierten Klärung anbieten. Es will die Herkunft dieser aufgeblasenen Maxime und deren polemische Nutzung aufzeigen, und es beschreibt die Schwierigkeiten, die sich deswegen ergeben. Es erörtert den Widerspruch zwischen der realen Bedeutung der angeblichen oder tatsächlichen Gefährdung der Souveränität und dem darüber gelegten ideologischen Diskurs. Und es plädiert für Nüchternheit und Gelassenheit im Umgang mit den davon betroffenen Fragen.

Um die wichtigsten Befunde der vorliegenden Abklärungen vorwegzunehmen: Die aus der tiefen Geschichte geholte Formel der «fremden Richter» ist erst in jüngster Zeit zum Schlagwort geworden. Dieses zielt gewiss auf den Geltungsanspruch supranationaler, aber auch der eigenen, nationalen Justiz, und es wird eingesetzt, um in allgemeiner Weise irreale Selbstbestimmung und «freie Fahrt» für rücksichtslose Basisdemokratie zu beanspruchen. «Fremde Richter» gehören zusammen mit «Unabhängigkeit», «Fremdherrschaft», «Geburtsstätte» etc. zu der Reihe von belasteten Wörtern, von denen der Zürcher Mediävist Roger Sablonier postuliert hat, dass sie aus dem Vokabular verschwinden sollten.1 «Belastet» bedeutet in diesem Fall ideologisch aufgeladen durch das im 19./20. Jahrhundert herrschende Geschichtsbild. Diese Aufladung pflegte ein Verständnis, das sich die Eidgenossenschaft beziehungsweise die Schweiz als einen von aussen bedrohten Hort der Freiheit vorstellte und dabei bestehende Verbindungen mit der «Aussenwelt» sowie die inneren Unfreiheiten ausblendete.

Man kann sich ein Verschwinden dieses Topos wünschen; Topos verstanden als sprachlicher, mentaler Gemeinplatz, als stereotype Redewendung, als vorgeprägtes Bild. Man muss sich zugleich jedoch bewusst sein, dass seine Elimination ein frommer Wunsch ist und es vielmehr darum geht, ihn irrelevant zu machen, indem man die damit angesprochene Haltung abzubauen versucht und anstelle ideologischer Theoreme die konkreten Probleme diskutiert.

Das vorliegende Buch über «fremde Richter» folgt, was den «Ursprung» des später in Schwung gekommenen Schlüsselbegriffs betrifft, einer Haltung, wie Thomas Maissen sie bereits 2015 als nötig und darum wünschenswert bezeichnet hat: «Geschichtsbilder und gemeinschaftliche Normen gehen aus öffentlichen Debatten hervor, aus dem politischen Streit. Deshalb muss er, mit guten Argumenten, geführt werden. Die Geschichtswissenschaft spielt dabei eine kleine, aber wichtige Rolle als jene Instanz, die sagen kann, wo Aussagen über die Vergangenheit fragwürdig werden, wenn man sie an Quellen misst.»2

In diesem Buch sind die einschlägigen Debatten der Eidgenössischen Räte und die Publizistik der «NZZ am Sonntag» systematisch berücksichtigt worden. Weiteres Material kam weniger systematisch aus verschiedenen Quellen hinzu. Der Verfasser dankt den Kollegen der rechtswissenschaftlichen Disziplin und insbesondere der Kollegin Christa Tobler vom Basler Europainstitut und im weiteren Thomas Cottier, Andreas Kley, Giusep Nay sowie Daniel Klingele vom EDA für klärende Gespräche sowie dem Verlag Hier und Jetzt für die Aufnahme dieses Texts in sein Programm und die professionelle wie auch freundliche Betreuung im Produktionsprozess.

Woher der Begriff «fremde Richter» kommt

In der Verwendung der Formel «fremde Richter» lassen sich drei Grundtypen unterscheiden: Entweder wird sie einfach und ohne weitere Reflexion als gegeben genommen, oder sie wird bewusst als verpflichtendes Erbe der «Gründungscharta» des 13. Jahrhunderts verstanden. Und dann gibt es diejenigen, die von ihr reden, weil sie finden, dass man die Formel nicht verwenden sollte. Auch von ihnen wird im Lauf dieser Ausführungen die Rede sein. Zunächst geht es hier aber um den historischen Hintergrund des bekannten Bezugspunkts.

Die Formel «fremde Richter» wird dem auf Anfang August 1291 datierten Bündnis entnommen.3 Dieses Dokument ist 1891 zum Bundesbrief erhoben und damit zur Gründungscharta der Eidgenossenschaft gemacht geworden.4 Gemäss diesem Dokument beanspruchten die Stände Uri, Schwyz und Unterwalden tatsächlich ein Richterprivileg: In den urschweizerischen Tälern sollte kein Richter angenommen werden, «der das Amt irgendwie um Geld oder Geldeswert erworben hat oder nicht unser Einwohner oder Landsmann ist». Ähnlich statuierte es bereits eine wenige Monate zuvor von König Rudolf von Habsburg den Schwyzern am 19. Februar 1291 in Baden ausgestellte Urkunde.

Bruno Meier betont, der Bund von 1291 sei kein hochpolitischer, gegen Habsburg-Österreich gerichteter Bund gewesen, wie man dies insbesondere in den bedrohlichen Zeiten während des Zweiten Weltkriegs gerne sah.5 Richter und Vogt, Judikative und Exekutive im modernen Sinn, sind in dieser Zeit nicht zu trennen, eine Gewaltenteilung war inexistent. Wenn die Schwyzer eigene und keine gekauften Richter wollten, dann beanspruchten sie eine direkte Beziehung zum König ohne eine Zwischengewalt. Es ging also mehr um Selbstbestimmung nach innen als um die Abwehr «fremder Richter». Wie Clausdieter Schott erläutert, leiteten die Landvögte, die als Richter bezeichnet wurden, das gerichtliche Verfahren bloss, während ausgewählte Landleute die Urteile fällten.

Bis weit ins 19. Jahrhundert konnte es schon deswegen keine autoritativen Bezüge auf die Bundesformel der «fremden Richter» geben, weil das auf das Jahr 1291 datierte Dokument nicht bekannt war. Bekannt war der Bund von Brunnen von Dezember 1315, der immer als der erste Bund gegolten hatte. Die wiederholte Behauptung, man habe während 700 Jahren gegen «fremde Richter» gekämpft, ist falsch, wie ja auch die Behauptung völlig falsch ist, dass «seit Jahrhunderten» das Volk die oberste Instanz sei, wie Christoph Blocher immer wieder herausstreicht und auch an der Albisgüetli-Tagung 2016 betonte.6

Bezeichnenderweise kommt der erst später bekannt gewordene Topos im berühmten Drama «Wilhelm Tell» (1804) nicht vor. Der deutsche Nationaldichter Friedrich von Schiller (kein «fremder Richter», aber eigentlich ein fremder Dichter) lässt den Schwyzer Stauffacher in der Rütliszene (ein Mondregenbogen im Hintergrund), zweiter Aufzug, zweite Szene, immerhin das Folgende deklamieren: «Unser ist durch tausendjährigen Besitz / Der Boden – und der fremde Herrenknecht / Soll kommen dürfen und uns Ketten schmieden, Und Schmach antun auf unsrer eignen Erde?»

Christoph Blocher, von Student Damian Rossi 2013 befragt, war der Meinung, das Wort der «fremden Richter» stamme von Schiller, und dieser habe sich auf den Bundesbrief von 1291 gestützt.7 In Schillers Drama ist aber nicht von «Richtern» die Rede, und das Dokument von 1291 dürfte ihm höchstwahrscheinlich unbekannt gewesen sein. Es war zwar 1760 vom Basler Gelehrten Johann Heinrich Gleser publiziert und 1780 von Johannes von Müller in seiner «Schweizer Geschichte» registriert worden, erhielt aber erst nach 1804 einen kanonischen Platz in der Geschichtsschreibung. Damals bildete einzig der legendäre Rütlischwur von 1307 und noch nicht der «Brief» von 1291 den vermeintlichen Ausgangspunkt der Eidgenossenschaft.8

Von «fremden Richtern» hätte allenfalls die Rede sein können, sofern die Formel gegen Ende des 15. Jahrhunderts geläufig gewesen wäre, als das Verhältnis zu dem 1495 geschaffenen Reichkammergericht geklärt werden musste. Da ging es aber um Reichsrecht und nicht um internationales Völkerrecht, das es als solches noch gar nicht gab. Im Frieden von Basel von 1499 erzielten die Eidgenossen die grundsätzliche Befreiung vom Reichskammergericht. Einzelne Eidgenossen wandten sich aber zum Missfallen ihrer Obrigkeiten dann und wann trotzdem an diese Instanz, zum Beispiel an das in Rottweil eingerichtete Reichsgericht.

Die vollständige Befreiung (Exemption) kam erst im Westfälischen Frieden von 1648 zustande. Bis dahin sah sich die Eidgenossenschaft mehr oder weniger selbstverständlich als Teil des Heiligen Römischen Reiches.9 Aber es gab auf eidgenössischer Seite einen geringeren Bedarf und offenbar eine andere Grundeinstellung zur Frage der Konfliktbeilegung und zur «Verdichtung» der Reichsverfassung: Das Gebiet der Eidgenossenschaft war weniger Unruhen ausgesetzt, zudem zog sie politische Lösungen den langwierigen und teuren Rechtsprozeduren vor.10

Erst zu jenem Zeitpunkt, also in den westfälischen Friedensverhandlungen, setzte der eidgenössische Gesandte unter dem Einfluss Frankreichs, das die schweizerische Ablösung vom Reich und damit indirekt von Habsburg-Österreich betrieb, auf nationale Souveränität. Ein Streit um «eigene» oder «fremde Richter» war dies nicht, und in der heutigen Debatte über nationale und supranationale Zuständigkeiten bildet dieser Teil der Geschichte bezeichnenderweise keinen aufgeladenen Bezugspunkt.

Vogt und Richter in gemeinsamem Verfahren: Der eine beaufsichtigt, die anderen urteilen. Rat und Gericht zu Bern versammeln sich 1470, um den sogenannten Twingherrenstreit beizulegen (vgl. HLS). Abbildung von 1483 aus der «Amtlichen Berner Chronik» von Diebold Schilling.

Wir verfügen nicht über den Überblick, der uns zuverlässig Auskunft gibt, wie sich politische Voten in den letzten Hundert Jahren seit 1891 auf die Ablehnung «fremder Richter» als wegleitendes Gebot bezogen. Im Rahmen der Feierlichkeiten von 1891 wurde die Ablehnung «fremder Richter» nicht hervorgehoben. Wenn am 1. August 1891 auf dem Festplatz von Schwyz und am 2. August 1891 auf dem Rütli von der Befreiung vom «fremden Joch», von «fremder Gewalt», und der Wahrung «eigener Rechte» die Rede war, dann entsprach dies dem bereits geläufigen Narrativ des Freiheitsepos.11 Für die Erfassung der heutigen Bedeutung des Topos ist dies insofern relevant, als es zeigt, dass die Formel von 1291 nicht per se Wichtigkeit hat, sondern in bestimmten Kontexten und mit bestimmten Absichten wichtig, ja hochwichtig gemacht werden kann. Dazu hätte es einer elementaren Voraussetzung bedurft: Es hätte ausser- oder oberhalb der Schweiz Gerichtsbarkeiten geben müssen, die für die Schweiz oder eine schweizerische Konfliktpartei aus bestimmten Gründen hätten wichtig werden können. Diese gab es vorerst aber nicht.

Würde man vom Bild der «fremden Richter» annehmen, dass es ein wichtiges Element der «imagologischen Bastelei» des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei, würde man durch genaues Hinschauen eines anderen belehrt.12 Sucht man in der entsprechenden Literatur nach dem Begriff, fällt auf, dass er nicht vorkommt. Der Abgrenzungsdiskurs konzentriert sich auf die Bekämpfung der Tyrannen. In Ursula Meyerhofers Studie zur nationalen Integration der Jahre 1815–1848 dominiert die Binnenproblematik des Kampfs zwischen der fortschrittlichen und der konservativen Schweiz.13 Und gemäss der Arbeit von Sascha Buchbinder halten sich die um 1900 tätigen Historiker Wilhelm Oechsli, Johannes Dieraurer und Karl Dändliker in ihren populären Geschichten der Schweiz bei den «fremden Richtern» überhaupt nicht auf.14

Im Falle Oechslis ist dies umso bemerkenswerter, als ihm Erbfeindschaft und Fremdheit zur Abgrenzung vom Eigenen wichtig sind. Die bösen Anderen, das sind die Landesfürsten im Allgemeinen und die Habsburger im Besonderen, nicht gemeint aber ist das Reich. Oechsli: «Vom Kaiser, vom Reich abhängig zu sein, hiess damals so ziemlich sein eigener Herr sein.»15 Die «fremden Richter» könnten etwa seit 1900 immer wieder mal ein Thema in 1.-August-Reden gewesen sein. In der vorhandenen Literatur weist aber nichts darauf hin.16 Einen klassischen Richterbeleg lieferte viel später der SVP-Mann Ueli Maurer in seiner 1.-August-Rede von 2013, die er als Bundespräsident hielt: «Schon im Bundesbrief steht: Wir wollen keine fremden Richter. Mit diesem Grundsatz sind wir bis jetzt gut gefahren.»17

Stichproben zeigen, dass selbst in der Zeit der Geistigen Landverteidigung (insbesondere der Jahre 1930–1945) diese Formel nicht im Vordergrund stand.18 Der Historiker Karl Meyer, der später an der Universität Zürich lehrte, widmete 1929 dem Richterartikel zwar einen Aufsatz, dabei war ihm aber die chronikalische Rückführung auf frühere Formulierungen wichtiger als die Betonung der Jurisdiktionshoheit.19 Und in seinen populären Schriften von 1941 zum 650-Jahr-Jubiläum hob er nicht die Ablehnung «fremder Richter» hervor, sondern das den eigenen Untertanen auferlegte Verbot, sich an externe Gerichte zu wenden: «Vor allem aber musste verhindert werden, dass irgend eine schuldige oder unterlegene Urschweizer Prozesspartei, Habsburgfreunde oder schon bloss Querulanten, dem inländischen Richter einen Streit vorenthielten oder dem von ihm ausgesprochenen Urteil sich widersetzten und den Fall nach auswärts […] zogen.»20 Meyer konnte bei der damaligen Bedrohung durch die totalitären Nachbarn ohne «fremde Richter» auskommen und sich damit begnügen, die zähe, trotzige, furchtlose und opferfreudige Abwehrbereitschaft der Eidgenossen zu beschreiben.21 Die offizielle Schrift zur «Bundesfeier 1941» kam ebenfalls ohne die «fremden Richter» aus.22

Keine Mühe hatte man in der Schweiz mit der Schiedsgerichtsbarkeit in internationalen Konflikten, zumal man da auf eine lange innenpolitische Tradition zurückblicken konnte.23 Schon vor 1914 war die Schweiz eine entschiedene Befürworterin dieser Art von Konfliktregelung. Schiedsgerichte gab es bereits im 14. Jahrhundert für Konflikte, die unabhängig von obrigkeitlichen Instanzen und ohne entsprechende territoriale Begrenzungen gemäss privater Vereinbarung der Streitschlichtung dienten.24 Marcel Senn konnte darum im Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) festhalten: «Das Schiedsgericht diente v. a. Kaufleuten und Händlern, die zwischen verschiedenen Hoheitsgebieten und Rechtsordnungen ein ökonomisch kalkulierbares Beziehungsnetz aufrechterhalten wollten.»25 Ob es Schiedsverfahren zwischen öffentlichen oder privaten Stellen waren, ihrem Wesen war eigen, dass neben den beiden Parteirichtern der dritte, gemeinsame Richter (der Obmann) stets ein «fremder Richter» war, ja sein musste.26 «Fremd» war er allerdings insofern wiederum nicht, als die Streitparteien sich auf ihn geeinigt und ihn sich so zu eigen gemacht hatten. Das konnte man auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg sagen, hingegen nicht vom Europäischen Gerichtshof (EuGH), weil dieser, wenigstens was das Rechtssystem betraf, in eigener Sache urteilte. Auf gesamteidgenössischer Ebene setzte sich die Schiedsgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert durch.27

1947/48 berieten die eidgenössischen Räte den Beitritt der Schweiz zum Internationalen Gerichtshof der UNO und hiessen ihn mit starkem Mehr gut, der Nationalrat mit 95:0, der Ständerat ebenfalls ohne Gegenstimme.28 Die «fremden Richter», die man sich mit diesem Entscheid einhandelte, wurden nicht thematisiert, obwohl damit zu rechnen war, dass sich auch die Schweiz einer derartigen Gerichtsbarkeit unterziehen müsste. Nationalrat Karl Renold (BGB/AG) führte als Berichterstatter rein sachlich und nicht im Sinne einer beruhigenden Versicherung aus, dass auch die Schweiz, obwohl kein Mitglied der UNO, dem Gericht angehören könnte, wenn Sicherheitsrat und Generalversammlung eine entsprechende Empfehlung abgäben. Die näheren Bedingungen seien aber noch nicht festgelegt und würden erst umschrieben, wenn weitere Nichtmitgliedstaaten der UNO Mitglied des Gerichtshofs würden.29 In dieser Debatte wurde mehrfach betont, wie vertraut die Schweiz mit Schiedsgerichtsverfahren sei. Antoine Favre (CVP/VS) zum Beispiel erklärte: «[…] l’idée d’une jurisdiction internationale répond à un idéal qui a toujours été le nôtre. La Suisse possède une expérience plusieurs fois séculaire dans le domaine de l’arbitrage.»30

Um gegen «fremde Richter» im modernen Sinn zu sein, musste es Gerichte mit Zuständigkeit für die Schweiz geben. Das war aber, von den internationalen Schiedsgerichten abgesehen, erst seit 1974 der Fall.

Frühe Abwehr «fremder Richter»

Überraschen kann, wie spät die frühe Abwehr «fremder Richter» einsetzte. Wenig überrascht kann man dann jedoch feststellen, dass die «fremden Richter» im Juni 1969 und im Oktober 1974 in den parlamentarischen Beratungen zum Beitritt der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und damit auch zur Zuständigkeit des entsprechenden Gerichtshofs (EGMR) einen recht breiten Raum einnahmen.31

Wenn wir davon ausgehen, dass diesem Topos einmal über eine bestimmte Debatte gleichsam ein kräftiges und fortbestehendes Leben eingehaucht wurde, dann war es diese Diskussion und nicht erst diejenige von 1992 um den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Für 1969 bleibt allerdings unbeantwortet, aus welchem Fundus, aus welchem Reservoir die Richterfigur bezogen werden konnte.

Paradoxerweise waren es die Befürworter einer Mitwirkung im Rahmen der EMRK, die als Erste die «fremden Richter» auftreten liessen. Zunächst tauchten diese im Votum des Nationalrats Ettore Tenchio (CVP/GR) auf. Als Sprecher seiner Fraktion erinnerte er daran, dass Antoine Favre, Bundesrichter und ein früherer Ratskollege, die Schweiz im EuGH «vertrete», und bemerkte dann: «Ich weiss, dass uns nun jemand sagen wird: Wir wollen keine fremden Richter in unserem Lande. Aber anderseits können wir nicht mehr im totalen Immobilismus des 13. Jahrhunderts verbleiben.»32

Nationalrat Walther Hofer (SVP/BE), Professor für Geschichte an der Universität Bern, kam dann ebenfalls auf die offenbar gängige Formel zu sprechen: «Das Wort von den fremden Richtern ist auch heute noch geeignet, zahlreiche Schweizer zu erregen, weil es tiefe Schichten des geschichtlichen Bewusstseins aufwühlt. Wir sollten uns daher erst dann einer europäischen Gerichtsbarkeit unterziehen, wenn wir das mit gutem Gewissen tun können.» Dabei dachte er vor allem an das noch immer nicht durchgesetzte Frauenstimmrecht. Immerhin sprach sich der Sprecher der SVP für ein «Unterziehen» aus, meinte damit aber kein «Unterwerfen».

Walther Hofer zeigte sich allerdings gerne aufgeschlossen, er verwies auf die vielen bereits vereinbarten Schiedsgerichtsabkommen, die alle «mit entsprechender Einbusse an einst souveränen Rechten» verbunden seien; er beanstandete aber die «Unterwerfung unter supranationale Gerichtsbarkeit» und erklärte dann, wie zitiert, dass das Wort von den «fremden Richtern» auch heute noch geeignet sei, zahlreiche Schweizer zu erregen.33

Ernst Bieri (FDP/ZH) kam auf Hofers Votum zurück, wonach mit den «fremden Richtern» die tiefsten Schichten des geschichtlichen Bewusstseins aufgewühlt würden, und hielt dem entgegen: «Wir sind aber schon längst dem Internationalen Gerichtshof beigetreten, haben sogar dessen obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit vorbehaltlos anerkannt, auch wenn es gegen schweizerisches Verfassungsrecht gehen soll. Heute stehen wir mit über fünfzig Staaten in einer schiedsgerichtlichen Bindung.»34

Otto Fischer (FDP/BE), der später, 1986 im Nachgang des vom Stimmvolk verworfenen UNO-Beitritts, zusammen mit Christoph Blocher die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) gründen würde, verwies ebenfalls darauf, dass es «letztlich um nichts anderes» gehe als um «das Prinzip der eigenen oder fremden Richter».35 Beide, Hofer wie Fischer, störte aber nicht so sehr der Gedanke, dass sich «fremde Richter» einmischen würden, als die Möglichkeit, dass die eigenen Bürger an das externe Gericht gelangen könnten und, mit den Worten Hofers, «unsere rechtsstaatlichen Mängel internationalisieren» oder, mit den Worten Fischers, «in Strassburg gegen den eigenen Staat und gegen die Institutionen des eigenen Staats Prozesse führen» würden.36

Franco Masoni (FDP/TI)versuchte der behaupteten Fremdheit des EGMR entgegenzutreten, indem er argumentierte, dass ein freiwillig anerkanntes Gericht, in dem man zudem selbst vertreten sei, kein von aussen aufgezwungenes Gericht sei. Dezidiert vertrat er die Meinung: «Ich glaube, dieser Ausdruck, der in der Geschichte seine Wurzel hat, wird hier missbraucht.»37

In der Fortsetzungsdebatte griff Mathias Eggenberger (SP/SG) als Berichterstatter den eingeschleusten Terminus auf: «Der historische Begriff des ‹fremden Richters› ist, wie die Herren Masoni und Bieri klar auseinandergesetzt haben, hier völlig fehl am Platze. Wir anerkennen Richter, die uns von einer fremden Macht aufoktroyiert werden, nicht an.»38

Für Romands war die alteidgenössische Geschichte, an der sie nicht beteiligt waren, erstaunlicherweise mindestens so wichtig wie für Deutschschweizer.39 Neben «juges étrangers» war der Begriff «sous tutelle étrangère» geläufig. In der stark föderalistisch eingestellten französischen Schweiz könnte damit auch Fremdbestimmung durch den eigenen Zentralstaat gemeint sein. Mehrheitlich war von «juges étrangers» die Rede.

Der in der traditionellen Schweizer Geschichte stark verankerte Nationalrat und Historiker (und spätere Bundesrat) Georges-André Chevallaz (FDP/VD) kam nicht von sich aus auf den Topos, sondern in einer Entgegnung auf ein Votum des Parteikollegen Otto Fischer zu den «juges étrangers». Und einem Votum James Schwarzenbachs, das er als Ausdruck einer «méfiance fondamentale à l’égard d’institutions européennes et internationales construits sur un rationalisme malfaisant» verstand, entgegnete er mit der ironischen Bemerkung: «[…] l’on comprend que notre pureté helvétique, vêtue de spiritualité virginale et de lin blanc, ne pourrait que se détorierer au contract d’organismes manifestement inspirés par le Satan».40 Im Ständerat hingegen bezog sich Carlos Grosjean (FDP/NE) mit warmen Worten auf «1291» und sagte von dieser Bezugnahme, dass sie nicht auf einem «sentiment anachronique et suranné» beruhe.41

Nationalrat James Schwarzenbach (Rep./ZH), Führerfigur der Überfremdungsbewegung, liess es sich nicht entgehen, auf die Gefahr eines Verlusts der Souveränität hinzuweisen. Die Eindeutigkeit der Gefährdung betonend, erklärte er, er «brauche ja dieses Problem, das jetzt brennt, nicht beim Namen zu nennen», und unterstrich es dann trotzdem, nämlich die Gefahr, «dass wir uns in Zukunft dem Urteilsspruch eines fremden Gerichts beugen». Zudem war er der Meinung, dass die EMRK für ein christliches Land überflüssig sei.42 Damals stand die Befürchtung im Vordergrund, dass das fehlende Frauenstimmrecht und die noch nicht beseitigten antikatholischen Ausnahmeartikel Ausgangspunkte von Klagen in Strassburg werden könnten.

Bundesrat Willy Spühler (SP/ZH) ging 1969 in seinem Schlusswort im Nationalrat auf die Versuche ein, wie er sagte, mit dem Begriff der «fremden Richter» eine «unterschwellige Reaktion» hervorzurufen. Dabei unterstrich er den Unterschied zwischen den Verhältnissen im 13./14. Jahrhundert und den Gegebenheiten im 20. Jahrhundert. Die Vorfahren hätten sich dagegen gewehrt, dass habsburgische Richter in ihre Täler zogen und gegen den Willen der Eidgenossen dort Gericht hielten. Jetzt dagegen würde dem Schweizer Bürger mit der EMRK «bloss ein nach seinem freien Willen verfügbares zusätzliches Rechtsmittel vor internationalen Instanzen gewährt». Und indirekt Nationalrat Hofer korrigierend, bemerkte er, dass die EMRK keine supranationale Institution sei, weil der EGMR im Gebiet der Mitgliedstaaten keine für Einzelpersonen direkt verbindlichen Entscheide erlassen könne.43 Auch im Ständerat beteuerte er später, dass die Souveränität ungeschmälert erhalten bleibe: «Es gibt keinen Richter oberhalb der Bundesversammlung.»44 In diesem Schlussvotum ging er von sich aus auf den gängigen Topos ein, obwohl dieser zuvor während der ganzen Beratung gar nicht ins Spiel gebracht worden war: «Durch die Menschenrechtskonvention werden auch nicht fremde Richter ins Land gerufen, denn sie gibt dem Schweizerbürger bloss ein zusätzliches Rechtsmittel vor internationalen Instanzen in die Hand; er ist aber völlig frei, sich dieses Rekursrechtes zu bedienen oder nicht.»45

Es ist eine im engeren Sinn zufällige, im weiteren Sinn aber doch nicht zufällige Koinzidenz, dass die Bezugnahme auf die alteidgenössische Bilderwelt gerade in einem Moment wichtig wurde, da sie von Experten der Geschichte und einer weiteren Publizistik dekonstruiert wurde. Otto Marchi, Schüler des Mediävisten Marcel Beck, veröffentlichte 1971, nach Vorabdrucken ab Juni 1969 in der Presse, das Buch «Schweizer Geschichte für Ketzer», und Max Frischs «Wilhelm Tell für die Schule» erschien im gleichen Jahr.

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Žanrid ja sildid

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9783039199440
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Esimene raamat sarjas "KONTEXT / Reihe zu staatspolitischen Themen"
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