Loe raamatut: «Toter Regens - guter Regens»

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Georg Langenhorst

Toter Regens – guter Regens

Mord im Priesterseminar

Kriminalroman

Georg Langenhorst

Toter Regens – guter Regens

Mord im Priesterseminar

Kriminalroman

echter

März 2017

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären reiner Zufall und sind auf keinen Fall intendiert. Auch unmittelbare Bezüge zu real existierenden Institutionen oder Orten entbehren jeglicher Absicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2017

© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand

Coverfoto: © Studio Annika/iStock.com

Satz: Hain-Team (www.hain-team.de)

ISBN

978-3-429-04370-4

978-3-429-04926-3 (PDF)

978-3-429-06346-7 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Folgende Personen treten auf

Maximilian Arenhövel, Subregens des Priesterseminars der Diözese Friedensberg

Dr. Elmar Maria Brandtstätter, Professor für Pastoraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät Friedensberg

Dr. Franz Joseph Breskamp, Prälat und Domkapitular in Friedensberg

Georg Brunnhuber, ehemaliger Priesteramtskandidat, jetzt Anlageberater

Matthias Conrady, Krankenpfleger

Günther Dietz, Spiritual des Priesterseminars der Diözese Friedensberg

Julian Eggenstein, Priesterseminarist, Senior

Dr. Norbert Görtler, Regens des Priesterseminars der Diözese Friedensberg

Wolfgang Hellmich, Priesterseminarist

Silvia Hoberg, Dekanatssekretärin an der Katholisch-Theologischen Fakultät Friedensberg

Maria Hübner, Witwe

Bernd Kellert, Kriminalhauptkommissar

Beate Kellert, Steuerfachfrau

Schwester Luitgard, Oberschwester der Franziskanerinnen am Priesterseminar

Dr. Joseph Alois Niedermayer, Prälat, ehemaliger Caritas-Direktor von Friedensberg

Gregor von Niedermayer-Hochstein, Baron

Verena Obmöller, Studienreferendarin für das Lehramt an Gymnasien

Dieter Prachtel, Priesterseminarist

Marcus Rühle, Repetent im Priesterseminar der Diözese Friedensberg

Hubertus Stockhausen, ehemaliger Pfarrer, jetzt Hausmeister in einem Benediktinerinnenkloster

Dominik Thiele, Kriminalhauptmann

Lena Winter-Drexler, Kommissariats-Sekretärin

und viele mehr

Vorspiel – Endspiel

‚Muss ich das wirklich?‘, fragte sich Regens Dr. Norbert Görtler ein letztes Mal. Einige Minuten hatte er am Schreibtisch seines Dienstzimmers gesessen, nachgedacht, wieder und wieder die vor ihm liegenden Unterlagen und Papiere betrachtet, umgeblättert, zurückgelegt. Wie immer war er tadellos gekleidet: im schwarzen Anzug und mit – von den das Haus versorgenden Ordensschwestern – gut gebügeltem weißem Hemd.

Seine mittelgroße, hagere, asketisch wirkende Gestalt, sein millimeterkurz geschnittener, dunkel schimmernder Haarkranz um eine frühe Dreiviertelglatze, seine strengen, kaum das Lächeln gewohnten Gesichtszüge ließen auf einen Mann schließen, der sein Leben vor allem als Pflicht ansah.

Nun stand er auf und ging wie ziellos durch den viel zu großen, hallenartigen Raum, der trotz aller erkennbaren Mühen nicht heimelig wirkte. Die gründerzeitlichen Repräsentationsräume des Priesterseminars von Friedensberg waren viel zu hoch. Jetzt, spätabends Anfang Oktober, konnte man die mit Stuckornamenten verzierte, weiß getünchte Raumdecke kaum noch erkennen. Die mit Aktenordnern und Büchern dicht gefüllten Regale ließen eher an eine Bibliothek denken als an einen Raum, in dem nicht nur typische Büroarbeiten zu erledigen waren, sondern wo vielmehr auch sehr persönliche, mitunter heikle, manchmal lebensentscheidende Gespräche geführt werden mussten.

Mit der rechten Hand lockerte Görtler den Kollar, den eng anliegenden weißen Priesterkragen. Dann griff er zur Stirn, massierte sie, den Daumen rechts, die vier Finger links der Schläfe. Quer über die linke Hand schlängelte sich eine deutlich erkennbare, aber längst verheilte rötlich glänzende Narbe. Mit dieser Hand stützte er sich auf dem braungrauen Sofa der Sitzgruppe ab, die sich auf dem schon ziemlich abgetretenen Teppichquadrat am anderen Ende des Raumes gruppierte. Göttler drehte sich zur Seite und blickte auf das übermannshohe Kreuz, das an der Seitenwand hing, hoch über einem grünblau beleuchteten Aquarium, in dem lautlos mehr als ein Dutzend kleine, bunt glitzernde Fische hin und her schwammen.

Die Lüftungsanlage des Aquariums speiste winzige, kaum hörbare Blubbergeräusche in den hallenartigen Raum, ansonsten war es still. Ab und zu hörte man eines der seltenen Fahrzeuge, die draußen durch die enge Von-Balthasar-Straße fuhren, aber die doppelte Wärme-Isolierung der Fenster ließ auch hier nur eine Ahnung von Geräusch zu. Vier Kerzen brannten – eine auf dem Schreibtisch, eine auf dem Tisch der Sitzgruppe, zwei weitere auf zwei großen, im Raum verteilten holzgedrechselten Ständern. Die Schreibtischlampe war eingeschaltet, dazu eine heruntergedimmte Stehleuchte bei der Sitzgruppe.

„Muss ich?“, flüsterte Görtler, die Augen auf das Kreuz, auf den Kruzifixus gerichtet. Vier Sekunden vergingen, sechs, neun. Dann schnaufte er einmal tief durch, sein Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. Mit kraftvollen Schritten ging er zum Schreibtisch und setzte sich auf den wegen seiner Rückenprobleme eigens für ihn angefertigten orthopädischen Rollenstuhl. ‚Also gut!‘, dachte er. ‚Ich fürchte, es geht nicht anders. Leider!‘

Er nahm das Schnurlostelefon von der Basisstation, überlegte kurz, tippte dann eine Zahlenkombination ein und wartete. Gespannt, konzentriert blickte er auf das Gerät in seiner Hand. ‚Nicht da?‘, fragte er sich kurz. ‚Oder hast du erkannt, wer dich sprechen will, und keine Lust abzunehmen?‘ Da aber meldete sich eine Stimme am anderen Ende, die des erwarteten Gesprächspartners. „Ich muss Sie sprechen“, forderte Görtler mit sicherer und weisungsgewohnter Stimme, „jetzt!“

Er lauschte kurz in das Gerät, unterbrach jedoch den Wortfluss seines Gegenübers mit einem schneidenden „Nein, das kann nicht bis morgen warten! Ich habe schon viel zu lange tatenlos zugeschaut. Nein, ich werde das nicht mehr hinnehmen! Wir müssen die Angelegenheit nun endlich klären. Definitiv.“ Wieder hörte er auf die Worte seines Gegenübers. Dessen Protest war kleinlauter dieses Mal, so viel war zu ahnen.

„Ja, ich bin in meinem Büro. Den ganzen Abend. Sie können kommen, ich bin da.“ Mit einem Seufzen legte er das Handgerät zurück auf die Station, atmete einmal kräftig durch, lehnte sich zurück und streckte die Arme nach oben. ‚Gut, dann muss es eben sein‘, ging es ihm durch den Kopf.

Dass er mit diesem Telefonanruf sein eigenes Todesurteil ausgesprochen hatte, konnte Dr. Norbert Görtler, Spross einer alteingesessenten Friedensberger Großfamilie, die viele Priester hervorgebracht hatte, nicht ahnen. Auch in seinen unheilvollsten Albträumen hätte er zwar vieles für möglich gehalten, das jedoch nicht. Nur noch ein einziger Mensch würde je wieder mit ihm, dem zweiundvierzigjährigen Regens des Priesterseminars von Friedensberg, ein Wort wechseln: sein Mörder.

1

Kriminalhauptkommissar Bernd Kellert glaubte sich verhört zu haben. Er fragte nach: „Was? Wohin soll ich?“ „Stimmt schon, Chef“, gab die Kommissariats-Sekretärin Lena Winter-Drexler zurück, „Sie haben schon richtig verstanden: in das Priesterseminar, Von-Balthasar-Straße 4. Da gab es einen Mord!“ Kellert, achtundvierzig Jahre alt, immer noch sportlich, schlank, etwas über einsachtzig groß, wusste, dass die Sekretärin keine Witze machte. Dafür war sie schon viel zu lange im Betrieb tätig; dafür kannten sie sich nach fast fünfzehnjähriger Zusammenarbeit zu gut. Trotzdem blickte er sie nun ungläubig an: „Das kann doch nicht sein! Ein Mord im Priesterseminar!“ „Ist aber so, Chef! Los … und nehmen Sie Thiele mit!“

Kellerts Verblüffung dauerte nur kurz. Mit raschen Schritten eilte er in das Doppelbüro, das er sich seit drei Jahren mit seinem Assistenten, Kriminalhauptmann Dominik Thiele, teilte. „Auf, Dominik, Einsatz!“, rief er dem an seinem Schreibtisch sitzenden Kollegen zu, der mit konzentrierter Miene auf den Computerbildschirm vor sich starrte, ohne selbst etwas zu tippen.

Kellert griff sich seine Jacke vom Garderobenhaken neben der Tür, machte kehrt und lief auch schon in Richtung Dienstparkplatz. Thiele – etwas größer als sein Chef und siebzehn Jahre jünger, auch er sportlich und durchtrainiert, auch er mit Kurzhaarfrisur, seit drei Monaten aber zudem mit einem stets akkurat getrimmten Dreitagebart – folgte ihm, hatte ihn bald eingeholt.

Viele Worte brauchte es zwischen den beiden nicht. Sie waren inzwischen ein perfekt eingespieltes Team. Sie hatten gelernt, dienstlich zu harmonieren, ohne privat viel miteinander zu unternehmen. Die Abstimmung passte. „Wohin?“, fragte Thiele kurz, als er sich die Schlüssel für den neuen Dienst-BMW vom Schlüsselbord nahm. „Von-Balthasar-Straße“, gab Kellert zurück. Thiele schaute kurz auf, seine Augen blickten ins Leere, dann zuckte er kaum merklich mit den Schultern: „Kenne ich nicht! Wo ist das denn?“ „Kennst du doch“, behauptete Kellert. „Die enge Gasse hinterm Dom, mit Kopfsteinpflaster. Da, wo es rübergeht zur Uni.“

Immer noch unsicher blickend setzte sich Thiele ans Steuer und startete den Wagen. Überlaute Radiomusik brandete auf. Mit energischem Knopfdruck sorgte Kellert für jene Stille, die er für einen Montagmorgen um kurz nach halb neun für angemessen hielt. „Und was sollen wir da?“, fragte Thiele nach, während der Wagen fast lautlos auf den doppelspurigen Humboldt-Ring einbog.

„Da gibt’s natürlich ein Tötungsdelikt. ‚Mord‘ sagt man auch dazu. Schon mal gehört?“, gab Kellert mürrisch zurück. „Mord im Priesterseminar!“ Kurz ging ein kleiner Ruck durch den Wagen, als Thiele den Fuß vom Gaspedal nahm und seinen Chef überrascht und fragend anblickte. „Mehr weiß ich auch nicht“, beantwortete der den fragenden Blick seines Mitarbeiters. „Wir werden schon sehen, was da los ist.“

Die Kollegen von der Streifenpolizei waren offensichtlich schon einige Zeit vor Ort. Die Zufahrt zum Priesterseminar von der buckligen und engen Von-Balthasar-Straße aus war bereits mit weiß-roten Absperrbändern versehen. Ein Dienstfahrzeug blockierte mit eingeschaltetem Blaulicht die Einfahrt. Die ganze Szenerie wurde in das beständige Wechselspiel des auf- und abblitzenden Lichtrhythmus hineingenommen und wirkte dadurch fast irreal.

‚Wenigstens kein Sirenen-Signal‘, dachte Kellert, der den Aufwand für übertrieben hielt. Zwei Streifenbeamte kontrollierten den Zugang. Thiele parkte den BMW auf einem für Behinderte reservierten Parkplatz rechts vor dem Tor der Einfahrt, der einzigen freien Parkmöglichkeit, die er auf die Schnelle erkennen konnte. Kellert zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts.

Einer der Streifenpolizisten kam auf sie zu, grüßte und führte sie durch das hohe Tor in den erstaunlich großen Vierungshof, der ringsum von dreistöckigen Gebäuden umgeben war. Einige sahen mehrere Jahrhunderte alt aus, andere mochten um die Wende zum 20. Jahrhundert errichtet worden sein. Obwohl der Hof geräumig war, wirkte das gesamte Szenario doch eher düster. Der in die Mitte in ein kleines Rundbeet gepflanzte, vielleicht fünfzehn Meter hohe Kastanienbaum verfärbte sich bereits, hatte schon einen Teil seines gelblich braunen Blattwerks abgeworfen.

Sie wurden in eines der Gebäude geführt, das aus der letzten Bauetappe stammen musste. ‚Ende des 19. Jahrhunderts, tippe ich‘, dachte Kellert. Hohe, saalartige Räume, Schmuckstuck an den weißgetünchten, aber eher grau wirkenden Decken, schmale, tief ausgeschnittene und hoch aufragende doppelverglaste Fenster. Innen alles weiß gestrichen, funktional eingerichtet, unpersönlich. ‚Ein bisschen wie ein Krankenhaus‘, ging es Kellert durch den Kopf, dann korrigierte er sich aber: ‚Oder doch eher wie ein Internat. Also: wie ich mir früher ein Internat vorgestellt habe.‘

Nachdem sie mehrere hohe, hallende Gänge durchschritten hatten, kamen sie an eine Tür, wo sie ein anderer Beamter schon erwartete. Links neben der Tür war ein silbrig glänzendes Metallschild angebracht, auf dem groß das Wort „Regens“ zu lesen war, darunter viel kleiner „Dr. Norbert Görtler. Gesprächstermine jederzeit, aber bitte nur nach Absprache.“

‚Regens‘? Kellert runzelte die Stirn. ‚Was heißt denn das nun wieder genau? Bezeichnungen haben die in der Kirche, da kennt sich doch kein Mensch aus!‘ Dass das Dienstzimmer jedoch zu einem Mann in leitender Stellung gehören musste, war auf den ersten Blick zu erkennen. Viel Zeit zum Nachdenken blieb Kellert aber nicht. „Beckers“, stellte sich der hier postierte Streifenbeamte kurz vor. Er ersparte sich aber weitere Worte und wies die Kriminalbeamten in den dahinterliegenden Raum. „Wir haben nichts verändert“, gab er ihnen noch mit.

„Ist die KTU schon informiert?“, fragte Kellert im Vorübergehen. „Selbstverständlich! Die wollen in etwa“ – Beckers blickte auf seine Armbanduhr – „zehn Minuten hier sein. Sie haben also noch ein bisschen Zeit, um sich in Ruhe umzuschauen.“ Kellert hielt noch einmal inne und wies mit der rechten Hand in den vor ihnen liegenden Raum. „Äh, schon identifiziert?“, fragte er.

„Ja, sicher“, gab Beckers zurück, der das wohl für selbstverständlich hielt. „Das ist der Chef hier, der Regens, dem das Zimmer gehört, also dieser … Moment … Görtler.“ „Sagt wer?“, mischte sich Thiele ein. „Na dieser Arenhövel, der ist hier – wie nennt der sich noch mal? – Subregens, glaube ich, also wohl der Stellvertreter. Der hat ihn doch auch gefunden und die Polizei angerufen. Der ist völlig durch den Wind. Kriegt kaum einen Ton raus. Wartet drüben in einem anderen Raum. Kollegin Unterhöfer ist bei ihm. Wollen Sie ihn sprechen?“ „Nee, danke, jetzt nicht“, gab Kellert zurück. „Später bestimmt!“

2

Kellert und Thiele hatten sich Plastiküberzieher über die Schuhe gezogen und die Gummihandschuhe über die Hände gestreift, die ihnen der Streifenbeamte Beckers eilfertig entgegengehalten hatte. Vorsichtig betraten sie das große Dienstzimmer des Regens. ‚Kalt‘, dachte Thiele als Erstes. ‚Streng‘, überlegte Kellert. Das Grundprinzip des Raums erschloss sich auf den ersten Blick. Hier herrschte Ordnung, kalkuliert, diszipliniert und ständig überprüft. Mobiliar, Bücher, Ausstattung – all das erweckte den Anschein von Funktionalität und Effektivität. Allein das Aquarium überraschte. Keinerlei Pflanzen. Kaum Hinweise auf persönliche Gegenstände des Benutzers dieses Raums.

All diese Eindrücke schossen den beiden Kriminalbeamten in kurzen Augenblicken durch den Kopf. Ihre Aufmerksamkeit wurde sofort darauf gestoßen, was diese Ordnung durchbrach. Brutal durchbrach, radikal. Zwischen Schreibtisch und Sitzgruppe mochten vier, fünf Meter liegen. Genau hier befand sich die leicht gekrümmt daliegende männliche Leiche. Das Gesicht vornüber in Richtung Schreibtisch, die Beine zur Seite verdreht, sah der Mann in schwarzem Anzug und mit weißglänzendem Kollar auf den ersten Blick immer noch aus, als wäre er unglücklich gefallen, könnte sich aber jeden Moment wieder erheben.

Der zweite Blick ließ keinen Zweifel zu: Dieser Mann war tot. Auf dem Hinterkopf zeigte sich eine klaffende, blutverkrustete Wunde. Um Kopf und Oberkörper des Leichnams hatte sich eine große Blutlache gebildet, die teils in den Teppich, teils in das schon etwas abgenutzte Parkett eingezogen war.

Vorsichtig bewegten sich die beiden Kriminalbeamten durch den Raum. Ihrem routinierten Blick entging fast nichts. ‚Alles perfekt aufgeräumt, kein Müll, kein querliegender Gegenstand, nichts‘, notierte sich Kellert in sein inneres Wahrnehmungsprotokoll. ‚Keine auf den ersten Blick erkennbare Spur von einem Besucher in diesem Raum.‘ „Tatwerkzeug?“, raunte er zu Thiele hinüber, aber der zuckte nur, die Augenbrauen hochziehend, mit den Schultern.

Auch nach längerem Suchen fand sich nichts, was als Tatwerkzeug hätte in Frage kommen können. Blutspuren zeigten sich nur rund um das Opfer. Weder in Richtung Tür noch Fensterwand ließen sich weitere Ungewöhnlichkeiten feststellen. Dass sämtliche Fenster geschlossen waren, dass die Tür nicht beschädigt war, hatten sie ganz zu Anfang sichergestellt. Der Täter – ‚oder die Täterin!‘, ermahnte sich Kellert, vorschnelle Fehlschlüsse zu vermeiden – war offensichtlich ganz normal durch die Zimmertür hinein- und ebenso auch wieder hinausgelangt.

Plötzlich blieb Kellert ruckartig stehen, schnupperte. Thiele blickte ihn entgeistert an. ‚Was hat er denn nun schon wieder?‘, dachte er. Gleichzeitig kannte er seinen Chef inzwischen gut genug, um zu ahnen, dass ihm etwas aufgefallen war.

„Riechst du nichts?“, fragte der Kriminalhauptkommissar seinen Mitarbeiter. Der versuchte nun seinerseits, irgendeine Witterung aufzunehmen, blieb dabei aber erfolglos. „Nichts Außergewöhnliches!“, gab er zurück. „Da hängt doch eine kleine Spur von Wachs und Rauch in der Luft“, meinte Kellert und wies auf mehrere Punkte im Raum. „Und schau: Da sind mehrere große Kerzen. Die werden wohl noch vor Kurzem gebrannt haben. Wer hat die ausgemacht? Das möchte ich gern wissen!“

Thiele zuckte mit den Schultern. Er konnte beim besten Willen nichts riechen. Aber wenn sein Chef Recht hätte – ‚und das hat er ja fast immer!‘, gestand er sich ein –, dann war das schon eine berechtigte Frage. Aber wem könnte man sie stellen?

„So, wir übernehmen!“ Mit besitzergreifendem Getöse betraten drei ganz in weiße Schutzanzüge gekleidete Kollegen der kriminaltechnischen Untersuchungsabteilung den Raum und unterbrachen unsanft sämtliche Gedankengänge der dort agierenden Polizisten. „Darf ich bitten, Bernd?!“ Der Leiter des Teams, Thomas Kleinheister, komplimentierte die Kriminalbeamten fast schon gewaltsam aus dem Raum hinaus.

Ein solches Vorgehen waren diese aber genauso gewohnt wie Kleinheisters Marotte, Dominik Thiele gar nicht eigens zu beachten, geschweige denn zu erwähnen, sondern als eine Art Anhang von Bernd Kellert zu betrachten. Das ging Thiele oft so, verschaffte ihm aber Freiheiten, die er immer wieder nutzte. Anfangs hatte er sich über diese vermeintliche Geringschätzung geärgert, inzwischen erkannte er die Chancen des Agierens im Windschatten seines Chefs.

Kriminalhauptkommissar Kellert seinerseits kannte seinen Freund Kleinheister nun schon seit fast fünfundzwanzig Jahren und wusste, wie man seine bärbeißig-selbstbewusste Art zu nehmen hatte. Vor allem aber wusste er, dass dieser seine Arbeit äußerst penibel und zuverlässig zu erledigen pflegte. Deshalb folgten Kellert und Thiele der sanften Gewalt und verließen das zum Tatort gewordene Dienstzimmer des Regens. „Unbedingt die Fingerspuren checken!“, gab Kellert dem Chef der KTU noch mit auf den Weg, einen Ratschlag, den dieser nur mit wortlosem Kopfschütteln und Verziehen des Mundes kommentierte. Als ob er das je vergessen hätte!

„Und jetzt?“, fragte Thiele, als sie sich der Überzieher entledigt hatten. „Ich werde mir jetzt erst mal gründlich die Hände waschen gehen, und dann sprechen wir mal mit diesem … äh … Subregens. Der hat uns sicher einiges zu erzählen. Das hier“ – Kellert wies mit dem Daumen der linken Hand über seine rechte Schulter zurück – „wird schwierig. Ich glaube nicht, dass Kleinheister und Co. uns dieses Mal wirklich weiterhelfen. Sagt mir mein Gefühl.“ Und das, so wusste Dominik Thiele nach dreijähriger Zusammenarbeit inzwischen, trog den Hauptkommissar der Mordkommission Friedensberg fast nie.

3

„Nun kommen Sie! Bitte reißen Sie sich zusammen. Sie können und müssen uns wirklich helfen!“ Bernd Kellert blickte auf den Mann hinab, der wie ein Häufchen Elend auf einem Holzstuhl saß. Zusammen mit Dominik Thiele befanden sie sich in einer Art Besprechungszimmer, drei Flure vom gleichfalls ebenerdigen Dienstzimmer des Regens entfernt. Sparsam ausgestattet – ein Tisch, vier Stühle, zwei Seitenregale, darauf eine Bibel und ein Dutzend bunt eingebundener schmaler Gedichtbände, alle von dem gleichen Autor, Andreas Knapp – war dies abgesehen von einem schlichten Holzkruzifixus ein kleiner, völlig schmuckloser Raum.

Maximilian Arenhövel, der Subregens des Priesterseminars, hatte auf ihr Eintreten zunächst fast gar nicht reagiert, sie kurz begrüßt, ansonsten aber wortlos und glasig vor sich hingeschaut, in sich gekehrt, niedergedrückt. Er mochte Mitte, vielleicht Ende dreißig sein. Sein etwas schwammiger, zur Dickleibigkeit neigender Körper schien ihm eher eine Last zu sein. Die unordentlichen, halblangen, zum Teil lockigen braunen Haare klebten an den schweißnassen Schläfen. Auch er trug einen schwarzen, wenn auch an den Seiten leicht kneifenden Anzug und einen steifen Kollar. ‚Offenbar eine Art Uniform hier‘, dachte Thiele.

Nach zwei, drei höflichen Versuchen, Arenhövel zu befragen, war Kellert der Geduldsfaden gerissen und er hatte eine etwas schärfere Tonart eingeschlagen. Und erstaunlich: Der Angesprochene zuckte zusammen, straffte sich und blickte sein Gegenüber erstmals an. Diese Form der Ansprache konnte offensichtlich seine Apathie durchstoßen. ‚Gott sei Dank‘, fuhr es Kellert durch den Kopf. Thiele beobachtete den Vorgang mit Interesse. ‚Das hätte ich mich nicht getraut‘, dachte er bei sich, ‚wieder was gelernt!‘

„Entschuldigen Sie, Sie haben ja völlig Recht!“, stammelte Arenhövel mit einer hohen, eher jungenhaften Stimme. „Aber ich bin völlig durcheinander. Der Regens – tot! Das kann doch einfach nicht wahr sein! Wer macht denn so was! Wie soll ich das den Seminaristen beibringen? Und wie dem Bischof? Und ich kann mir schon vorstellen, wie sich die Presse auf den Fall stürzen wird. Die suchen doch nur danach, uns wieder was ans Zeug zu flicken.“ Er blickte völlig verzweifelt und sichtlich überfordert auf Kellert, als erhoffte er sich von diesem wirklich Antworten auf seine Fragen und Hinweise auf Auswege aus der Situation. Thiele hatte auch er bislang völlig ignoriert.

„Bitte, Herr Arenhövel. Wir brauchen dringend einige Auskünfte von Ihnen!“, versuchte Kellert sein Gegenüber zur Konzentration zu mahnen. Er nahm einen der beiden übrigen freien Stühle, drehte ihn, setzte sich falsch herum darauf, legte die Arme über die nach vorn weisende Lehne und fuhr mit fester Stimme fort: „Wie war das also: Sie haben die Leiche, also den Regens, doch entdeckt, oder? Wann war das genau?“

Der Subregens schüttelte sich einmal, zweimal, dann aber hatte er sich gefasst. „Das war so“, begann er. „Montagmorgens treffen wir uns immer zur Wochenvorbesprechung, immer um halb acht, immer beim Regens.“ „Wir?“, unterbrach Kellert. „Wer?“ „Na, die Hausleitung“, entgegnete Arenhövel, als sei das völlig selbstverständlich, „also Regens Görtler, Spiritual Dietz und ich.“

„Entschuldigen Sie, dieser Dietz“ – unterbrach Kellert den nun sprudelnden Redefluss erneut, spürte aber gleichzeitig, dass er jetzt nicht auch noch nachfragen sollte, was das denn nun wieder sei, ein ‚Spiritual‘ – „war der auch dabei? Ist der jetzt auch im Haus?“ „Eben nicht“, entgegnete Arenhövel sofort. „Das war ja das Seltsame! Ich muss das wohl erklären. Wissen Sie: Eigentlich beginnen wir als Hausgemeinschaft die Woche immer mit der Laudes …“

Als er sah, dass ihn Kellert fragend anblickte, fügte er hinzu: „… also einem gemeinsamen Morgengebet in der Kapelle. Nur hatten wir freies Wochenende. Also: Bevor an der Uni das Wintersemester beginnt, dürfen die Alumnen“ – dieses Mal schaute Thiele fragend, Kellert zuckte unmerklich mit den Schultern – „noch einmal nach Hause oder jemanden besuchen oder was sie sonst so wollen. Im Semester haben sie ein dichtes Programm, da ist das viel schwieriger.“

„Und?“, unterbrach Kellert ungeduldig. Arenhövel, sichtlich gestört durch diese Unterbrechung, überlegte kurz, sprach aber dann, mit jedem Satz sicherer werdend, weiter: „Und deswegen habe ich ja weder den Regens noch den Spiritual bei der Laudes angetroffen. Normalerweise frühstücken wir danach auch zusammen, bevor wir uns dann an die Dienstgeschäfte machen. Ja …“ – er fuhr sich mit der rechten Hand über die Augen – „deshalb bin ich eben gegen halb acht direkt zum Regentenzimmer gegangen. Wie sonst in vergleichbaren Fällen auch. Die Tür war geschlossen, also habe ich geklopft. Drei Mal, glaube ich. Als ich keine Antwort bekam, dachte ich, dass ich vielleicht zu spät dran sei und die beiden anderen schon im Gespräch wären, mich möglicherweise nicht gehört hätten. Also habe ich die Klinke gedrückt und bin hineingegangen.“

„Die Tür war nicht abgeschlossen? Sind Sie da ganz sicher? Das ist wichtig!“, warf Thiele ein, der so zum ersten Mal die Rolle als reiner Beobachter aufgab. Der Subregens drehte sich ihm zu, runzelte kurz die schweißglänzende Stirn und meinte dann: „Unsinn, die ist nie abgeschlossen. Das gibt es hier bei uns nicht. Privatzimmer darf man schon mal abschließen, aber Dienstzimmer doch nicht! Nein, nein: Die war offen, so wie immer. Na ja, dann bin ich also rein. Und da lag er: zwischen Schreibtisch und Sofa. Der Kopf sah furchtbar aus. Und das viele Blut!“

„Sind Sie dann zu ihm hingegangen und haben überprüft, ob er noch lebt?“, griff nun Kellert wieder in das Gespräch ein. „Nein, das habe ich nicht. Das hätte jeder sehen können, dass der tot ist. Außerdem: Ich habe ein freiwilliges soziales Jahr gemacht als Rettungssanitäter. Glauben Sie mir: Ich kann das sofort sehen, ob einer tot ist oder noch lebt. Und hier gab es nicht den Hauch eines Zweifels. Der war tot!“

Kellert nickte ihm zu: „Und sind Sie dann noch in dem Raum herumgegangen? Haben Sie irgendetwas berührt oder mitgenommen? Oder irgendetwas Außergewöhnliches beobachtet?“ ‚Tse‘, dachte Thiele, ‚Bernd: du bist nicht ganz in Form. Drei Fragen auf einmal – die stellt man nicht. Eine der ersten Lektionen in Gesprächsführung!‘ Wie überhaupt: Kellert schien in der letzten Zeit bedrückt. Nicht mehr so elanvoll, nicht mehr in der Spannung, die Thiele in den ersten Jahren an seinem Chef beobachtet hatte.

Arenhövel schien sich an all dem aber nicht zu stören. „Nichts, gar nichts“, beteuerte er. „Ich bin sofort raus aus dem Raum, habe weder etwas berührt – wenn ich mich nicht täusche – noch etwas mitgenommen. Was denn auch? Und wie sollte ich irgendetwas dort beobachtet haben? Ich war – und bin – völlig durcheinander!“

„Das verstehe ich vollkommen“, erwiderte Kellert nun in ruhigerem, mäßigendem Ton. „Aber bitte versuchen Sie sich zu konzentrieren. Wie war das, als Sie den Raum betraten? War da ein Licht eingeschaltet? Brannten Kerzen?“

Arenhövel blickte den Kommissar überrascht an, runzelte die Stirn und dachte nach. „Nein, ein Licht war da nicht eingeschaltet, da bin ich sicher“, sagte er nach einiger Zeit. „Warum auch, es war ja taghell. Und Kerzen? Nein, da brannte keine Kerze. Wobei …“ – wieder überlegte er – „Regens Görtler hat abends gern Kerzenlicht in seinem Zimmer gehabt. Vielleicht haben Sie die großen Leuchter bemerkt. Die brannten oft stundenlang. ‚Das beruhigt mich‘, hat er immer gesagt.“

Thiele fragte nach: „Und Sie haben die sicher nicht ausgeblasen?“ Arenhövel wandte sich irritiert dem jüngeren der beiden Polizisten zu. „Nein, das habe ich doch gesagt! Da brannte keine Kerze, als ich den Raum betrat. Ganz sicher nicht! Auch wenn …“ – wieder versuchte er, sich genau zu erinnern – „da schon ein Kerzenduft in der Luft hing. Jetzt, wo Sie das ansprechen, fällt es mir wieder ein.“

„Seltsam! Sehr seltsam!“, überlegte Kellert. „Wer hat die denn dann gelöscht? Der Regens selbst, noch vor seinem Tod? Der Mörder? Aber was für ein Mörder löscht denn nach der Tat noch die Kerzen im Raum?“ Die drei Männer blickten sich ratlos an, jeder mit seinen Gedanken befasst.

Schließlich ergriff der Kommissar das Wort. „Eine vorerst letzte Frage habe ich aber noch: Dieser – wie hieß der gleich wieder? –“, er blickte hilfesuchend zu Thiele, der sofort „Dietz“ sagte. „Richtig, dieser Dietz, also der …“ – „Spiritual“, ergänzte dieses Mal Arenhövel – „kam der dann noch? Ist er jetzt auch hier?“ Der Subregens zögerte mit der Antwort, blickte von Kellert zu Thiele und wieder zurück, erwiderte dann: „Keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Ich habe ihn noch nicht gesehen. Und das ist sehr ungewöhnlich. Günther ist sonst ausgesprochen zuverlässig.“

Kellert überlegte einen kurzen Moment. Dann stand er auf, legte dem Subregens die rechte Hand auf die Schulter und sagte: „Vielen Dank, Herr Arenhövel. Ich kann mir vorstellen, dass das für Sie jetzt nicht leicht ist. Aber wir brauchen wirklich so früh wie möglich genaueste Informationen. Sind eigentlich alle Bewohner des Hauses jetzt hier?“ Auch Arenhövel stand nun auf und blickte dankbar auf den Kommissar.

„Ich denke schon“, gab er zurück. „Die Alumnen sind ja jetzt aus ihrem freien Wochenende zurück. Und haben natürlich alle mitgekriegt, was hier los ist. Wahrscheinlich kochen in der Gerüchteküche wilde Spekulationen. Irgendetwas wird sich längst herumgesprochen haben. Um Gottes willen, wie soll das nur weitergehen?“

„Das zumindest kann ich Ihnen sagen“, erwiderte Kellert. „Wir rufen für“ – er blickte auf seine Armbanduhr – „elf Uhr eine Versammlung ein von allen, die hier im Haus leben oder arbeiten. Sie haben dafür doch sicherlich einen geeigneten Raum?“ Arenhövel nickte, während Kellert weitersprach: „Keine Sorge: Ich führe das Wort. Halten Sie sich bitte zurück. Und du“ – hier blickte er zu Thiele, der sich ebenfalls erhoben hatte – „versuchst erst einmal rauszukriegen, wo dieser Dietz abgeblieben ist.“