Loe raamatut: «Nietzsche leicht gemacht», lehekülg 6

Font:

1.10 Die ästhetische Rechtfertigung der Welt

Wir haben am Anfang darauf hingewiesen, dass ­Nietzsche in diesem Buch unter dem merkwürdigen Titel „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ die Frage nach dem Wissen der Wissenschaft untersucht – nach jener Form des Wissens, die er sehr früh als Problem erkannt hatte. Jetzt können wir sehen, unter welcher Perspektive er diese Frage stellte. In seinem viel später geschriebenen ‚Versuch einer Selbstkritik‘ differenzierte er sie so aus:

„Und die Wissenschaft selbst, unsere Wissenschaft – ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens angesehn, alle Wissenschaft? Wozu, schlimmer noch, woher – alle Wissenschaft? Wie? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus? Eine feine Notwehr gegen – die Wahrheit? Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit? Oh Sokrates, Sokrates, war das vielleicht dein Geheimnis? O geheimnisvoller Ironiker, war dies vielleicht deine – Ironie?“ (GT III-1, 6 –7)

Die Wissensform der Wissenschaft soll also unter der Perspektive ihrer Geschichte untersucht werden, also auf ihren Entstehungszusammenhang hin (wozu? – woher?), der offensichtlich sehr viel mit dem platonischen bzw. sokratischen Denken zu tun hat. Es wird also die Stellung zur Welt und zum Leben verhandelt, die wir unter dem

<–57|

Vorzeichen der Wissenschaftlichkeit einnehmen. Diese Haltung ist auch moralisch geprägt, so dass die Frage nach dem Wissen, das als Wissenschaft auftritt, auch mithilfe einer ethischen Reflexion untersucht werden muss. Auf diese Weise soll die Beziehung zwischen Wissenschaft und Wahrheit näher aufgeklärt werden, die wir heute oft überhaupt nicht als ein problematisches Verhältnis auffassen, weil wir die beiden Begriffe von vornherein zu identifizieren bereit sind..

In der Rückschau erschien ­Nietzsche sein frühes Werk als „ein Buch vielleicht für Künstler mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver Fähigkeiten (…), voller psychologischer Neuerungen und Artisten-Heimlichkeiten, mit einer Artisten-Metaphysik im Hintergrunde.“ (GT III-1, 7) Damit ist eine grundsätzliche Reflexion auf die Rezeptionsbedingungen seiner Philosophie – wie alles Denkens – angedeutet, die ­Nietzsches Schriften bis in die späten Werke hinein durchziehen wird. (Wir werden am Schluss in Zusammenhang mit dem ‚Zarathustra‘-Buch noch näher auf diese Reflexion eingehen.) Ein Buch für ‚Künstler‘ soll es deshalb sein, weil es gemeinsame Erfahrungen voraussetzt, die empfänglich für das Künstlerische machen (was nicht bedeuten soll, dass ­Nietzsches Leser die Kunst zu ihrem Beruf machen müssten, um sein Denken verstehen zu können). Aber es soll sich doch um ein „Buch für Eingeweihte“ handeln, „als ‚Musik‘ für Solche, die auf Musik getauft, die auf gemeinsame und seltne Kunst-Erfahrungen hin von Anfang der Dinge an verbunden sind.“ (GT III-1, 8)

­Nietzsche grenzt das Verfahren seiner Philosophie damit von einer Wissenschaftlichkeit ab, die in erster Linie auf dem beruht, was er selbst als „die Schicklichkeit des Beweisens“ bezeichnet (GT III-1, 8). Mit diesem Ausdruck der ‚Schicklichkeit‘, den man sich auch mit ‚Sitte‘ übersetzen könnte, schließt ­Nietzsche – vermutlich unbewusst – an Hegel an, der das wissenschaftliche Verfahren schon als ein in der Geschichte des Denkens entstandenes spezielles Begreifen der Welt erklärt hatte; und er weist bereits vor auf Wittgenstein, für den ein solches Beweisen viel später ein ‚Sprachspiel‘ darstellen wird, das auf der Grundlage und in Verbindung mit einer ‚Lebensform‘ gilt und darin auch seine Grenzen hat.

Man kann aber – und man ist geneigt zu sagen: ‚leider‘ – nicht übersehen, dass bereits hier beim frühen ­Nietzsche auch ein Denken beginnt, das heute in der Regel mehr zur dunklen Seite von dessen (Denk-)Macht gerechnet wird, nämlich die Kritik an Demokratie, Utilitarismus und sozialem Ausgleich, sowie der moralisch getönte Lobpreis von Stärke, Macht und Gewalt in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit, obwohl an vielen Stellen doch nur eine Erklärung für die Veränderungen in der Stellung des Menschen zur Welt und die dazugehörigen Wissensformen gegeben wird. Teilweise sind solche Überlegungen noch sachorientiert, aber an anderen Stellen ist das ‚Ressentiment‘ deutlich zu erkennen – eine Haltung, die gerade ­Nietzsche

<–58|

als eine Art moralischer Todsünde dargestellt hat. An dieser Stelle genüge dafür ein Beispiel. In seiner ‚Selbstkritik‘ zur ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ schrieb ­Nietzsche in Bezug auf die Entwicklung im griechischen Denken hin zu einer „Logisierung der Welt“ etwa in einer suggestiven Formulierung: „Wie? könnte vielleicht, allen ‚modernen Ideen‘ und Vorurteilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der praktische und theoretische Utilitarismus, gleich der Demokratie selbst, mit der er gleichzeitig ist, – ein Symptom der absinkenden Kraft, des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein?“ (GT III-1, 10 –11) Wie bei vielen ähnlichen Formulierungen lässt sich auch diese Stelle wertfrei lesen, aber wenn das ‚Ästhetische‘ berücksichtigt wird, dessen Bedeutung gerade ­Nietzsche herausgestellt hat, dann klingt sie doch anders – aber vielleicht will uns ­Nietzsche ja gerade auf diese ästhetische Grundlage des Verstehens hinweisen und führt uns deshalb mit Absicht in die Irre?

Lassen wir diese Frage zunächst auf sich beruhen. Auf jeden Fall ist nach der Lektüre der ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ deutlich, dass die Bedeutung der Kunst bzw. des Schöpferischen generell für ­Nietzsches Denken kaum unterschätzt werden kann – und dies gilt keineswegs nur für die Tragödie, die Musik oder überhaupt das Phänomen, das wir heute in den verschiedenen Kunstformen antreffen, sondern gemeint ist vor allem ‚Kunst‘ in einem weiteren Sinn. An mehreren Stellen erklärt uns ­Nietzsche darüber hinaus, „dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint“ (GT III-1, 148), und hier handelt es sich wohl um einen seiner meistzitierten Sätze. Möglicherweise klingt dies für viele Leser so, als werde damit gesagt, es müsse alles nur in einem ästhetischen Sinne ‚schön‘ sein, um eine ‚Rechtfertigung‘ finden zu können, welche Behauptung man eher bei Oscar Wilde oder im englischen Dandyism erwarten könnte. Man sollte jedoch im engeren Sinne ‚ästhetizistische‘ Assoziationen hier vermeiden – es geht keineswegs darum, dass das Schöne ‚höher‘ als das Wahre oder das Gute ist oder dass die Welt unter ästhetischen Wertmaßstäben beurteilt werden soll und nicht etwa unter ethischen.

Aus den Erörterungen über die ‚Geburt der Tragödie‘ ist schon deutlich geworden, dass das ‚Ästhetische‘ bei ­Nietzsche nicht ‚das Schöne‘ meint. ‚Ästhetisch‘ sind die beiden Prinzipien der Sinngebung und damit der Verständlichkeit der Welt, die hier als ‚das Apollinische‘ und als ‚das Dionysische‘ bezeichnet werden. Keines von beiden kann jedoch alleine auftreten, obwohl eine sehr verschiedene Gewichtung in ihrem gemeinsamen Erscheinen möglich ist. Es kann allerdings sein, dass im Ergebnis das eine von beiden verschwindet und sie deshalb nicht mehr in ihrem Walten erkennbar werden. ­Nietzsche sieht die Besonderheit der ‚klassischen‘ griechischen Tragödie gerade darin, dass in ihr das eine Prinzip nicht im anderen verschwindet, sondern dass sie

<–59|

in ihrem ‚Zusammenspiel‘ wahrnehmbar werden, in dem das Apollinische nicht das Dionysische beschreibt oder illustriert (wie ein schlechtes Bild, das sich darin erschöpft, einen ebenso sprachlich beschreibbaren Sachverhalt darzustellen), und in dem das Dionysische nicht im Apollinischen verschwindet (wie dies in Texten geschieht, die sich nur an einen Sachverhalt in der Welt anpassen sollen).

Wenn von der ‚ästhetischen‘ Rechtfertigung die Rede ist, so enthält dies allerdings auch den Bezug auf das Sinnliche. Der Begriff stammt sogar von aistánesthai, d. h. ‚wahrnehmen‘, wovon das Substantiv aisthesis (Wahrnehmung, Empfindung) lautet. Man könnte nach diesem Begriffsursprung also von einer Lehre von dem sprechen, was sinnlich erscheint, bzw. von der Wahrnehmung, weshalb auch der Begriff aistetike herangezogen werden könnte, d. h. eine die Sinne in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit betreffende Wissenschaft. Der Begriff ‚Ästhetik‘ selbst wurde allerdings erst viel später von A. Baumgarten in seinem 1750/58 erschienenen Werk ‚Aesthetica‘ verwendet. Hier ist eine Theorie der Erkenntnis gemeint, in welcher die Bedeutung der Sinnlichkeit stark aufgewertet, ja sogar die Theorie einer eigenen Erkenntnisfähigkeit durch Sinnlichkeit entworfen wurde. Es lag nahe, dass damit der Kunst und allgemein der Erfahrung des Schönen eine besondere Bedeutung für die Erkenntnis zugeschrieben wurde. Auf dieser Grundlage entstand dann bei Kant die Grundlegung einer Ästhetik als einer philosophischen Lehre von der philosophischen Bedeutung der Kunst, die sich über Schiller, Hegel, Heidegger, Gadamer, Adorno bis hin zu Dewey, Rorty, Goodman und Danto fortsetzt.

Das Sinnliche kann in einer Ästhetik aber nicht als dasjenige aufgefasst werden, was verstanden als ‚Sinnesdata‘ in den Prozess der Erkenntnis eingeht und etwa in Form von Anschauungs- oder Protokollsätzen die Verifikationsgrundlage der Wissenschaft bildet, wie dies vom logischen Empirismus beansprucht wurde. Die ratio einer jeden Ästhetik liegt darin, dass der sinnlichen Wahrnehmung eine ganz eigene Bedeutung zugeschrieben wird, die sich nicht im Entstehen theoretischer Erkenntnis erschöpft. Wir haben gesehen, dass ­Nietzsche gerade der Musik eine solche spezielle Bedeutung in der Auffassung der Welt zuschreibt. Es liegt deshalb nahe, dass

„die Musik, neben die Welt hingestellt, allein einen Begriff davon geben kann, was unter der Rechtfertigung der Welt als eines ästhetischen Phänomens zu verstehen ist.“ (GT III-1,148)

Das Interessante an dieser Formulierung ist im Grunde der Einschub zwischen den zwei Kommata nach ‚Musik‘: „neben die Welt hingestellt“. Offensichtlich will ­Nietzsche

<–60|

damit zum Ausdruck bringen, dass die Musik eine solche Erläuterung nur dadurch geben kann, dass wir sie neben die ‚Welt‘ stellen – womit die ‚empirische‘ Welt gemeint ist, die nach ­Nietzsche ‚Erscheinung‘ ist und damit der apollinischen Sphäre der individuierten Gestalten angehört.

‚Neben‘ dieser Welt ist die Musik die Auflösung der individuierten Gestalten und ihr Übergang zu anderen Gestalten – Musik erklingt nur, wenn die Töne entstehen und vergehen; ein Ton allein macht keine Musik. Sie stehen aber nicht individuiert nebeneinander, sondern entwickeln sich durch die Gliederung des Rhythmus zu einer Melodie. Insofern sind die Töne in der Musik ‚Wandelgestalten‘ (GT III-1, 105). Wir könnten also ganz allgemein sagen, dass das Werden und Vergehen in der Musik eine Erläuterung über die ästhetische Rechtfertigung der Welt gibt, wenn wir sie neben die festen und individuierten Gestalten stellen, die wir in der empirischen Welt finden, wenn wir sie als solche auffassen, oder die uns in der Kunst die Plastik zeigt. Die Musik klärt uns also darüber auf, dass die Welt das Ergebnis des apollinischen und des dionysischen Prinzips darstellt, d. h. sie beseitigt die Einseitigkeit und Abstraktheit, die in der sokratisch-platonischen Welt und danach in der ganzen Wissensform der Wissenschaft nur noch das Apollinische und damit das Individuierte und die einzelnen Gestalten erkennen will und dabei vernachlässigt, dass es sich um Prozesse, Bildungen und Gestaltungen bzw. Individuierungen handelt, die entstanden sind und entsprechend wieder vergehen.

Damit bleibt allerdings noch die Frage offen, inwiefern und wieso die Welt dadurch ‚gerechtfertigt‘ ist. Es kann ja zugegeben werden, dass die Betrachtung von Entstehen und Vergehen, von Individuierung und festen Gestalten ein besseres Verständnis der Welt und des Menschen erlauben – aber warum soll deshalb die Welt ‚gerechtfertigt‘ sein? Dieses Problem nimmt als selbstverständlich, dass es sich dabei um einen ­ethischen Begriff handelt, der weitgehend durch ‚moralisch richtig‘ ersetzt werden könnte. Das würde jedoch voraussetzen, dass er in den Zusammenhang einer ausgearbeiteten Ethik gestellt werden könnte, aus dem er seine Rechtfertigungskraft erhalten müsste. Davon ist bei ­Nietzsche aber an dieser Stelle noch überhaupt nicht die Rede – und eine solche Ethik wird ­Nietzsche auch später nicht ausarbeiten, obwohl ‚Moralphilosophie‘ im Sinne einer Philosophie der Moral in seinem Denken eine große Bedeutung einnehmen wird. Wir müssen deshalb versuchen, für die ‚ästhetische Rechtfertigung‘ der Welt eine nicht-ethische Bedeutung zu finden.

Dies kann am einfachsten dadurch gelingen, indem wir berücksichtigen, dass an dieser Stelle des Denkens eine Ethik und eine moralische Auszeichnung von Ereignissen und/oder Begriffen überhaupt noch nicht stattfinden kann. Es geht an dieser Stelle um den Anfang der begrifflichen Einteilung der Welt in individuierte Gestalten.

<–61|

Dazu gehört auch die Einteilung der Sprache durch ‚Artikulation‘ in individuierte Wörter, aus denen dann in der Auflösung der Wörter im Satz ein sinnvolles und d. h. verständliches Sprechen entstehen kann. Offenbar würde ein ethischer Zusammenhang, aus dem der Begriff ‚gerechtfertigt‘ eine ethische Bedeutung erhalten könnte, gerade das Ergebnis dieses Prozesses voraussetzen – er müsste bereits individuierte Gedanken und Begriffe verwenden können. Was ­Nietzsche mit der ästhetischen Rechtfertigung der Welt meint, muss also eine vor-ethische und ‚außermoralische‘ Rechtfertigung sein.

Wir könnten deshalb nun sagen, dass ­Nietzsche mit seinem Satz, nur als ästhe­tisches Phänomen sei die Welt und das Dasein gerechtfertigt, vor allem meint, eine solche Rechtfertigung sei in erster Linie deshalb gegeben, weil sich an dieser Stelle eines Entstehens von Bestimmtheit aus Unbestimmtheit, von individuierten Gestalten, von einzelnen Begriffen in kreativen Prozessen des Schaffens gleichsam von Künstlern, eine Frage nach Rechtfertigung überhaupt noch nicht stellt. Natürlich könnte man hier sogleich einwenden: wenn es prinzipiell keine Möglichkeit des Fehlschlagens von Rechtfertigung gibt, dann lässt sich der Begriff der Rechtfertigung überhaupt nicht sinnvoll gebrauchen. Das ist gewiss richtig. Dieser Einwand setzt aber wiederum jene Situation des Entstehens von Artikulation im Prozess des individuierenden Gestaltbildens voraus, von dem ­Nietzsche hier spricht. Vermutlich kann man von einem solchen Anfang der Bestimmtheit der Welt nur in Begriffen sprechen, die bereits dem Bereich der Bestimmtheit angehören, obwohl mit dem Gemeinten eben auf die Genesis dieses Bereichs zu reflektieren versucht wird.

‚Gerechtfertigt‘ ist die Welt als ästhetisches Phänomen also in dem Sinn, dass sie als ästhetisches Phänomen in der ursprünglichen Bildung im Wechselspiel von Apollinischem und Dionysischem erst entsteht – wenn wir von ‚Welt‘ als artikulierbarer sprechen, die in der Artikulation zur Sprache kommen kann, so dass wir überhaupt über sie sprechen können. Man könnte deshalb auch sagen: ‚gerechtfertigt‘ wird die Welt stets dadurch, dass sie als artikulierte und damit der Sprache zugängliche in einem prinzipiell künstlerischen Prozess entsteht. Über solche letztlich ästhetischen Rechtfertigungsprozesse hinaus gibt es so etwas wie Rechtfertigung überhaupt nicht – d. h. es gibt sie nicht als letztbegründete Ableitungen aus der reinen Vernunft oder dem reinen Denken oder auch aus dem reinen Erkenntnisvermögen. Es gibt eine Rechtfertigung in der Welt (und damit auch der Welt) überhaupt nicht auf vollständig rationaler Grundlage. Das schließt allerdings nicht aus, dass Rechtfertigungen innerhalb von sprachlichen und gedanklichen Zusammenhängen gelingen können, indem sie sich an diese Zusammenhänge anschließen. Dies funktioniert jedoch nur dann, wenn die Adressaten solcher Rechtfertigungen diese Systeme und deren Arbeitsmechanismen selbst als gerechtfertigt ansehen und dies nicht weiter infrage stellen wollen. Solche

<–62|

Rechtfertigungen gelingen also auf der Grundlage von als gerechtfertigt aufgefassten Rechtfertigungssystemen.

Steht deren Legitimation jedoch in Frage, so können nicht die gleichen Mechanismen in Anspruch genommen werden wie innerhalb dieser Systeme. Natürlich kann im Prinzip wieder auf eine noch weitere bzw. höherstufige Begründungsform zurückgegriffen werden. Handlungsregeln in einem Unternehmen können aus dessen Gewinnzielen begründet werden und das Verfolgen von Gewinnzielen dann aus dem Marktprinzip, das selbst wieder als optimale Struktur für die Verfolgung eines maximalen materiellen Wohlstands gerechtfertigt wird. Die Versorgung mit materiellen Gütern selbst aber wird kaum noch durch selbst begründungsfähige Rechtfertigungssysteme als letzte Orientierung des ökonomischen Handelns ausgezeichnet werden können. Spätestens hier beginnt jener Vorgang, den ­Nietzsche als ästhetische Rechtfertigung bezeichnet – also als ein ‚sinnlich‘ gegründetes und in kreativen Prozessen des Entwerfens, Bildens und Gestalten stattfindendes Erschaffen von Rechtfertigungen und Rechtfertigungsverfahren, die gelten, weil sie als solche akzeptiert werden, d. h. als etwas, das seinen eigenen Sinn mit sich bringt, etwa so, wie das Sehen schon von sich aus stets etwas Gesehenes enthält, bevor wir fragen können, ob und wie sich dieses auf etwas in der Welt bezieht.

Was ­Nietzsche mit der ästhetischen Rechtfertigung der Welt meint, wird schließlich besonders in seinem viel später geschriebenen ‚Versuch einer Selbstkritik‘ deutlich. Dort wird im Anschluss an jene Behauptung mit Bezug auf die ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ gesagt: „In der Tat, das ganze Buch kennt nur einen Künstler-Sinn und -Hintersinn hinter allem Geschehen, – einen ‚Gott‘, wenn man will, aber gewiss nur einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischen Künstler-Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit innewerden will, der sich, Welten schaffend, von der Not der Fülle und Ueberfülle, vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze löst.“ (GT III-1, 11) Es dürfte an dieser Stelle schon deutlich geworden sein, dass ­Nietzsche hier nicht von einem personalen Gott spricht. Jener ‚Künstler-Gott‘ ist eine Allegorie auf die künstlerische Tätigkeit des Bildens und Gestaltens auf einer sinnlichen und damit nicht rational ableitbaren Grundlage – eine Allegorie auf eine ursprüngliche ‚Artikulation‘, in der und mit der eine Bestimmtheit der Welt ‚ankommt‘, ohne dass sie auf ein Subjekt oder ‚die Subjektivität‘ zurückgeführt werden könnte.

Mit jener ästhetischen Rechtfertigung der Welt behauptet ­Nietzsche also etwas über die Grundlagen alles Rechtfertigens, das funktioniert wie die „weltbildende Kraft“, die ein Kind ausübt, wenn es „spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft“ – so wie die Bestimmtheit der Welt und unserer Begriffe

<–63|

sich nicht aus der Welt an sich ableitet, sondern als „das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt“ geschieht und sich ereignet, ohne dass dabei eine Absicht oder gar ein personaler Akteur angenommen werden müsste (GT III-1, 149). Ästhetisch gerechtfertigt ist die Welt also, weil sie ohne die ästhetische Bewegung des Wechselspiels von Apollinischem und Dionysischem nicht existieren würde – dies in dem Sinn, dass sie nicht artikuliert und individuiert wäre, so dass in einer artikulierten Sprache über sie gesprochen werden kann. Jede spätere und etwa in einem ethischen Sinne zu formulierende Frage nach einer Rechtfertigung von was auch immer muss diese ursprüngliche Gründung und damit Rechtfertigung in einem ästhetischen – sinnlichen und künstlerischen – Prozess voraussetzen. ­Nietzsche spricht deshalb von der Welt als einem ästhetischen Phänomen als der ursprünglichen Voraussetzung für den Diskurs, in dem wir uns über Rechtfertigungsfragen streiten können.

<–64|

7,99 €