Loe raamatut: «Der Koch der Hübschlerinnen», lehekülg 2

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Dienstagfrüh

In Freds Welt wäre Kuno ein großer Ökonom unter den ihre Anhängerschar werbewirksam blendenden Köche geworden.

Fred kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Nachdem er über die regionalen Unterschiede der Küchen lamentiert hatte und dem guten Kuno versprach, einige Besonderheiten aus dem nördlichen Deutschland in dieser Küche anzuwenden, „natürlich nur, wenn’s recht ist und die anständige Kundschaft nicht vergrault“, bat er den Koch, ihn über die Eigenheiten der Bodenseeküche aufzuklären.

„Hat sich denn vieles geändert, weil nun Gäste aus aller Herren Länder ihre Essgewohnheiten an die Tische tragen?“

„Es ist gewöhnlicher als du glauben magst.“

Kuno war der Meister in der Küche, Fred sein Lehrling. Damit das klar war, duzte er ihn, wie man einen niederen Koch eben ansprach.„Seitdem Köche denken können... und das sind immerhin schon ein paar hundert Jahre,“ Kuno fiel in albernes Gelächter über seine eigene Rede, „wird überall auf der Welt gleich gekocht. Zumindest da, wo der rechte Glaube herrscht. Der Gesundheitsleitfaden von Salerno wird dir wohl nicht fremd sein?“ Kuno hatte sein Lachen unterdrückt, aber der Bauch bebte noch leicht nach.

Geschickt wich Fred der Antwort mit einer Gegenfrage aus. „Ja, aber es sind doch nicht wenige Fürsten und Händler tief aus dem Osten in der Gegend.“

„Gleichwohl!“ Mit einem fahrigen Argument wischte Kuno die Bedenken weg. „Im Grunde kochen alle gleich. Nur wir hier ein wenig genügsamer.“ Kuno lachte wieder und bewegte sich flink, wie es Fred ihm nicht zugetraut hätte, zum großen Küchentisch, wo Gemüse und Messer parat lagen. Er schaufelte eine Hand voll Hafer aus dem Sack und streute ein ordentliches Kreuz auf den Tisch. Fred sollte sich gleich noch mehr über Kunos Fähigkeiten wundern.

Lisbeth kam von der Stube in die Küche und unterbrach mit einem „Haben wir noch ein Fässchen Burgunder?“ die Demonstration.

„Warum?“ fragte Kuno kurz angebunden, ungern wollte er sich stören lassen, war er doch gerade voll in seinem Element, der Beschäftigung mit den vier Kardinalssäften.

„Zum Abend hat sich eine Gesellschaft Fleischhauer aus der Stadt angekündigt, sie haben von deinem Hippokras gehört, der besser als anderswo munden soll. So sagten sie.“ Lisbeth stand scheu in der Tür, hatte ihr blondes Haar ordentlich geflochten und sah überhaupt sauberer aus als es Fred gestern Nacht schien.

„Gallonen genug. Aber lauf zum Krämer hinterm Augustinertor und hol uns drei Knollen Galgant. Sonst büßen wir unseren Ruf.“

Als Lisbeth draußen war, kratzte sich Kuno im Schritt und wandte sich wieder an Fred. „Darauf werden wir den Wein ansetzen, damit er gut durchziehen kann, aber nun weiter.“

In der nächsten Stunde, die schnell verging, sollten sich für Fred die Weichen stellen ob er in dieser Zeit zurecht kam oder nicht. Würde er sich die Kochkünste einverleiben können, wäre die Sorge unnötig, als quacksalberischer Hochstapler angeklagt zu werden. Die erste Nacht war zu unruhig und zu nah an der vergangenen Zukunft, als dass er seelenruhig dem Tag entgegen sehen mochte.

Aufmerksam beobachtete er die Handgriffe, gespannt prägte er sich Kunos Sätze ein. Der füllte nach und nach das Diagramm. In das Feld rechts oben legte er nah an den Kreuzungspunkt ein Stück Rindfleisch, daneben Zimt und Cumin. Ganz oben rechts außen eine Pfefferschote.

„Das Feld der gelben Galle“ flüsterte er fast beschwörend.

In die linke obere Hälfte häufte er eine Handvoll Hülsenfrüchte, darüber mit etwas Abstand Knollen- und Wurzelgemüse. Im linken Feld unterhalb der waagerechten Linie platzierte er stellvertretend für weicheres Blattgemüse ein Stück Kohl, mit Abstand einen Fisch, einen Kürbis. Weiter weg vom Zentrum des Kreuzes eine Melone, ganz außen Pilze.

„Ich sehe, mein Küchenmeister verfilzt sich über mein Tun.“ Kuno amüsierte sich und war gleichzeitig stolz auf seine gefüllte Speisekammer.

„Ich bin in der Tat beeindruckt, wie anstellig ihr mir das Exempel der Säftelehre darbietet.“ Fred wollte Kuno nicht ständig in der dritten Person ansprechen, hielt es aber doch für angebracht, weil er hoffte, seine unsichere Wortwahl damit etwas überspielen zu können und Kunos Gemüt angemessen zu bauchpinseln. Fred war überrascht, wie kenntnisreich dieser Koloss war und wie üppig die Zutaten in dieser anspruchslosen Herberge vorrätig waren.

Fred tat sich selbst im Mittelalter schwer, seinen überheblichen Blick abzulegen und mit einer freundlichen Grundhaltung den Menschen entgegenzutreten. Nicht gerade ideale Voraussetzungen für einen glücklichen Ausgang dieser Reise.

Kuno fuhr fort, legte in die rechte untere Ecke eine gerupfte Dohle, daneben Mandeln und Zucker. Unter die Waagerechte stellte er rechts neben den Vogel ein Schälchen Milch, weit außen eine Ingwerknolle, beides aber direkt unter der Linie, die eines der vier Elemente begrenzte, (in diesem Fall mit der unteren senkrechten Linie die Luft) – heiß und feucht.

Nun wurde es doch kompliziert für Fred. Leider hatte er bei seinen Recherchen nichts gefunden, um sich besser vorbereiten zu können. Am unteren rechten Eck platzierte Kuno eine Zwiebel. Das Bild war fertig.

„Jedes Feld des Gevierts stellt einen der Körpersäfte dar, hier unten rechts ist das Blut zu finden, das – feucht und heiß – auch für das Element Luft steht.“

So wie Kuno erklärte, erfuhr Fred nicht nur etwas über die Speisefolgen dieser Zeit, er lernte ganz nebenbei etwas über die Natur des Menschen. Und Kuno hatte einiges zu erzählen.

Je weiter sich die Nahrungsmittel nahe der Kreuzung befanden, umso bekömmlicher waren sie für den Menschen. Der in sich ja auch eher warm und feucht war. Die Horizontlinie war links kalt und rechts außen heiß, dazwischen müsse man sich alle Temperaturen vorstellen. Gekreuzt wurde sie von der senkrechten Linie, die oben sehr trocken und am unteren Ende feucht und nass war.

Die zweite Flüssigkeit des Menschen, der Schleim, bewege sich im Feld links unten zwischen der feuchten und der kalten Linie und war dem Element Wasser gleichzusetzen. Diese Speisen waren mit Vorsicht zu genießen.

„Ebenso wie die Pilze hier, weil sie sich außerhalb des Mittelpunktes befinden“, wollte Fred punkten.

„Gewiss,“ merkte Kuno an, „es gibt Ärzte, die warnen vor dem Verzehr von Pilzen, zu kalt und nass seien sie für den Menschen. Beim Knollengemüse oben ist es gänzlich anders. Im Feld der schwarzen Galle – inmitten der trocknen und der kalten Eingrenzung – liegen die Früchte der Erde, die, so sagt man, nur für Bauern zum Verzehr dienlich seien, weil sie als erdig und kalt gelten. Rüben sind unbedingt zu schmoren, verstehst du, damit dringen Wärme und Feuchtigkeit ein.“

Fred fürchtete, niemals im Leben behalten, geschweige denn anwenden zu können, wovon Kuno mit leichter Hand erzählte. Er war unausgeschlafen, von der rauen Decke durchlaust und vom Gestank der Kammer über dem Stall durchdrungen, hing dafür aber erstaunlich aufmerksam an Kunos Lippen. War es Angst, sich zu blamieren? War nicht auszuschließen. Kuno könnte wegen Freds zu verstörten Blicken nachfragen, ob denn in Würzburg die Obrigkeiten nicht nach den Regeln der Säftelehre bekocht würden. Irgendetwas musste er bald von Franken erzählen.

„Nicht nur Pilze sind nicht jedermanns Sache, weiches Obst wie diese Melone oder Trauben gar, werden, solange man sie als solche erkennt, geringgeschätzt. Dörr oder koch sie wie die Quitten zu Gelee mit gehörig Zucker ein.“

„Und weshalb?“, wagte Fred nun doch eine direkte Frage.

„Ach Ungläubiger!“ Kuno schlug auf den Tisch, die Melone rollte davon und die feine Haferkreuzung bekam fasrige Ausleger. „So feucht, wie diese Früchte sind, neigen sie schon bei der Ernte zum Verwesen. So gehörig wie möglich ist ihnen die Feuchte auszutreiben.“

„Das Rindfleisch ist ja wohl ein Leichtes.“ Es kam einer Frage gleich, aber Fred versuchte, dem nah am Zentrum der trocken-heißen Ecke platzierten Fleischbrocken Harmlosigkeit zu attestieren.

„Fast. Die gelbe Galle, die hier bedeutet wird, das Element Feuer also, ist zu heiß und zu trocken für unzählige Menschen. Dem feuchten Geschlecht kann man damit ersprießlich Nässe entziehen. Du weißt, was ich bedeute, gell!“ Und wieder lachte Kuno derb durch die Küche, Fred konnte nicht anders, als mitzulachen. Zum ersten mal erlebte er ein entspanntes Gefühl, Wärme und Sicherheit, die nicht nur seinen Körper mitnahm und ihn vollständig entkrampfte. Er lachte und strahlte Kuno an, als genieße er es, in dieser Zeit nicht wegen frauenfeindlicher Witze angeprangert werden zu können.

Kuno präsentierte bei seinen Lachanfällen eine sehenswerte Zahnlücke, oben und unten fehlten die linken Eckzähne. Lückenhafte Erinnerung an die unvergessliche Rechte eines Zechprellers.

Kuno hatte Fred in sein Herz geschlossen und ihm etwas beizubringen, genoss er ganz und gar. Fred hatte Kuno unterschätzt und Zauberlehrling zu sein, erfüllte ihn voll und ganz.

Ehrgeizig versuchte Fred das Nahrungsdiagramm in sich abzuheften. Verknüpfte das Angelesene mit dem Gelernten, blätterte die aktuellen Kapitel vor seinem geistigen Auge durch und kochte. Tag für Tag. Oft genug stand Kuno neben ihm am Herd, befragte ihn nach den Gewohnheiten in Würzburg.

Wollte wissen, ob die Küchen wirklich ganz anders ausgerüstet waren und „Was wünschen die Herrschaften im Norden denn zu Tisch?“

Fred hatte sich einiges zurechtgedacht und baute immer wieder darauf auf. Trotzdem nervte Kuno. Für einen Wirt einer einfachen Schänke stellte er Fragen wie der Tester eines Gourmet-Führers.

„Unser Abt war ein Völler vor dem Herrn. Wir Köche mussten es mit der Säftelehre nicht so genau nehmen. Derenthalben ist sie dem einen oder anderen nicht so geläufig. Die Kirchenoberen im Norden speisen sehr nach ihrer Laune. Die täglich wechseln konnte. Leider geschah es aus diesem Grunde öfters, dass Unbill in die Küche drang und ein Koch zwei Tag in den Keller gesperrt wurde. Dem Abt und seinen Gästen mundeten die Platten nicht und so wurde nach Gutdünken bestraft. Wochen darauf wurde eine annähernde Speisenfolge gereicht – und kein Koch verschwand im Keller. Wir waren sieben, deswegen widerfuhr es mir nicht oft, bei trübem Wasser und faulem Brot im Keller zu sitzen. Doch mir war´s genug.“

Fred nickte lange und schenkte Kuno einen Blick, aus dem alles Elend seiner Kelleraufenthalte sprach.

Kuno saß aufmerksam auf seinem Lieblingsschemel und hörte sich Freds Geschichte zum dritten Mal in den letzten fünf Tagen an. Und jedes mal entlockte es ihm an ähnlichen Stellen ein „Bei Gott!“ und ein „Schinderei!“.

Fred gefiel Kunos Aufmerksamkeit, seine Biographie klang glaubwürdig und anrührend. „Den Rest habt Ihr fast miterlebt. Ich reiste zu Pferd mit all meinem Arbeitsgerät gen Süden, um Konstanz zu besuchen und mein Glück zu suchen. Und mir geschah, was geschah.“

Montagfrüh

Sieben Tage später hatte Fred plötzlich sein spärliches Bündel zu packen. Kuno hatte ihn großzügig eingekleidet. Auf dem Weg zu seinem neuen Arbeitgeber trug Fred graue Hosen und ein graues Hemd, darüber ein ehemals rotes, ausgebleichtes Wams, eine Kordel um die Taille. Hose und Hemd zum Wechseln wickelte er in sein Bündel und folgte Kuno in die Stadt.

Zwischen dem Kreuzlingertor und dem Augustinertor passierten sie eilig die Vorstadt Stadelhofen, die sich um die Kirche Sankt Jodok entwickelt hatte. Kuno schenkte den niedrigen Häusern weiter keine Aufmerksamkeit.

Sieben Tage konnte sich Fred nicht weiter als zwanzig Schritte von Kunos Haus entfernen. Eifrig hatte er sich auf die Aufgabe gestürzt, seine Kochkünste auf Kunos Schilderungen der ‚Säftelehre’ umzustellen. Das war nicht einfach, aber er versuchte von Anfang an, sich Kunos Diagramm einzuprägen und Stück für Stück abzuarbeiten. Doch rührte er eine einfache Schwitze an, klumpte der Brei. Hastig zerrieb er die groben Brocken in kleine Brösel, die gut zu den Schweißperlen auf seiner Stirn passten.

Einen abgezogenen Dachs, den ein Konstanzer brachte, um ein Fässchen Hippokras einzutauschen, zerlegte er fachmännisch wie einen Hasen. Das Fell hatte der Jäger schon an anderer Stelle eingetauscht. Wildsorten und Gemüse, die in seinem Raster nicht gelistet waren, fragte er vorsichtig ab, so bewegte er sich nach und nach souveräner und zeigte sich nicht ganz fremd in dieser Welt. Das war seine größte Sorge. Fast vergaß er darüber, wie unbekannt ihm dies alles war und was ihm in Innersten ständig umtrieb: welche Zeit hier eigentlich war.

Die Stadt, ja, welche Stadt, dieses Konstanz war ihm weit und fremd. Kein Haus, keine Gasse, hatte er bisher gesehen, und nur Menschen, die beim ‚Rossknecht’ einkehrten. Kuno, oder zumindest jemand aus Kunos Familie musste früher Pferdeknecht oder etwas Ähnliches gewesen sein. Das Haus nannten alle nur ‚beim Rossknecht’, obwohl Fred keinerlei Bauten oder Unterstände finden konnte, die nötig gewesen wären, eine Poststelle mit Pferdewechsel für Reisende zu betreiben oder einem Hufschmied die nötige Werkstatt und Pferdestall zu bieten. Vielleicht war ja ein Gebäude abgebrannt oder es wurde aufgrund der augenscheinlichen Notwendigkeiten zur Gaststätte umgebaut.

Unterm spitzen Dach des breit gebauten Wirtshauses drängten sich drei Kammern. Eine bewohnte Lisbeth. Die anderen waren für Gäste, die zu reichlich dem warmen Hippokras zugesprochen hatten, von dem überall geschwärmt wurde. Kam noch ein Gast dazu, musste Lisbeth ihr Lager räumen – was mancher Gast gerne unterbunden hätte - und in den Stall ausweichen. Der duckte sich direkt neben der Latrine so winzig hinterm Haus, dass gerade einmal zwei Pferde Platz fanden. Hier schütteten sie ein einfaches Strohlager für anspruchslose Reisende, auch hier lag Lisbeth unterm Spitzdach. Das war allerdings die einzige Ähnlichkeit mit ihrer Kammer.

Die ersten zwei Nächte hatte Kuno Fred in diesem Strohlager schlafen lassen. Nach der ersten gedankenverschwendeten Nacht schlief Fred erstaunlich tief, obwohl es ihn ständig piekste. Die Tage waren lang, die Mischung aus Angst und Konzentration anstrengend. Den dumpfen Geruch hakte er unter den Erfahrungen ab, die er wohl im Mittelalter zu machen hatte. Dem schlechten Gewissen Kunos und seinen gelehrigen Kochkünsten war es wohl zu danken, dass Fred ab der dritten Nacht in einer der leeren Kammern nächtigen durfte.

„Aber nur, solang kein Reisender ein gutes Lager begehrt“, brummte Kuno, damit Fred ja nicht auf den Gedanken käme, sich hier einzunisten.

Kuno trieb Fred zur Eile an, als hätte die Pest das Sagen.

Die Stadt quoll über. Noch war der König nicht in Konstanz, keine Spanier, keine Kürfürsten. Die berühmteste aller Universitäten, die von Paris, hatte noch nicht ihre Beobachter zum Konzil gesandt, da tummelten sich schon unzählige Goldschmiede, Schneider, Schuhmacher, Quacksalber und Kürschner zwischen den Mauern. Um die Ordnung zu gewährleisten und um Streitigkeiten mit den ansässigen Handwerkern zu vermeiden, erließen die Gesandten des Papstes, der Kardinäle und des Königs eine Verordnung.

Um der vielen Bürger Herr zu werden, orderte der Marschall die Bevölkerung zum Seeufer zwischen Rathaus und östlich der Pfalz, jenseits des oberen Münsterhofes. Zugezogene und Ansässige drängten aus den umliegenden Gassen auf den Platz, weit über tausend Menschen, unterschiedlicher Kleidung, verschiedener Sprachen, doch nun Bürger einer Stadt. Des Königs Marschall ließ die Proklamation in Deutsch, Lateinisch und Französisch verkünden, damit möglichst auch alle Fremden die Regeln verstehen konnten.

„Bürger von Konstanz! Es wurde bestimmt: Alle Bürger, die Handwerk treiben, sollen tätig sein und jeder das Handwerk verrichten, das er verstünde, damit er etwas verdienen könne. Kein Handwerk aber wäre zu verbieten, bis das Konzil nicht vorüber sei! Fremde Handwerker, die in Konstanz verweilten, solange das Konzil dauere, sollen ihr Handwerk treiben, wie die Bürger der Stadt, und sie sollen Freiheit und Geleit ohne Zölle und Maut haben wie alle anderen. Sie sollen das Bürgerrecht erhalten wie der Stadt eigene Bürger.“

Das war nicht jedermann recht. Alteingesessene Handwerker sahen ihre Monopolstellung bedroht, durch Preiskämpfe ihre Existenzen gefährdet. Kaum einer konnte sich vorstellen, wie der Rat der Stadt das regulieren wollte. Um Fred herum murrte und fluchte ein jeder, aber verhalten genug, damit es nicht von des Marschalls Männern gehört wurde.

Zugezogene Wirtsleute bekamen zumeist ihr Domizil in Stadelhofen zugewiesen, während vor St. Stephan auf dem Barfüßerkirchhof im Westen der Stadt die Krämer und Schreiber ihre Buden richteten, sich sogar bis zum Kreuzgang des Franziskanerklosters an der westlichen Stadtmauer ausbreiteten. Nur gebremst von drei engen Reihen schlichter Wohnhäuser, die sich südlich des Klosters bis zum Geltingertor drängten.

Fred passierte mit Kuno das Augustinertor, ohne von den Wachen aufgehalten zu werden. Jenseits schlugen die Glocken spürbar anders. Fast direkt mit dem Segen der hinter dem Tor ansässigen Mönche zog es Fred mit Kuno in die Stadt, geradeaus die Mordergasse lang, die schmal und Haus an Haus wie sie bebaut war, Fred von einer Sekunde auf die andere den Atem raubte.

Kein Sonnenstrahl streifte die rauen Fassaden, obwohl die Gasse akkurat in nord-südlicher Richtung verlief. So gut es ging schritt er hinter Kuno her, der ständig links und rechts deutete und hier einen Apotheker erwähnte und dort einen Schuhmacher verfluchte. Still tat es Fred ihm gleich. Diese Pantinen, die Kuno ihm überlassen hatte, rieben und drückten gleichzeitig an seinen maßschuhverwöhnten Füßen. Die Sohle zu störrisch, um abrollen zu können, waren seine Schritte eher den Tritten eines staksenden Straußes ähnlich. Warum er gerade an einen Strauß dachte? Vielleicht eines der wenigen Tiere, das sich nicht auf hiesigen Speiseplänen fand.

Fred war ständig damit beschäftigt, die Zehen in den Schuh zu krallen, damit der beim nächsten Schritt nicht davonflog. Barfuss laufen kam aber nicht in Frage, schlimm genug, dass er alle paar Meter auf etwas trat, das Sekunden später eine Ratte davontrug. Ungeziefer aller Größen versuchte furchtlos, die Hoheit zu gewinnen, tauchte blitzartig aus einer Hausnische auf, schnappte den Fund, bevor er faulen konnte und verschwand an anderer Stelle wieder. Fred überlegte, ob es schlimmer wäre, auf ein Hühnerbein zu treten oder auf eine Ratte. Oder die knackenden Panzer einer Handvoll Käfer zu hören. Doch mehr noch beschäftigte ihn die Frage:

Wo gehe ich hin?

Am Metzig verbreiterte sich die Gasse, verschaffte der Unzahl eiliger Bürger etwas Platz und frische Luft und traf von rechts auf die Marktstätte. Dieser Hauptweg führte übers Kornhaus bis zum Aberhakenturm am östlichen Seeufer. Jeder zweite Bürger schien im Besitz eines Hundes sein. Flink wichen die Tiere den holpernden Karren aus, deren eisengefasste Räder auf dem Steinpflaster fürchterlich lärmten. Kuno bog nach links. Ein selbstbewusst vorspringendes, ungewöhnlich hohes Gebäude schmälerte wirkungsvoll die Hauptgasse und verwies den linken Weg in seine untergeordnete Bedeutung. Wohnhaus an Wohnhaus reihte sich mit geringen baulichen Unterschieden rechts und links akkurat wie auf eine Perlenschnur gezogen, die sich in einem leichten Rechtsbogen im Obermarkt verlor.

‚Unter den Säulen’ hieß die Gasse, in der sie auf Brettern liefen, die mal guten Tritt versprachen, mal seitlich hoch wippten, als galt es, das darunter Verborgene ans Tageslicht zu befördern.

Völlig unnötig.

Denn Freds Begleiter war, außer dem geschätzten Kuno, ein wechselnder, aber immer unangenehmer Gestank. Das Problem der Fäkalienentsorgung hatte man in Konstanz ganz modern und vorbildlich gelöst. Der gemeine Bürger durfte nicht mehr einfach nur hinterm Haus seine Notdurft verrichten, obwohl sich in den Hinterhöfen zumindest die Toiletten, das ‚sprachhus’ zu befinden hatte.

Dazu verfügte der Rat, dass spätestens alle acht Tage der Unrat weggebracht werden musste. Nur: wohin? Und in einer Stadt dieser Größe gab es kaum mehr ein ‚hinterm Haus’. Unter Androhung massiver Strafen brachte der Rat der Stadt die Konstanzer (zumindest den weitaus größten Teil) dazu, ihre Scheiße in eigens dafür angelegte Rinnen zu leiten, damit diese im Bodensee verdünnt werden konnte.

Ein findiger Prior – so die Geschichte - der beim betenden Wandern durch seinen Klostergarten der Wirklichkeit so weit entrückt war, um unmöglich den unzähligen Scheißhaufen seiner Mönche ausweichen zu können, soll diese Neuerung erdacht haben. Ihm entfloh ein Stoßgebet zum Herrn, manch einer behauptete, Flüche gehört zu haben. Jedenfalls, er wurde erhört und erfand die erste Kanalisation, ‚Ehgräben’ genannte schmale Stichgassen, die die regulären Wege kreuzten und den Dreck der Bürger bei glücklichem Gefälle mit sich zogen.

Leider kam diese Erfindung städteplanerisch so spät zum Einsatz kam, dass sich der Rat der Stadt in vielen Vierteln nur auf die bekannte Art und oberflächliche Weise zu helfen wusste. Für lange Zeit mussten sich Bürger und Unrat die Wege teilen.

Am Obermarkt wurde es etwas besser. Inmitten des Platzes war der größtmögliche Abstand von den gelegentlich versickernden Bächen.

„Da oben, die Ringgasse längs, geht´s hinaus zum Geltingertor. Dahinter breiten sich Brüel und das Paradies. Imposante Zeltstädte sind hier entstanden. Viele Fürsten haben hier ihr Gefolge Quartier aufschlagen lassen.“

Fred hörte den Stolz in Kunos Stimme, er schilderte lebendig, Fred sah förmlich die überdimensionale Patchworkdecke, über die Ländereien außerhalb der Stadtmauern ausgebreitet. Der gute Kuno hatte eine Haltung zu seiner Stadt. Fred war so ein Gefühl fremd, diese loyale Zugehörigkeit, die den Blick auf die Dinge prägte. Sein Blick war durch Pragmatismus geprägt, selbst zu bestimmen, wenig Verantwortung für Andere zu übernehmen, seine Geschäfte zu machen.

Diese Gegenwart ist altmodisch.

Er ging neben einem Konstanzer Bürger und dieser ließ es ihn deutlich spüren. Fred bedauerte plötzlich, Kuno all die Tage nicht als Mensch wahrgenommen zu haben, wo er ihm doch ein hilfsbereiter Lehrmeister war.

Wo wäre ich ohne Kuno gelandet?

Fred wusste nicht, ob er sich je revanchieren könnte. „Das Paradies also, soso.“ Mehr fiel ihm in seiner angespannten Laune nicht ein, ein kümmerliches Stückchen Konversation.

Kuno nahm es gelassen. „Das leibhaftige Paradies indes liegt hier auf dem rechten Pfad, in der guten Blattengasse. Kommt.“

Kuno eilte sich, Fred abzuliefern. Es konnte nur von Vorteil sein, mit der Herrschaft dieses Hauses in gutem Verhältnis zu stehen. Für die Vermittlung eines Koches – die Stelle wurde plötzlich von heute auf morgen vakant – hatte er sich einige Münzen verdient. Vielleicht war bei passender Gelegenheit auch ein Bonus in Naturalien zu erwarten. Das wäre allerdings davon abhängig, wie geschickt sich Fred in der Küche dieses neuen Haushaltes anstellen würde. Kuno war zuversichtlich, sein Schüler stellte sich ganz gelehrig an. Deswegen plagte ihn auch kein schlechtes Gewissen, als sie endlich vor der Tür standen.

Ein eigentümliches Haus, das sie da betraten.

„Herrin. Dieser Mann wird Euch vortrefflich zu Diensten sein. Zumindest was die Qualitäten angeht, die er in meiner Küche dartun konnte. Zwar bringt er so manche Eigenheit der nördlichen Küche mit, das soll aber Euer Schade nicht sein. In Eurem verschwenderisch ausgestatteten Haushalt werden seine Möglichkeiten sicher noch mehr zur Geltung finden. Eine ehrliche Haut, wie ich schon angezeigt habe und ein gerader Charakter, soweit ich das beschauen konnte.“

Die ältere Dame, die sich von allen, die mit ihr zu tun haben wollten - und es wollten viele mit ihr zu tun haben - Herrin nennen ließ, winkte Fred näher. Sie saß mitten im Zimmer, nein, sie thronte. Ein merkwürdiger Raum. Es gab fast keine Wände, so viele Türen gingen von ihm ab, irgendwohin. Trotzdem war es kein Flur oder ein einfaches Durchgangszimmer. Der Sessel, die Dame, das schmale Mauerwerk zwischen den Holztüren: alles strahlte auch auf den nur gelegentlichen Besucher sofort eine gewisse Kraft aus. Der Mittelpunkt des Lebens, das sich innerhalb dieser Mauern abspielte, war offensichtlich dieser Raum, ein gewagt konstruierter architektonischer Mittelpunkt für solch ein Haus, das schon von außen äußerst groß schien.

Fred stand mitten in diesem Raum und musste es sich gefallen lassen, ausgiebig gemustert zu werden.

„Wie nennt man dich?“ Fast hätte Fred den gleichen Fehler gemacht, wie beim dicken Kuno. Da war ihm ‚Fred’ versehentlich rausgerutscht. Sein voreiliges ‚Fred’ konnte er vor einer Woche gerade noch retten, indem er einen Hustenanfall vortäuschte und ein für sich selbst völlig unpassendes ‚Frederikus’ hervorzauberte. Kuno war zufrieden. Die alte Dame wird den Namen sicher auch annehmen.

„Frederikus, verehrte Dame“, verneigte sich Fred leicht vor ihr. Schwungvoll drehte die Alte plötzlich ihren Sessel in eine andere Richtung und ließ sich von Kuno durch eine der Türen schieben.

Sie kamen in die Küche. Fred war noch zu beeindruckt von der Überraschung. Hinter der gerafften Stoffblende, die den Sitz umspielte, verbargen sich Räder. Quietschende, die taxierende Stimmung störende Räder. Ein mittelalterlicher Rollstuhl mit einer schrulligen Alten. Welch ein Anfang.

„Zum einen bin ich für dich wie für alle anderen nichts anderes als die Herrin. Das ist nicht nur mein Name, das ist auch das, was ich bin.“ Augenblicklich holte ihn die Herrin wieder aus seinen Gedanken. „Und des Weiteren. Was ist das für ein törichter Name? Keinen rechtschaffenen Mann heißt man in dieser Gegend Frederikus. Ist es nicht so, Kuno?“

Kuno hatte kaum Zeit zu nicken. Allein wie sie den Namen aussprach. Aussätzige würden man damit stigmatisieren. Und wie Recht sie hatte. War denn Fred ein anständiger Mensch aus dieser Gegend? Fred folgte der Herrin, die langsam durch die Küche glitt, einer weit größeren als die vom Rossknecht. Die Frau am Spülstein hörte auf, mit dem Blechgeschirr zu klappern, als stünde es ihr nicht zu, in dieser Situation auch nur das kleinste Geräusch zu verursachen. Ihre besten Jahre waren offensichtlich vorbei. Sie wirkte jünger als die Herrin, aber ausgebrannt und nachlässig im Umgang mit ihrem Äußeren. Wahrscheinlich war sie früher hübsch anzusehen, schlank war sie immer noch.

Fred war nicht wohl zumute. War er all dem gewachsen? Sollte er nicht besser wieder abtauchen?

„Solange du bei uns bist, heißt du…“. Nachdenklich drehte die Herrin eine halbe Runde durch die Küche, nur die quietschenden Räder waren zu hören, sonst nichts. Sie schaute in einen Korb, hob von einem dampfenden Topf den Deckel, „Wir werden dich Alfred heißen, das gleitet allen hier wohlfeil über die Lippen.“ Sie konnte sich ein vieldeutig verschmitztes Grinsen zu Irmtraut, neben der sie eben stand, nicht verkneifen.

Fred stand wie eine Salzsäule mitten im Raum.

„Der Name delektiert doch, oder?“

Vor seinen Augen schlug der Händler Huhn um Huhn den Kopf ab. Packte jedes bei den Flügeln, presste es auf den rissigen Holzklotz und trennte mit einem kurzen Hieb den Kopf vom Rumpf. Das Huhn zuckte eine Weile, versuchte zu flattern, aber mit dem in die Schüssel tropfenden Blut wich jedes Leben. Vier Hühnerleiber hingen an Haken an der Wand, halsunter, so blieb wirklich kein Tropfen Blut in den Tieren zurück.

Wie viele Hühner waren an diesen Haken wohl schon ausgeblutet?, fragte sich Fred mit leichtem Ekel. Obwohl selbst Koch, kam ihm die ganze Prozedur in dieser Umgebung brutal und martialisch vor. Zwei Körbe Rüben, Sellerie und Bohnen schob der Händler auf den massiven Tisch in der Küche. Fred wollte sich ablenken, schlich durch die Küche, fand sich schnell zurecht. Waren wirklich erst zwei Stunden vergangen, seit er sich von dem Flächenbrand erholen musste, den die Herrin in ihm entfacht hatte?

Muss ich sechshundert Jahre reisen, um schon wieder Alfred gerufen zu werden?

Er war gereizt. Machte keinen sehr klugen Eindruck, wie er kopfschüttelnd an den Tischen vorbei strich, um die Lebensmittel zu betrachten.In der Ecke hinter einem Vorhang stand ein Sack mit Dinkel, etwa halbvoll, ordentlich verknotet, damit sich ja kein Nager daran vergehen konnte. Daneben ein Tontopf mit Schmalz, darauf ein Tuch, ein Brett, ein Stein. In einem amphoreartigen Gefäß bewahrten sie das Mehl, zu seinem Erstaunen feiner gemahlen, als er es den Leuten hier zutraute. Salz und verschiedene Kräuter reihten sich in kleinen Schalen, ein Korb mit etwa dreißig Eiern neben einer gelb bemalten Schüssel voller roter und weißer Erbsen. Und nahezu überall Kochtöpfe, Rührlöffel und Gerätschaften, die ihm vertraut schienen, als ob über Jahrhunderte hinweg in den Küchen immer gleich hantiert wurde.

Dabei hatte er nur kurze Zeit daran verschwendet, sich zuhause auf seinem Seebalkon mit den kulinarischen Gepflogenheiten des frühen fünfzehnten Jahrhunderts anzufreunden.

Man kann es auch übertreiben mit den Vorbereitungen.

War ihm letztlich dann doch zu theoretisch.

Aber ich bin hier. Offensichtlich genau hier.

So rätselhaft die Zusammenhänge der Zeitreise auch waren, die ihn abstrakt betrachtet in die Verwirrung und praktisch erlebt ins Mittelalter getrieben hatten, so rätselhaft erlebte Fred nun das Haus, in dem er Arbeit fand. Und intensiveren Kontakt zur Zeit. Die es galt, schleunigst zu präzisieren. Zwischen 1414 und 1418, genauer musste er das unbedingt herausbekommen. Fred war erstaunt, die Menschen vertrauten ihm, einfach so, mühelos. Bisher. Hoffentlich auch in diesem Haus. Trotzdem hatte er das Gefühl, verkauft worden zu sein, von einem, der in anzog und lehrte, an eine die...

Tasuta katkend on lõppenud.