Loe raamatut: «Geschichte meines Lebens», lehekülg 19

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Achtzehnter Brief.

An Madame Dupin zu Nohant.

Paris, den 3. Floréal, Jahr IX. (April 1801.)

„Montag reise ich ab — ich werde Dich also endlich wiedersehen, meine geliebte Mutter, werde Dich endlich in meine Arme drücken! Ich bin außer mir vor Freude. Alle diese Briefe, diese Antworten gehen unerträglich langsam und ich bereue sehr, daß ich darauf gewartet und den schönsten Augenblick meines Lebens hinausgeschoben habe. Paris langweilt mich schon — überhaupt fühle ich mich seit einiger Zeit sonderbarer Weise nirgends wohl, aber bei Dir in Nohant werde ich die Ruhe finden, deren ich bedarf. Meine Kameraden, Morlin, Morin und Deconchy, sind schon unterwegs, wir lassen den General allein. Man weiß noch nichts Bestimmtes über die nächsten Expeditionen, aber ich hoffe, daß man die Lorbeeren des Mincio nicht vergessen wird, wenn etwas entschieden ist. Auf diesen blutigen Lorbeeren haben wir unsere Waffen niedergelegt — wird es nöthig sein, daß alle die tapfern Offiziere, alle die edelmüthigen Soldaten, die dort geopfert sind, um den Frieden zu erobern, aus ihren Gräbern aufsteigen, um Rache und Schande über feige Verleumder auszurufen? Du hast keinen Begriff davon, was in der Umgebung des Obergenerals [Der General Brune.] gesagt wird, um die fürchterliche Gleichgültigkeit zu bemänteln, mit welcher er diese Tapfern niederhauen ließ. Irgend Jemand in seiner Umgebung hat unter anderm mit seiner Erlaubniß oder auf seinen Befehl zu sagen gewagt, ich hätte mich gefangen nehmen lassen, um den Feinden den Schlachtplan und die Marschroute unserer Heere zu verrathen. Glücklicherweise waren der General Dupont und meine Kameraden dabei und sie haben diese Gemeinheiten auf das Entschiedenste zurückgewiesen.

„Lebewohl, meine gute Mutter; ich packe nun meine Sachen und komme zu Dir ... für mein ungeduldiges Verlangen noch immer zu spät! Ich umarme Dich auf das Herzlichste. Wie werde ich mich freuen Vater Deschartres und meine Bonne wiederzusehen.“

Fünfzehntes Kapitel.
Romanhafte Begebenheiten. — Unglückliche Expedition Deschartres. — Das Wirthshaus zum „schwarzen Kopfe“. — Familien-Kummer. — Ausflüge nach Blanc, Argenton, Courcelles und Paris. — Der Onkel Beaumont. — Fortsetzung des Romans. — Kurze Uebersicht des Jahres IX.

Während ich einige romanhafte Begebenheiten aus dem Leben meiner Eltern skizzire, wird man mir erlauben, sie bei ihrem Vornamen zu nennen; ich erzähle in der That ein Roman-Kapitel, das aber in jeder Hinsicht auf Wahrheit basirt ist.

In den nassen Maitagen 1801 kam Moritz nach Nohant. Als die ersten Ausbrüche der Freude vorüber waren, betrachtete ihn seine Mutter mit Erstaunen, denn der italienische Feldzug hatte größere Veränderungen in ihm hervorgebracht, als der Krieg in der Schweiz: er war größer, magerer, stärker und bleicher; seitdem er Soldat geworden war, war er um einen Zoll gewachsen, was im Alter von 21 Jahren ziemlich selten ist und wohl durch die bedeutenden Märsche veranlaßt sein mochte, zu welchen ihn die Oestreicher gezwungen hatten.

Trotz der heftigen Aufwallungen der Freude und Lust, welche die ersten Tage des Zusammenseins mit der Mutter erfüllten, bemerkte man bald, daß Moritz zuweilen träumerisch war und von geheimer Schwermuth verfolgt schien. Und als er eines Tages, unter dem Vorwande Besuche zu machen, nach la Châtre gegangen war, blieb er länger aus, als nöthig war, kehrte den zweiten und dritten Tag abermals dahin zurück und gestand endlich seiner unruhigen, bekümmerten Mutter, daß Victorie gekommen wäre, ihn aufzusuchen. Sie hatte Alles aufgegeben, Alles einer freien, uneigennützigen Liebe geopfert und sie gab ihm den unwiderleglichen Beweis dieser Liebe. Er war trunken vor Dank und Zärtlichkeit, aber er fand seine Mutter dieser Vereinigung so abgeneigt, daß er alle seine Gedanken in sich zurückdrängen und die Gewalt seiner Neigung verhehlen mußte. Als er seine Mutter ernstlich besorgt sah, wegen des Aufsehens, das ein solches Abenteuer in der kleinen Stadt verursachen mußte und wirklich schon verursachte, versprach er, Victorie zur Rückkehr nach Paris zu überreden. Aber er konnte sie nicht dazu bestimmen, konnte sich selbst nicht dazu entschließen, sie zu bestimmen, wenn er ihr nicht versprach sie zu begleiten oder ihr bald zu folgen und darin lag die Schwierigkeit. Er mußte wählen zwischen seiner Mutter und seiner Geliebten, mußte die Eine oder die Andere täuschen oder in Verzweiflung stürzen. Die arme Mutter hatte darauf gerechnet ihren Sohn bei sich zu behalten, bis er durch seinen Dienst zurückberufen würde und dieser Augenblick konnte ziemlich fern liegen, denn ganz Europa arbeitete am Frieden, der zu dieser Zeit auch Bonaparte's einziger Wunsch war. Und Victorie hatte Alles geopfert, sie hatte ihre Schiffe hinter sich verbrannt und hatte keine andere Aussicht, kein anderes Glück, als mit dem Gegenstande ihrer Liebe vereint zu sein, und ohne Sorgen um den folgenden Tag, ohne Reue über das Gestern, die Gegenwart ungetrübt zu genießen. Aber konnte dieser vortreffliche Sohn die Mutter verlassen, nachdem er kaum aus dem Feldzuge zurückgekommen war, der ihr so viele Klagen und Thränen erpreßt, so viele Schmerzen verursacht hatte? Oder war der Augenblick, in welchem ihm Victorie eine so leidenschaftliche Hingebung bewiesen hatte, dazu geeignet, ihr den Kummer seiner Mutter vorzustellen oder die Entrüstung der steifen Provinzbewohner? konnte er sie zurückschicken, wie eine gewöhnliche Maitresse, die einen dummen Streich gemacht hat? — es war hier mehr als ein Streit zwischen zwei Neigungen, es war ein Streit zwischen zwei Pflichten.

Um seine Mutter zu beruhigen, versuchte Moritz zuerst die Sache in einen Scherz zu verwandeln, und das war vielleicht unrecht, denn durch ernsthafte Gründe hätte er seine Mutter erweicht, wenn nicht gar überzeugt; aber er befürchtete die Besorgnisse, die sie sich so leicht erschuf und jene Art der Eifersucht, deren Dasein nicht zu bezweifeln war und wozu sie zum ersten Male einen wirklichen Grund hatte.

Diese Verhältnisse waren eigentlich nicht zu entwirren, aber Freund Deschartres beseitigte die Schwierigkeiten durch einen ungeheueren Mißgriff, welcher den jungen Mann von allen Skrupeln frei machte, die ihn belasteten.

In seiner Ergebenheit für Madame Dupin, seiner Verachtung der Liebe, die er nie gekannt hatte, seiner Ehrfurcht für den Anstand hatte der gute Schulmeister den unglücklichen Einfall, einen Hauptstreich auszuführen; er überredete sich, daß ein Eklat der Verbindung, die sich in die Länge zu ziehen drohte, ein Ende machen würde — und so brach er denn eines schönen Morgens, ehe sein Zögling die Augen geöffnet hatte, von Nohant auf und begab sich nach la Châtre in das Wirthshaus zum schwarzen Kopfe, wo die junge Reisende noch in süßem Schlummer lag. Er läßt sich als ein Freund von Moritz Dupin melden und wird gebeten einige Augenblicke zu warten. Die junge Frau zieht sich eilig an und dann wird er empfangen. Durch Victoriens Grazie und Schönheit kaum berührt, begrüßt er sie mit jener rauhen Unbehülflichkeit, die ihm eigenthümlich war, und beginnt damit, ein vollständiges Verhör anzustellen. Die junge Frau wird durch sein Aeußeres belustigt; sie antwortet anfänglich mit großer Sanftmuth, dann mit Heiterkeit, und da sie ihn endlich für verrückt hält, bricht sie in ein lautes Gelächter aus. Aber nun geräth Deschartres, der bis dahin einen schulmeisternden Ton bewahrt hatte, in Zorn — er wird hart, zänkisch, unverschämt und geht von Vorwürfen zu Drohungen über. Sein Geist ist nicht fein, sein Herz nicht zartfühlend genug, um ihm begreiflich zu machen, daß er eine Feigheit begeht, indem er ein Weib, dessen Vertheidiger abwesend ist, beleidigt. Er wird heftig, er beschimpft sie, befiehlt ihr denselben Tag noch nach Paris zurückzukehren und bedroht sie mit dem Einschreiten der Behörden, wenn sie nicht schleunig ihre Sachen packt.

Vietorie war weder schüchtern noch geduldig, und begann nun ihrerseits den Schulmeister zu necken und zu schrauben; sie war mehr rasch als vorsichtig in ihren Antworten und mit einer Leichtigkeit des Ausdruckes begabt, die mit dem Stottern, das sich Deschartres' bemächtigte, so oft er in Zorn gerieth, den vollständigsten Gegensatz bildete. Das feine, witzige pariser Kind trieb ihn endlich zur Thüre hinaus, die sie vor seiner Nase zumachte und rief ihm durch das Schlüsselloch noch das Versprechen nach, denselben Tag abzureisen — aber von Moritz begleitet. Der wüthende Deschartres, außer sich über solche Kühnheit, geht einen Augenblick mit sich zu Rathe und wählt ein Mittel, das der Thorheit seines Beginnens die Krone aufsetzt. Er holt den Maire und einen Freund der Familie, der irgend welches öffentliche Amt bekleidet; ich weiß nicht, ob er nicht auch die Gensd'armerie benachrichtigte. Das Wirthshaus „zum schwarzen Kopfe“ wurde also schleunig von diesen ehrwürdigen Repräsentanten der Regierung besetzt, die Stadt glaubte einen Augenblick an eine neue Revolution oder doch zum Wenigsten an die Gefangennehmung einer wichtigen Persönlichkeit.

Die Herren vom Magistrate, durch Deschartres' Rapport beunruhigt, gingen tapfer darauf los und glaubten mit einem Furienheere zu thun zu haben. Unterwegs beriethen sie sich über die „gesetzlichen Mittel“, durch welche der Feind zur Räumung der Stadt zu zwingen sein möchte. Zuerst wollten sie nach seinen Papieren fragen; hatte er deren keine, so wollte man seine Abreise verlangen und ihn mit Gefängniß bedrohen. War er damit versehen, so mußte man sie nicht in der gehörigen Ordnung finden und irgend welche Chikane ausüben. Deschartres, der vor Zorn ganz aufgeblasen war, stachelte ihren Eifer an und verlangte das Einschreiten der bewaffneten Macht. Aber die Herrn hielten die Rüstung des Militairs für überflüssig; sie drangen in das Wirthshaus ein und erstiegen die Treppe — trotz der Vorstellungen des Wirths, der sich lebhaft für seinen schönen Gast interessirte — mit eben so viel Muth als Kaltblütigkeit.

Ich weiß nicht, ob sie vor der Thüre die drei gesetzlichen Aufforderungen ergehen ließen, durch welche man Empörer zur Ruhe verweist; aber gewiß ist, daß sie keine Barrikaden überschreiten mußten und in der Höhle der Megäre, welche Deschartres beschrieben hatte, nichts fanden, als eine sehr kleine, sehr hübsche Frau, die mit nackten Armen und aufgelöstem Haar auf ihrem Bette saß und weinte.

Durch diesen Anblick wurden die Magistratsherrn, die weniger grausam waren, als der Schulmeister, sofort beruhigt, dann besänftigt und endlich gerührt. Ich glaube fast, daß sich der Eine in die entsetzliche Persönlichkeit verliebte, und daß der Andere vollständig begriff, wie sehr sie das Herz des jungen Moritz fesseln mußte. Sie begannen ihr Verhör mit großer Höflichkeit, mir einer gewissen Schonung sogar; aber sie weigerte sich stolz, ihnen zu antworten, bis sie bemerkte, daß diese Herrn gegen Deschartres' Beschuldigungen ihre Partei ergriffen, ihn zur Ruhe verwiesen und ein gewisses väterliches Wohlwollen für sie an den Tag legten. Nun wurde sie ruhig und sprach mit Sanftmuth und Liebenswürdigkeit, mit Muth und Vertrauen. Sie verhehlte nichts: erzählte, daß sie Moritz in Italien kennen gelernt und liebgewonnen hätte, daß sie seinetwegen einen reichen Beschützer verlassen hätte und daß ihr kein Gesetz bekannt wäre, wodurch sie zur Verbrecherin gestempelt würde, weil sie einen General für einen Lieutenant aufgegeben, den Reichthum der Liebe geopfert hätte. Die Beamten suchten sie zu trösten; sie stellten Deschartres vor, daß er kein Recht hätte, dies junge Weib zu verfolgen, forderten ihn auf sich zurückzuziehen und versprachen ihm, alle ihre Freundlichkeit und Ueberredungskunst aufzubieten, um die Fremde zum freiwilligen Verlassen der Stadt zu bewegen.

Deschartres zog sich wirklich zurück, vielleicht weil er den Galopp des Pferdes hörte, welches Moritz zu seiner Geliebten trug. Späterhin wurde Alles freundschaftlich mit Moritz berathen und geordnet, aber anfänglich war es schwer ihn zu beruhigen; er war im höchsten Grade aufgebracht gegen seinen tölpelhaften Lehrer und Gott mag wissen, ob er ihm nicht gern in der ersten Aufwallung des Zornes nachgeeilt wäre, um ihn übel zuzurichten. Und doch war es der treue Freund, der ihm mit Lebensgefahr die Mutter gerettet hatte — der treue Freund ihres ganzen Lebens — und zu dem Fehler, den er eben begangen hatte, war er auch nur durch die Liebe für seinen Zögling und dessen Mutter getrieben. Aber er hatte das Weib, das Moritz liebte, beleidigt und beschimpft — bei diesem Gedanken trat ihm der Schweiß auf die Stirn und ein Nebel bedeckte seine Augen. „Liebe, du zerstörtest Troja!“ Glücklicherweise war Deschartres schon weit entfernt, denn in seiner gewöhnlichen Ungeschicklichkeit und Roheit mußte er den Kummer von Moritz Mutter vergrößern, indem er ihr ein fürchterliches Bild der „Abenteurerin“ entwarf und sich über die Zukunft des jungen Mannes, der von diesem gefährlichen Weibe beherrscht und verblendet wurde, in den düstersten Prophezeihungen erging.

Während er an sein Werk des Zornes und Irrthums die letzte Hand anlegte, ließen sich Moritz und Victorie nach und nach durch die Magistratsherren, die ihre gemeinschaftlichen Freunde geworden waren, zur Ruhe sprechen. Dies junge Paar interessirte sie auf's Höchste, aber sie durften die gute, ehrwürdige Mutter nicht vergessen, deren Ruhe und Empfindung zu schonen ihre Aufgabe war. Moritz bedurfte ihrer liebreichen Vorstellungen nicht, um zu begreifen, was er zu thun hatte; er machte seine Freundin darauf aufmerksam und sie versprach denselben Abend abzureisen. Aber als die Beamten fortgegangen waren, verabredeten sie noch außerdem miteinander, daß Moritz nach Verlauf weniger Tage ebenfalls nach Paris kommen sollte. Er fühlte, daß er jetzt ein Recht dazu hatte, daß es sogar seine Pflicht war.

Er fühlte dies noch viel mehr, als er zu seiner Mutter zurückkehrte und fand, daß sie gegen ihn erzürnt war und Deschartres nicht Unrecht geben wollte. Der erste Gedanke des jungen Mannes war, sogleich abzureisen, um einen heftigen Auftritt mit seinem Freunde zu vermeiden, und Madame Dupin, die ihr gegenseitiges Grollen erschreckte, suchte nicht sich diesem Plane zu widersetzen. Um aber gegen die zärtlich geliebte Mutter nicht trotzig und ungehorsam zu scheinen, kündigte ihr Moritz an, daß er nach Blanc zu seinem Neffen, August von Villeneuve und dann nach Courcelles reisen würde, wo sich sein anderer Neffe, René, befand; er that sogar, als ob er sie wegen der Nützlichkeit dieses Schrittes um Rath fragte, indem er vorgab, daß es ihm Bedürfniß wäre, sich nach den letzten, peinlichen Gemüthsbewegungen zu zerstreuen und daß er wünsche, einen heftigen, schmerzlichen Bruch mit Deschartres zu vermeiden. „In wenigen Tagen,“ sagte er ihr, „komme ich ruhiger zurück, Deschartres wird es auch sein; Dein Kummer wird sich gelegt haben und Du hast dann keine Sorgen mehr, da Victorie schon abgereist ist“. Und da er sie bitterlich weinen sah, fügte er hinzu, daß sich Victorie wahrscheinlich bereits getröstet hätte und daß auch er sich Mühe geben wollte, sie zu vergessen. Er log, der arme Junge! und es war nicht das erste Mal, daß ihn die etwas kleinliche Zärtlichkeit seiner Mutter zum Lügen zwang. Es war auch nicht das letzte Mal — und diese Nothwendigkeit, sie zu täuschen, gehörte zu den großen Leiden seines Lebens, denn es gab nie ein aufrichtigeres, offneres, vertrauensvolleres Gemüth als das seinige. Wenn er heuchelte, mußte er seinem Wesen solche Gewalt anthun, daß er es immer sehr ungeschickt vollbrachte, und daß es ihm durchaus nicht gelang, die Scharfsichtigkeit seiner Mutter zu täuschen. So sagte sie ihm auch mit trauriger Miene, als er am folgenden Tage sein Pferd bestieg, daß sie wohl wüßte, wohin er sich jetzt begäbe. Er gab ihr sein Ehrenwort, daß er nach Blanc und Courcelles zu reiten im Begriff wäre, und sie wagte nicht, sein Ehrenwort zu verlangen, daß er von dort nicht nach Paris gehen wolle, denn sie fühlte, daß er es nicht geben, oder daß er es brechen würde. Sie mußte auch fühlen, daß er ihr alle Beweise der Achtung und des Gehorsams gab, die sie in solcher Lage von ihm erwarten konnte, indem er, ihr gegenüber, den Schein zu retten suchte.

Meine arme Großmutter war also von dem einen Schmerze nur befreit, um in neuen Kummer und in neue Besorgnisse zu versinken. Aus der stürmischen Unterhaltung mit meiner Mutter hatte ihr Deschartres mitgetheilt, daß diese gesagt hätte: „Es kommt ganz auf mich an, ob ich Moritz heirathe und wenn ich so ehrgeizig wäre, als Sie glauben, würde ich Ihren Beleidigungen in dieser Weise antworten. Ich weiß ganz genau, wie sehr er mich liebt — aber Ihr — Ihr wißt es nicht!“ Von diesem Augenblick an fürchtete Madame Dupin jene Heirath und damals war das wirklich eine thörichte, ungegründete Furcht: weder Moritz noch Victorie dachten daran. Aber wie es immer ist, daß man die Gefahren hervorruft, mit denen man sich übermäßig beschäftigt, so wurde auch die Drohung meiner Mutter ein prophetisches Wort, dessen Erfüllung meine Großmutter und besonders Deschartres beschleunigten, indem sie sich bemühten, dagegen anzukämpfen.

Moritz ging nach Blanc, wie er es angekündigt und versprochen hatte, und von dort aus schrieb er einen Brief, der den Zustand seiner Seele deutlich ausmalt.

Neunzehnter Brief.

Le Blanc, Prairial, Jahr IX (Mai 1801).

„Mutter, Du leidest und ich leide auch! Sehr viel hat der verschuldet, der zwischen uns steht und — aus guter Absicht, das sehe ich ein, aber ohne klares Unheil und ohne irgend welche Rücksicht, uns viel Böses gethan hat. Seit der Schreckenszeit ist dies der erste bedeutende Schmerz meines Lebens; er ist tief und ist vielleicht bitterer als der damalige, denn wenn wir zu jener Zeit unglücklich waren, so hatten wir doch keine Streitigkeiten miteinander — wir hatten nur eine Meinung, nur einen Willen; aber heute sind wir getrennt — nicht in unsern Gefühlen, aber in unsern Ansichten über sehr wichtige Punkte. Dies ist der größte Schmerz, der uns treffen konnte, und ich werde mich nur schwer in den betrübenden Einfluß zu finden wissen, den Freund Deschartres bei dieser Gelegenheit auf Dich ausgeübt hat. Wie ist es möglich, meine gute Mutter, daß Du die Verhältnisse von demselben Gesichtspunkte betrachtest, wie dieser Mann, der ohne Zweifel rechtschaffen und ergeben, aber auch etwas roh ist, und der über gewisse Handlungen und gewisse Neigungen, wie der Blinde über die Farben urtheilt? Ich kann dies nicht begreifen, denn ich mag mein Herz befragen, so viel ich will, ich finde darin nicht einmal den Gedanken eines Unrechts gegen Dich. Meine Liebe zu Dir ist reiner, größer als jede andere Liebe und der Gedanke Dir einen Schmerz zu verursachen, ist mir eben so fremd, eben so abscheulich, als der, ein Verbrechen zu begehen.

„Ueberlegen wir ein wenig, Mama. Wie soll es zugehen, daß meine Neigung für diese oder jene Frau eine Beleidigung für Dich und eine Gefahr für mich sein könnte, über die Du Dich beunruhigen und in Thränen auflösen müßtest? Bei diesen Gelegenheiten hast Du mich immer wie einen Mann betrachtet, der im Begriff ist, sich zu entehren und schon zur Zeit des Fräulein *** gabst Du Dich so entsetzlichen Sorgen hin, als ob ich mich von dieser Person zu unverzeihlichen Fehlern hinreißen lassen würde. Könnte es Dir lieber sein, wenn ich ein Verführer wäre, der Unfrieden in die Familien trägt, oder soll ich die Rolle eines Cato spielen, wenn mir gutwillige Personen begegnen? Das ist gut für Deschartres, der über mein Alter hinaus ist und der überdies, ich sage das ohne Malice, nicht viel Gelegenheit zu sündigen gefunden hat. Aber kommen wir zur Sache. Ich bin kein Kind mehr und kann wohl über die Personen urtheilen, die mir Zuneigung einflößen. Gewisse Frauen, das weiß ich wohl, sind, um mich Deschartres' Wörterbuch zu bedienen, Dirnen und Creaturen, und diese liebe ich ebensowenig, als ich sie suche; ich bin nicht Wüstling genug, um meine Kräfte zu vergeuden, und nicht reich genug, um diese Art Frauen zu unterhalten; aber diese häßlichen Ausdrücke sind nie auf eine Frau anzuwenden, die ein Herz besitzt. Die Liebe reinigt Alles. Die Liebe veredelt die verworfensten Geschöpfe, wie viel mehr noch die, deren einziges Unrecht das Unglück ist, ohne Stütze, ohne Hülfsmittel, ohne Führer in die Welt hinausgestoßen zu sein. Warum soll es einem so verlassenen Weibe zum Verbrechen angerechnet werden, wenn es seinen Halt und seinen Trost in dem Herzen eines rechtschaffenen Mannes sucht, während die Frauen der guten Gesellschaft, denen es weder an Ansehen noch an Ergötzlichkeiten fehlt, sich alle Liebhaber halten, um sich für die Langeweile zu entschädigen, die ihnen ihre Männer machen! Die, welche Dir so viel Kummer und Unruhe bereitet, hat einen Mann verlassen, der sie liebte und mit Vergnügen und Behaglichkeit umgab, das gestehe ich zu; aber würde dieser Mann sie genug geliebt haben, um ihr seinen Namen zu geben und ihre Zukunft zu sichern? Nein! Und deshalb fühlte ich, seit ich wußte, daß sie die Freiheit hätte, ihn zu verlassen, nicht den leisesten Gewissensscrupel ihre Liebe gesucht und erhalten zu haben. Weit entfernt mich zu schämen, daß ich diese Liebe einflöße und theile, bin ich vielmehr stolz darauf, trotz des Mißfallens Deschartres' und der guten Zungen von La Châtre; denn unter diesen „Damen“, die mich tadeln und sich scandalisiren, weiß ich welche, die mir gegenüber nicht das Recht haben, prüde zu thun. Ueber diesen Punkt hätte ich Lust zu lachen, wenn ich lachen könnte, da Du aus Liebe zu mir traurig bist, meine gute Mutter. „Aber endlich, was fürchtest Du, was bildest Du Dir ein? Daß ich eine Frau heirathen würde, deren ich mich einst schämen müßte? Sei vorerst versichert, daß ich nichts thun werde, worüber ich jemals erröthen könnte; wenn ich diese Frau heirathete, so würde ich sie sicher auch achten, denn man kann nicht ernstlich lieben, wo man nicht hohe Achtung empfindet. Also hat Deine Besorgniß, oder vielmehr die Besorgniß Deschartres', nicht den geringsten Grund.

Ich habe noch niemals an das Heirathen gedacht — ich bin noch viel zu jung, um daran zu denken, und das Leben, das ich führe, erlaubt mir noch nicht Frau und Kinder zu haben. Und Victorie denkt ebensowenig daran als ich. Sie hat sich sehr jung verheirathet; ihr Mann ist gestorben und hat ihr eine kleine Tochter hinterlassen, der sie alle Sorgfalt angedeihen läßt, die aber doch eine Last für sie ist. Jetzt muß sie arbeiten, um zu leben, und sie wird es thun, denn sie besaß schon früher eine Putzhandlung und arbeitet sehr gut. Welches Interesse könnte sie also haben, einen armen Teufel wie mich zu heirathen, der nichts besitzt als seinen Säbel, seinen wenig einträglichen Rang und der um keinen Preis Deine Behaglichkeit noch mehr beeinträchtigen würde, als es jetzt geschieht — das ist schon zu viel!

„Du siehst also wohl, daß alle Ahnungen des weisen Deschartres keinen Sinn haben und daß seine Freundschaft ebensowenig zart als klug ist, wenn es ihm gefällt, Dir solche Befürchtungen in den Kopf zu setzen. Seine Aufgabe würde sein, Dich zu trösten und zu beruhigen, statt dessen thut er Dir weh. Er gleicht ganz dem Bären in der Fabel, der eine Fliege auf dem Gesichte seines Freundes todtschlagen wollte und diesem dabei den Kopf mit einem Pflastersteine zerschmetterte. Sage ihm das von mir, und daß er sein Benehmen ändern möchte, wenn wir gute Freunde bleiben sollen. Auf andere Weise würde das nicht gut möglich sein. Ich kann ihm verzeihen, wenn er sich abgeschmackt gegen mich beträgt, aber nicht, wenn er Dir Schmerzen bereitet und Dir den Glauben zu nehmen sucht, daß meine Liebe zu Dir jede Prüfung besteht.

„Und dann, liebe Mutter, kennst Du mich denn nicht? Weißt Du nicht, daß, selbst wenn ich den Plan gehabt hätte, mich zu verheirathen, selbst wenn ich es sehr gewünscht hätte (was indessen nicht der Fall ist), Dein Kummer und Deine Thränen genügt haben würden, mich davon abzuhalten? Könnte ich denn jemals etwas thun, das Deinem Willen und Deinen Wünschen entgegenliefe? Denke doch, daß dies unmöglich ist und schlafe ruhig.

„August und seine Frau wollen mich noch zwei oder drei Tage hier behalten. Man kann wirklich nicht liebenswürdiger sein, als sie. Das sind keine leeren Redensarten, sondern wirkliche Herzlichkeit und Freundschaft. Sie sind sehr glücklich — sie lieben sich und kennen weder Ehrgeiz noch Planmacherei, aber auch nicht den Ruhm! Und wenn man von diesem Weine getrunken hat, kann man sich nicht wieder an klares Wasser gewöhnen.

„Adieu, meine gute Mutter, ich sehne mich wieder zu Dir zu kommen und Dich zu trösten — aber laß mich nur noch zwei oder drei Tage die ernsten Vorträge und weisen Rathschläge meines achtungswürdigen Neffen anhören. Ich bin ein sanftmüthiger Onkel, der sich belehren läßt — habe zärtlichere Predigten nöthig als die Deschartres' und fühle, daß die Luft von Nohant und La Châtre mir jetzt nicht zusagen würde. — Ich umarme Dich von ganzer Seele und liebe Dich mehr, als Du glaubst.

Moritz.“

1,99 €
Žanrid ja sildid
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