Loe raamatut: «DUNKLE SONNE», lehekülg 2

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Vielleicht ist einigen Leuten unangenehm, dass ich auf ihre Schliche gekommen bin. Das würde zumindest einiges erklären …«

Rob befand sich in einem völlig abgedunkelten Raum. Langsam streckte er seine Hände aus, in der Hoffnung, irgendwann auf ein Hindernis zu stoßen, um sich zu orientieren. Doch da war nur Leere. Vorsichtig begann er, Schritt um Schritt nach vorn zu gehen. Die Hände nach vorn haltend spürte er, wie ihm der Schweiß ausbrach. Eine merkwürdige Stille, die wie Samt in seinen Ohren lag, verstärkte sein Gefühl der Unsicherheit.

Plötzlich hatte er den Eindruck, durch feine Spinnennetze zu gehen. Ein unkontrollierbares Schütteln zuckte durch seinen Körper, und er wischte sich hektisch über sein Gesicht, um die klebrigen Fäden abzustreifen. Das Gefühl erinnerte ihn an seine Kindheit, als er mit den Eltern jeden Herbst Pilze suchen war. Die Spinnweben zwischen den Bäumen hatten ihm den Spaß verdorben, sodass er später nur noch widerwillig mitkam.

Ein seltsamer, aber vertrauter Geruch geriet ihm in die Nase. Er machte noch einige Schritte nach vorn und spürte einen leichten Luftstrom auf seinem Gesicht. Jetzt konnte er auch den Geruch bestimmen. Es war der intensive Gestank nach frischem Blut. Sein Herz begann zu rasen.

Plötzlich brach den Boden unter seinen Füßen weg. Kopfüber, mit den Händen ins Nichts greifend, fiel er in die Dunkelheit.

Rob spürte einen schmerzhaften Aufschlag und erwachte neben seinem Bett. Ein lautes Summen zeigte einen dringenden Anruf an, der in der Warteschleife lag. Er stand auf, rieb sich die schmerzende Schulter und bestätigte den Anruf. Das Gesicht einer hageren, etwa vierzigjährigen Frau mit halblangen, schwarzen Haaren und einem dünnlippigen Mund erschien auf dem Schirm. Er schaute auf den Link der Statuszeile. Polizeidistrikt 8 war dort zu lesen. Da Rob von seiner Seite den Bildkanal deaktiviert hatte, streckte er ihr die Zunge heraus.

»Was gibt’s?«, fragte er.

»Sind Sie Rob Halberg, derzeit bei ComSatz beschäftigt?«

»Worum geht es?«

»Kennen Sie Mark Kalik?« Ihr Gesicht zeigte keine Regung.

»Wir sind befreundet. Ist was passiert?«

»Mark Kalik wurde heute Morgen tot in seiner Wohnung aufgefunden. Ein Nachbar hörte laute Schreie und informierte die Polizei.« Sie schaute plötzlich in die Kamera, als würde sie ihn tatsächlich sehen. »Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt mit Herrn Kalik?«

Rob schlug es heiß ins Gesicht, sein Magen krampfte sich zusammen. »Gestern Nachmittag«, sagte er einen Augenblick später. »Er wollte mir …« Rob stockte. »Wie ist es passiert?«

»Hirntod«, antwortete die Frau. »Wir fanden ihn an einen Rechner gekoppelt. Reizüberflutung.« Sie lächelte kurz. »Wir benötigen Ihre Aussage. Fünfzehn Uhr, Polizeidistrikt acht. Möglicher Verdienstausfall wird Ihnen erstattet.«

Die Verbindung endete abrupt und machte einem Werbespot über Speichermedien Platz.

Rob lehnte sich zurück und schloss die Augen. Seine Gedanken überschlugen sich. Er konnte es nicht glauben. Mark tot – einfach so, von heute auf morgen? Ihn überkam Übelkeit. Er lief ins Bad, konnte sich jedoch nicht übergeben. Heftig atmend hockte er vor dem Toilettenbecken. Er musste etwas unternehmen.

Einige Sekunden lauschte er an Marks Tür. Von drinnen war kein Geräusch zu vernehmen. Er zog den Schlüssel, den er von Mark für Notfälle bekommen hatte, aus der Manteltasche und schloss leise die Tür auf. Die Wohnung machte, von einem süßlichen Geruch abgesehen, einen unveränderten Eindruck. Rob lief ins Wohnzimmer. Ein Rechner war umgekippt und der spinnenartige Sensorhelm lag auf dem Boden. Daneben waren die Umrisse von Marks Körper angezeichnet. Ein Bildschirm lief noch und zeigte fliegende Toaster.

Im Laufwerk des umgekippten Rechners entdeckte er den gleichen Datenträger, den Mark ihm ausgeliehen hatte und auf dem sich die 3-D-Simulation befand. Rob suchte den Raum nach schriftlichen Aufzeichnungen ab, konnte jedoch nichts finden. Vermutlich hatte die Polizei alles Wesentliche mitgenommen.

Er stellte den umgekippten Rechner wieder auf und schaltete ihn ein. Der Speicher wurde hochgezählt und das Betriebssystem geladen. Rob setzte sich, befestigte den Sensorhelm am Kopf und startete die Simulation. Es konnte kein Zufall sein, dass sich gerade dieser Datenträger im Laufwerk befand. Als das Programm in sein Nervensystem griff, hatte er einen Augenblick das Gefühl, schwerelos zu sein. Sein Blickfeld wurde weich überblendet, er vernahm leichtes Rauschen.

Wie aus diffusem Nebel entstand eine Landschaft um ihn. Er fand sich in einem Wald mit gewaltigen, moosbewachsenen Bäumen wieder. In der Ferne war das Gekreisch von Vögeln zu vernehmen. Hin und wieder brach die Sonne durchs Blätterdach und warf fächerartige Lichtsäulen auf den Boden. Rob fühlte den feuchten Boden unter seinen Füßen und das Gekrabbel von Insekten. Er war nackt. Mit zögernden Schritten begann er sich durch Büsche mit großen fleischigen Blättern zu kämpfen. Die mächtigen Bäume standen weit auseinander und waren am Fuß von Schlingpflanzen umwuchert. Rob spürte, wie ihm etwas auf den Rücken spritzte. Er fasste nach hinten und berührte eine klebrige Substanz. Als er die Hand nach vorn nahm, klebte an seinen Fingern schmieriger violetter Schleim.

Er lief eine lichtdurchflutete Schneise entlang. Diese Simulation sollte sich Mark ausgedacht haben? Sie war unglaublich detailliert, fast schon real. War das der seltsame Virus, mit dem sich Mark in den letzten Tagen beschäftigt hatte? Eine künstliche Intelligenz? Hatte etwa der Virus Mark umgebracht, oder waren es die Leute, die hinter dem Programm standen? Absurd!

Rob hielt inne. Vor sich erblickte er eine Lichtung. Gleißendes Sonnenlicht fiel auf eine pyramidenähnliche Konstruktion. Hellbraune verwitterte Steine waren zu einem etwa vier Meter hohen Bauwerk aufgeschichtet. Ein enger Eingang führte in unergründliche Dunkelheit. Direkt vor dem von schmalen Steinplatten umrahmten Eingang entdeckte er eine bewegliche Bodenplatte und am Rande der Pyramide einen schweren Stein. Mühsam schleppte er ihn vor den Eingang und ließ ihn, während er gleichzeitig zurücksprang, auf die Platte fallen. Es gab ein Geräusch wie von austretendem Gas. Einige Sekunden verharrte Rob regungslos, dann bemerkte er, dass das Innere der Pyramide jetzt erleuchtet war.

Gebückt betrat er den Eingang. Verwesungsgeruch schlug ihm entgegen. Rob ging Schritt für Schritt in das Gebäude hinein. Der Gang wurde nach hinten breiter und höher. An den Wänden brannten von Gas versorgte Fackeln. An seinem Ende weitete sich der Korridor zu einem größeren Raum. Behutsam betrat er das kuppelförmige Zimmer. Vom Zentrum der Decke hing eine milchige Kugel, aus der warmes Licht strömte. Die nach innen gewölbten Wände waren mit großflächigen farbigen Zeichnungen verziert, zumeist in Rot und Schwarz gehalten. Rob fuhr zusammen.

Die Bilder zeigten sterbende Menschen. Obwohl nur angedeutet, sah man den Gesichtern Schmerz und Entsetzen an. Von allen Seiten stürzten sich haarige Riesenspinnen auf die Menschenopfer. In Rob keimte ein entsetzlicher Verdacht. So schnell wie möglich musste er von hier verschwinden. Da gab der Boden unter seinen Füßen nach. Beinah gemächlich schwangen sechs spitz zulaufende Segmente nach unten und gaben den Blick auf eine dunkle Grube frei. Es raschelte leise.

Er brüllte auf, als er den Halt verlor, der Länge nach auf den harten Stein fiel und langsam von der Steinplatte rutschte. Rob stürzte zwei Meter tief und fiel auf Hunderte haariger Körper, eine Matte aus handgroßen Spinnen. Er versuchte aufzustehen, doch die Tiere krabbelten über seinen Körper, zwängten sich mit ihren hornigen Beinen zwischen seine Lippen und drangen ihm tiefer in Mund und Hals.

Rob spürte, wie er seine Kraft verlor. Seine Arme, mit denen er sich hochzustemmen suchte, zitterten. Mit letzter Energie brüllte er QUIT.

Rob sackte in sich zusammen, als sich sein Gehirn vom System löste. Er riss sich den Sensorhelm vom Kopf und warf ihn beiseite. Noch immer zitterte er am ganzen Körper, kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Plötzlich überlief es ihn heiß. Sein Blick fiel auf sein heimisches Arbeitszimmer. Auf dem Monitor stand GAME OVER.

Rob öffnete seine Adressdatenbank und klickte auf Marks Videoverbindung.

»Der Teilnehmer ist zurzeit nicht verfügbar. Versuchen Sie es später noch einmal«, meldete eine synthetische Frauenstimme nach wenigen Augenblicken. »Danke, dass Sie Videotec Vision als Übertragungssoftware benutzt haben.«

Rob stand auf, zog sich seinen Mantel über und ging auf die Straße. Kalter Wind peitschte gelbbraune Herbstblätter über den Fußweg. Die Straße war seltsamerweise fast menschenleer, nur ein Motorradfahrer fuhr langsam am Straßenrand entlang. Rob trafen einige Regentropfen. Er blickte nach oben und sah aufgewühlte dunkle Wolken über den Himmel ziehen. Er blieb schlagartig stehen. Diese Wolkenbewegungen kannte er. Zu exakt, um real zu sein. Um ihn begann sich alles zu drehen, seine Beine rutschten unter ihm weg. Erneut rief er QUIT.

Als die Überblendung sein Blickfeld freigab, sah er Hunderte von Spinnen sich in sein Fleisch graben. Zuckende Wölbungen bewegten sich langsam unter seiner Haut vorwärts und fraßen. Dumpf spürte er einen sich ausbreitenden Schmerz im ganzen Körper.

Er schloss die Augen und ließ sich zurückfallen. Eine schwere Müdigkeit erfasste ihn und drängte alle anderen Empfindungen zurück. Er wollte sich nur ausruhen, alles von sich abstreifen.

Rob versank in einer warmen, weichen Dunkelheit.

Welt Gottes

Als ich auf dem Raumhafen eintraf, ahnte ich nicht, was mich erwartete. Eine milde Herbstsonne lag über der Ebene. Das Schiff war bereits gelandet. Es stand in der äußersten Ecke des Landefeldes, so mit Ruß überzogen, dass es schwerfiel, die Kennnummer zu entziffern. Gerade kam der Bus, der die von WELT GOTTES zurückkehrenden Reisenden von der Raumfähre zum Terminal brachte.

Er wurde von den Pilgern, die durch ihre auf unterschiedliche Konfessionen hinweisende Kleidung gekennzeichnet waren, begeistert empfangen. Die meisten knieten nieder, als die Rückkehrer den Bus verließen. Ihre Gewänder leuchteten in der Sonne.

»Seid gegrüßt, Pilger Gottes«, dröhnte eine lautsprecherverstärkte Stimme über den Platz. »Kniet nieder, empfangt den Segen des unermesslichen Geistes! Wer fest im Glauben ist, den nimmt Gott auf und verzeiht ihm seine Sünden …«

Ein Ankömmling, der gestikulierte, wurde von Pilgern umringt. Manche knieten nieder, einige warfen sich zu Boden. »Ich bringe euch die Gnade, deren ich teilhaftig geworden bin.«

Die Rückkehrer mussten etwas Überwältigendes erlebt haben. Mein Auftrag schien interessant zu werden.

»Schau nur, Michael, diese Verrückten.« Bernard Pelot, als Ressortchef mein direkter Vorgesetzter, zog seinen unförmigen Hut noch tiefer ins Gesicht. »Eine heiße Sache, dein erster Auftrag. So etwas hätte ich mir damals für mich gewünscht – anstatt einer Reportage über die Bewältigung der Todesangst bei Hellsehern. Aber das hier! Religiöse Fanatiker und ein ungelöstes kosmisches Rätsel. Delvon muss einen Narren an dir gefressen haben.« Er lächelte mich an, seine gelbfleckigen Zähne wurden sichtbar. »Ein Tipp, Michael. Halte Augen und Ohren offen, frage sie aus bis aufs Hemd, aber lass dich auf keine Streitgespräche ein. Die sind dazu fähig, deinen Körper der kosmischen Kälte zu opfern.«

Er gab mir einen kräftigen Schlag auf den Rücken. »Komm mir gesund wieder!«

Die Pilger wiesen jeden Versuch ab, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Sie widmeten sich ausschließlich ihren Gebetsriten und versenkten sich in Meditation. Ich musste, wenn ich mich unterhalten wollte, mit zwei Geschäftsreisenden vorlieb nehmen oder konnte mir von einem Serviceroboter die technischen Details des Schiffes erklären lassen.

Ich sehnte das Ende des Fluges herbei. Auch nach drei Wochen hatte ich mich nicht an das Dröhnen der Generatoren gewöhnt, das bis in die Schlafkabinen drang und mir Albträume bescherte. Drei Wochen? Einer Vorahnung folgend, befragte ich meinen Kommunikator – und erschrak. Bis zum Austritt aus dem Überraum waren es vierzig Sekunden … Ich hatte gerade noch Zeit, mich anzuschnallen, als grelles Übergangslicht meine Augen blendete. Der Pilot hatte vergessen, das Warnsignal auszulösen.

Nach dreißig Sekunden hatten wir den Überraumsprung hinter uns. Ich erhob mich, stellte einen heruntergefallenen Blumentopf mit künstlichem Venustau auf den Tisch zurück und betrat den Hauptgang. Es herrschte ein vollkommenes Durcheinander. Die Hälfte der Leuchtkugeln war erloschen und der Boden von Ölflecken bedeckt. Reinigungsroboter konnte ich nirgends entdecken. Die Pilger liefen einander um und drängten sich vor dem Zentralmonitor, um einen Blick auf WELT GOTTES zu werfen. Der Planet glich einem blassen, milchigen Ball, in den man eine weißglühende Nadel gestochen hatte: ein Energiestrahl von mehr als zwanzig Kilometern Durchmesser, der sich weit in die Tiefen des Weltraums erstreckte. Obwohl schon etliche Raumschiffe über Jahre hinweg seinem Lauf gefolgt waren, hatten sie seinen Ausgangspunkt nicht erreicht.

Schmerzhaft hin und her gestoßen und von den emsig umherlaufenden Pilgern vom Zentralmonitor weggedrängt, kam ich mir inmitten dieser geballten Ansammlung von Frömmigkeit ziemlich überflüssig vor. Ich quetschte mich durch die Menschenmenge und lief zum Speisesaal.

Als die Fähre landete, wurde es gerade dunkel. Der Himmel war wolkenverhangen und schien uns jeden Augenblick mit Regen überschütten zu wollen. Obwohl heftiger Wind blies, war die Luft heiß und schwül.

Wegen des Sandsturms war der Hafentransporter, der uns zum Abfertigungsgebäude bringen sollte, kaum zu erkennen. Hinter trüben Fensteröffnungen bewegten sich dunkle Gestalten. Die Pilger begannen, eine mit Schmutz verkrustete Metalltreppe hochzuklettern. Ich folgte als Letzter und bekam bei jedem Schritt meines Vordermannes eine Ladung Dreck ins Gesicht. Oben warteten Serviceroboter und führten uns zu abgewetzten Sitzen. Einer der Roboter trat zu mir.

»Mr. Lorenz? Michael Lorenz?«

Ich nickte. »Richtig!«

»Ich bin be-beauftragt, Sie als Be-berater und Führer auf WELT GOTTES zu be-begleiten.«

Ich blickte an seinem Gehäuse hinunter und bemerkte Rostflecken und kleinere Löcher. An einer Hand fehlten zwei Finger.

»Was soll das?«, fragte ich verärgert. »Warum wird mir kein menschlicher Begleiter gestellt?«

Ein klägliches Knacken erklang aus der Lautsprecheröffnung, bevor er antwortete: »Schon während des Au-aufbaus der Station kam man zur Einsicht, dass es keinem menschlichen Wesen zuzumuten ist, längere Zeit auf diesem Himmelskörper zuzubringen.« In seinem Inneren rasselte etwas. »Übersinnliche Er-erscheinungen haben unvorhersehbare Reaktionen bei den Stationsmitarbeitern au-ausgelöst. Deshalb …«

»Das ist die dümmste Ausrede, die ich je gehört habe«, gab ich zurück. »Bei ausreichender Motivation finden sich für jeden Job die richtigen Leute. Es zieht doch genügend Pilger hierher!«

»Es ist …« In seinen elektronischen Eingeweiden rumorte es, Zahnräder knackten, er verstummte. Aus seiner Ohrimitation stieg eine kleine Qualmwolke. Als er sich nach einer halben Minute immer noch nicht rührte, lehnte ich mich zurück.

Zwei Stunden später hielt der Transporter vor einem Gebäudekomplex, der aus dunklen Gesteinsplatten zusammengesetzt war. Die Roboter drängten uns von den Plätzen und folgten beim Aussteigen. Wir betraten eine notdürftig ausgebesserte Straße. Die ehemals glatte Oberfläche war aufgebrochen und zum Teil zugeweht. In der Station schaltete jemand die Außenscheinwerfer ein, um uns die Orientierung zu erleichtern. Der Eingang, eine große ovale Tür, öffnete sich einen Spaltbreit. Für einen Augenblick legte sich der Wind, und wir kamen schnell ins Innere. Ein Androide neuester Bauart empfing uns mit warmer, weicher Stimme.

»Willkommen auf WELT GOTTES. Diese schon zweihundert Jahre alte Station ist für die nächsten Stunden Ihr Quartier. Sie können sich in dieser Nacht noch einmal auf sich selbst besinnen, bevor Sie morgen der Manifestation Gottes gegenübertreten. Der Marsch nimmt, je nach körperlicher Verfassung, vier bis fünf Stunden in Anspruch. Sollten Sie während des Aufenthaltes in dieser Station zu der Überzeugung gelangen, vom Pilgermarsch zurücktreten zu wollen, ist es möglich, die Zeit bis zur Rückreise hier zu verbringen.«

Fünf Stunden Fußmarsch! Warum hatte mir Bernard Pelot kein Wort davon gesagt? So schlecht waren die Vorrecherchen doch sicherlich nicht, dass er nichts davon gewusst haben sollte. Ich war nahe daran, mir zu wünschen, man hätte diesen Auftrag einem anderen vermacht.

Ich rief den mir zugeteilten Roboter und ließ mich zu meinem Zimmer führen. Ein großes Fenster ermöglichte den Blick auf den windumtosten Transporter, der verlassen vor der Station stand. O Gott, das Wetter schien noch schlechter zu werden.

Ich legte mich hin und versuchte, zu schlafen. Das ständige Flüstern von Bibelzitaten aus dem Bibelspender ließ mich keine Ruhe finden. Es würde erst dann verstummen, wenn man für einen deftigen Preis eine der schlechtgedruckten Bibeln gekauft hatte. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, und nach einer Weile taten mir sämtliche Knochen weh. Der Roboter stand in einer Ecke und funkelte mit seinen Kontrolllampen.

»Eine Partie Schach?«, fragte ich und schaltete das Licht wieder ein.

Am nächsten Tag erwachte ich samt Spielbrett und Schachfiguren im Bett. Der Roboter befand sich nicht mehr im Zimmer. Nach dem Waschen meldete sich mein Magen, und ich machte mich auf den Weg zum Speisesaal. Bei meiner Suche lief mir einer der Pilger über den Weg. Bisher war er mir wie die anderen aus dem Wege gegangen, jetzt warf er mir einen seelsorgerischen Blick zu und trat näher. »Sie scheinen allein angereist zu sein.« Seine Stimme klang rau. »Kommen Sie doch zu uns und schließen sich der Gruppe an.«

»Das würde ich gern.« Ich versuchte mit einem verunglückten Lächeln, ein wenig von seiner Liebenswürdigkeit zurückzugeben, und reichte ihm die Hand. Wirklich, es wurde höchste Zeit, etwas für meinen Artikel zu tun. »Ich bin Michael Lorenz.«

»Harlan«, sagte er und erwiderte meinen Händedruck.

Ich aktivierte unauffällig mein Multifunktionsaufnahmegerät und folgte ihm durch die schlecht beleuchteten Gänge. Im Speiseraum herrschte reger Betrieb. Hier entdeckte ich auch meinen Roboter wieder. Er war mit Küchenarbeiten beschäftigt und bemerkte mich nicht. Harlan lief zu einem großen Tisch, an dem etliche Pilger ihr Frühstück verzehrten, und stellte mich vor. Ich zog mir einen Stuhl vom Nachbartisch heran und setzte mich.

»Ich bin von der Vereinigung VERKÜNDER DER GROSSEN WIEDERKEHR«, flüsterte mir jemand ins Ohr. »Ich hoffe, hier Antwort auf all unsere Fragen zu finden.«

»Ich kann das gut verstehen«, antwortete ich. »Das ganze Leben an eine Sache zu glauben, ist sicher zu wenig. Irgendwann braucht man ein Zeichen, eine Bestätigung.«

»Sie haben mich falsch verstanden«, erwiderte er. »Zweifel kennen wir nicht. Es geht uns um eine Bewusstseinserweiterung. Warum sollten wir sie ausschlagen, da sie doch möglich erscheint? Ein Zeichen brauchen wir nicht. Wir sind auch ohne ein solches in der Lage, zu glauben.«

»Natürlich«, stimmte ich ihm zu, während ich nach Marmelade für meine fast schwarze Toastscheibe suchte. »Das habe ich nie bezweifelt.«

Er klappte den Deckel seines Aktenkoffers nach oben, der sich als Laptop entpuppte. Aus der Seitentasche seines schwarzen Umhangs zog er ein abgegriffenes Modul und klemmte es zwischen die Kontaktleisten. Darauf füllte sich der Bildschirm mit unverständlichen Zeichen.

»Dies sind sämtliche nachprüfbaren Beweise für die Richtigkeit unserer Theorien. Sie wurden im Laufe von siebenhundert Jahren gesammelt und auf ihre Echtheit untersucht. Die entsprechenden Gutachten sind am Ende einer jeden Beweisführung aufgelistet.«

»Äußerst bemerkenswert«, erklärte ich. »Damit würde ich mich gern intensiver beschäftigen. Könnten wir vielleicht nach …«

»Absoluter Unfug«, unterbrach mich ein weißhaariger Kayriede mit einer roten, spitz zulaufenden Schädelwulst, dem Zeichen für eine starke Potenz. »Unsere Erkenntnisse lassen auf eine völlig andersartige Entstehungsgeschichte des Universums schließen. Zuerst gab es das UR-WESEN, das Paradoxon, das sich aus sich selbst erschuf. Ein Zeitwirbel, ausgelöst vom NULLDANACH. Eine Ursache-Wirkungs-Verschiebung, die nur vor der Existenz des Universums möglich war und durch die dessen Entstehung erst bedingt wurde. Das auslösende Moment sozusagen.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, sehen Sie das Universum aus einem Perpetuum mobile hervorgegangen?«, warf ich leicht benommen ein.

»Gewiss.« Der Kayriede blickte mir tief in die Augen. »Nicht nur das Universum. Hier ist wohl unser überzeugendster Beweis!« Er holte aus seinem Koffer einen schwarzen Kasten, an dessen Seite sich ein unscheinbares Rädchen drehte. Oben waren die beiden Symbole E. S. eingeprägt. Er tippte darauf. »Nichts als Zahnräder!«

»Eine Ihrer billigen Imitationen!«, rief mein erster Gesprächspartner empört. »Wo haben Sie diesmal den Motor versteckt?«

»Eine Frage, Herr Lorenz!«, unterbrach Harlan die Auseinandersetzung. Er saß an der anderen Seite des Tisches und schaute amüsiert drein. »Was hat Sie eigentlich in diese Gegend verschlagen?«

»Ich schreibe Auftragsarbeiten für eine große Fachzeitschrift, die sich mit Grenzwissenschaften beschäftigt«, antwortete ich frei heraus.

Ich bemerkte, wie sich Harlans Gesichtsausdruck einen Augenblick lang veränderte. Der Kayriede rückte ein wenig von mir weg, es entstand eine angespannte Pause, in der niemand etwas sagte. Betont langsam trank ich einen Schluck Kaffee.

»Wir haben also einen Journalisten hier«, beendete Harlan etwas hilflos das Schweigen. »Wer weiß, was Herr Lorenz nachher über uns schreibt?«

»Nein, nein«, versuchte ich einzulenken. »Ich schreibe kleinere Reportagen, und das auch erst seit einem Jahr.«

»Das muss doch ungeheuer interessant sein«, sagte jemand. »Sie müssen weit herumkommen.«

»Um ehrlich zu sein«, sagte ich leise, »dies ist mein erster großer Auftrag. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich dabei unterstützten. Es wäre mir eine große Hilfe, wenn Sie mir nach Ihrer Begegnung mit GOTT schilderten, was Sie erlebt haben, wie die geheimnisvollen Erscheinungen auf Sie gewirkt haben.«

»Sie würden wirklich darüber berichten? Das wäre großartig. Ich melde mich bei Ihnen!«

»Ich auch!«

»Aber das ist doch selbstverständlich!«

»Gehen Sie mit – oder bleiben Sie hier?«, fragte Harlan. Es klang misstrauisch.

»Wenn Sie einverstanden sind«, sagte ich, »schließe ich mich Ihnen an. Ich will es selber kennenlernen.«

Er nickte. »Also gemeinsam.«

Wir standen auf der sturmgepeitschten Oberfläche des Planeten und versuchten, durch den aufgewirbelten Sand und Staub wenigstens die nähere Umgebung auszumachen. Die Schutzanzüge waren schwer und unbequem. Der meine hatte einen Fehler im Luftfilter, sodass mir ständig Sandkörner zwischen die Zähne gerieten.

Jemand klopfte mir auf den Rücken. Ich blickte mich um und erkannte Harlan durch die Sichtscheibe des fremden Helms.

»Wo ist Ihr Roboter?«, hörte ich seine Stimme. »Ich hoffe, Sie wollen nicht ohne ihn losziehen.«

»Er ist gerade dabei, mein Aufnahmegerät zu verpacken, damit es vom Sand verschont bleibt. Dagegen sind die Dinger empfindlich.« Ich wies zur Seite, wo sich im Sandgestöber ein kaum auszumachender schwarzer Fleck auf uns zu bewegte. »Das wird er wohl sein.«

Mein Roboter tapste schwerfällig durch den Sand und hielt im linken Greifer den in Folie gewickelten Apparat.

»Ihr Aufnahmegerät!«, schnarrte er und hielt mir das Bündel entgegen.

»Ich brauche es noch nicht«, antwortete ich ihm. »Trag es solange.«

Er zog seinen Greifer zurück und wartete.

»Wir müssen los«, drängte Harlan. »Die anderen sind uns schon voraus.«

»Welche Richtung?«, fragte ich.

»Folgen Sie mir«, meldete sich der Roboter und stakste an uns vorbei. Wir liefen hinter ihm her und hatten Schwierigkeiten, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Die Sicht schien noch schlechter zu werden.

»Warum nehmen wir kein Fahrzeug?«, fragte ich. »Ist es nicht unsinnig, die Sache so zu erschweren?«

»Glauben Sie, wir laufen absichtlich zu Fuß?« Harlan lachte dumpf. »Ich habe mich informiert. Gäbe es eine andere Möglichkeit, diese Strecke zu überwinden, würde man sie nutzen. Leider bleibt jeder Motor innerhalb des Energiefeldes stehen. Keiner weiß, warum – es ist eben so. Auch mit Tragtieren hat man es versucht. Sie scheuen vor der Erscheinung.«

Ich hatte mit den Sandkörnern im Mund zu kämpfen, meine Augen begannen zu tränen. Hatte ich anfangs die Sache noch für amüsant gehalten, so entwickelte ich angesichts der vor uns liegenden Strapazen regelrechten Widerwillen gegen meinen Auftrag. Wofür das alles? Um unerklärliche, pseudomystische Lichterscheinungen zu beobachten!

Harlan lief wie gebannt hinter meinem Roboter her. Irgendwie schaffte er es, den Sandsturm zu vergessen und sich auf das ferne Ziel zu konzentrieren. Ich hatte große Lust, auf der Stelle umzukehren und die Pilger zu interviewen. Doch dazu hätte ich allein zurückgehen müssen – und das wollte ich auch wieder nicht.

Als mir das Fehlen von Harlans elektronischem Begleiter auffiel, schaute ich zurück. Außer gelblichgrauen Schlieren war nichts zu erkennen. Harlan war allein unterwegs.

»Wo haben Sie Ihren Roboter?«, fragte ich. »Hat er einen Defekt, oder weshalb gehen Sie allein?«

»Ich kann die Dinger nicht ausstehen.« Seine Stimme war kaum zu verstehen. »Durch sie entfremdet man sich von Gott.«

»Und dennoch folgen Sie meinem Roboter?«

Harlan schwieg und starrte vor sich hin. Ich wollte noch eine Frage stellen, die mir jedoch im Halse stecken blieb. Unbewusst hatte ich mich seiner Kleidung erinnert und ahnte nun, was in ihm vorgehen musste: Vor zwei Jahren machte ein religiöser Skandal von sich reden. Man hatte entdeckt, dass der damalige, scheinbar unsterbliche Führer jener Sekte, der Harlan zugehörte, ein Simulacron war. Ich hatte die Ereignisse mit großem Interesse verfolgt und jeden Artikel für eine Arbeit gesammelt. Die Sekte zerfiel innerhalb weniger Wochen, nur eine kleine Gruppe überzeugter Fanatiker blieb erhalten. Ich mochte nicht darüber nachdenken, was Harlan mit seinem Roboter angestellt hatte. Sicherlich fehlten dem jetzt mehr als zwei Finger.

»Schauen Sie! Da vorn!«

Ich folgte Harlans ausgestreckter Hand und versuchte, den Staub zu durchdringen. Ein blaues Leuchten war zu erkennen, aber möglicherweise täuschte mich auch eine Spiegelung in meinem Sichtfenster.

»Der Roboter läuft darauf zu!«, rief ich. »Das kann doch nicht schon das Energiefeld sein?«

»Was sonst?«, sagte Harlan und legte einen Schritt zu.

Je näher wir kamen, umso intensiver wurde das Leuchten. Lichtblitze durchschnitten das Licht und entluden sich leise grollend.

»Hey! Roboter!«, rief ich in den Sturm. »Was ist das hier? Sind wir schon da?«

»Das ist die äußere Grenze des Energiefeldes«, hörte ich schwach seine Antwort. »Wir müssen da hindurch. Es wird Ihnen nichts passieren.«

»Dann los«, ließ sich Harlan vernehmen, und eigenartig fröhlich sagte er noch: »Vielleicht ist dahinter das Wetter besser. Außer unserem Leben haben wir nichts zu verlieren.«

Er begann zu laufen und schleuderte mit seinen Schuhen kleine Sandfontänen auf. Es war jedoch noch ein ganzes Stück Weg, und nach einer Weile begann er, wieder langsamer zu werden. Je näher wir dem Energiefeld kamen, umso mehr veränderte sich auch unsere Umgebung. Große Felsbrocken bedeckten die Ebene, und immer öfter wurde der nackte Felsboden sichtbar. Mein Roboter stürmte voran, keinen Augenblick daran zweifelnd, dass wir ihm folgen würden.

Da bemerkte ich etwas Seltsames. Während die Umgebung in blaues Licht getaucht wurde und der Wind abflaute, stiegen farbige Dämpfe aus dem Boden und formten sich zu seltsamen Gestalten. Manche dieser Nebelwesen trugen Gesichter, die mich an Freunde und Verwandte erinnerten. Mit dunstigen Händen griffen sie nach uns, spannen Farblinien um unsere Körper.

Eisiges Prickeln lief mir über die Haut, die Luft schien dünner zu werden.

Ich ging schneller, um ihnen zu entkommen. Obwohl ich meinen Wahrnehmungen kaum noch traute, fühlte ich mich gejagt, verfolgt. Harlan und meinen Roboter hatte ich vergessen.

Plötzlich stand ich davor: eine tiefblaue, von Blitzen durchfurchte Fläche. Ich erfasste auf mir unerklärliche Weise gewaltige Energien dahinter. Bis in die Fingerspitzen spürte ich ihr Pulsieren und konnte mich kaum auf den Beinen halten.

Meinen Roboter fand ich nicht weit von mir. Er trat in die Wand ein und leuchtete in einem weichen goldenen Licht. Noch ein Schritt, und er war verschwunden. Harlan umfasste mein Handgelenk und zog mich hinter sich her.

Wir drangen ein.

Farben explodierten, trieben über uns hinweg und durchdrangen unsere Körper.

»Ich höre den Sturm nicht mehr«, rief ich Harlan zu. »Es ist so still!«

»Ja«, antwortete er. »Wir sind jetzt in IHM.«

Die Farben beruhigten sich wieder, die Landschaft war in vielfarbiges Licht getaucht. Am Horizont stand eine hell strahlende Säule, die den Himmel durchbrach. Wir erreichten den Roboter, der regungslos im Sand stand.

»Hier müssen Sie alleine weiter«, tönte seine Stimme. »Jede Technik versagt ab diesem Punkt. Ich warte solange auf Ihre Rückkehr.«

Ich dachte an mein nun überflüssiges Aufnahmegerät und fluchte in mich hinein. Aber warum nicht auch das! Ich suchte nach Harlan und bemerkte, dass er schon vorausgeeilt war.

»Bis dann«, rief ich dem Roboter überflüssigerweise zu und beeilte mich, Harlan einzuholen.

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