Vom Geist Europas

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Vom Geist Europas
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Gerd-Klaus Kaltenbrunner

VOM GEIST
EUROPAS

URSPRÜNGE UND PORTRÄTS

Band II

herausgegeben

von

Magdalena S. Gmehling


Umschlaggestaltung: Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at

Umschlagabb. Vorderseite: Castel del Monte, Apulien

(Berthold Werner / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0; bearbeitet)

Wir haben uns bemüht, bei den hier verwendeten Bildern die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Falls es dessen ungeachtet Bildrechte geben sollte, die wir nicht recherchieren konnten, bitten wir um Nachricht an den Verlag. Berechtigte Ansprüche werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Textnachweis: Es handelt sich bei den in diesem Buch abgedruckten Texten um ausgewählte und originalgetreu abgedruckte Essays aus Gerd-Klaus Kaltenbrunners dreibändigem Sammelwerk „Vom Geist Europas“ (Asendorf 1987, 1989, 1992). Beigegeben wurde Kaltenbrunners Porträt Jakob Böhmes aus dem ersten Band der vorangegangenen Trilogie „Europa. Seine geistigen Quellen in Porträts aus zwei Jahrtausenden“ (Heroldsberg bei Nürnberg 1981).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter https://www.dnb.de abrufbar.

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ISBN 978-3-99081-010-1

eISBN 978-3-99081-056-9

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Ares Verlag, Graz 2019

Layout: Werbeagentur Rypka GmbH, 8143 Dobl/Graz, www.rypka.at

Inhalt

Pythagoras

Himmelsmusik und Harmonie der Seelen. Idee und Wirkung eines Ordens

Sokrates

Das schöne Wagnis, den Tod vom Leben her zu verstehen

Cicero

Staatsmann, Humanist und Repräsentant altrömischer Religiosität

Vergil

Dichter des Ausharrens unter den Tränen der Dinge

Ovid

„Sogar Götter entstehn durch Gedichte …“

Apollonios von Tyana

Weisheitslehrer und Wundertäter in Wendezeit

Boethius

Der eingekerkerte Staatsmann im Zwiegespräch mit Frau Philosophie

Schota Rustaweli

Um Georgien die Ehre zu geben

Ramon Llull

Troubadour Gottes aus Mallorca und Pionier christlich-islamischer Bewegung

Meister Eckhart

Lehrer der Gelassenheit und der Entgötzung Gottes

Himmelstürmende erdverbundene Mystik Spaniens

„Man hat keinen Grund, Schwäche zu zeigen …“

Jakob Böhme

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen

Barockes Welt-Buch „Der abenteuerliche Simplicissimus“

Emanuel Swedenborg

Ein Naturforscher, der mit Engeln diskutierte

Edmund Burke

„Ein revolutionäres Buch gegen die Revolution“

Edward Gibbon

Weltgeschichte Europas zwischen Ruinen oder Wann ist Rom wirklich untergegangen?

Friedrich W. J. Schelling

Klassiker romantischer Philosophie

Clemens Brentano

Drei Begegnungen

Justinus Kerner

Geisterseher, Melancholiker und Humorist aus Schwaben

Carl Gustav Carus

Seelenforscher und Ökologe in der Nachfolge Goethes

Jean-Henri Fabre

Der Homer der Insekten

Eduard von Hartmann

Der Philosoph des Unbewußten

Alfred North Whitehead

Mathematiker, Homo religiosus und Entzifferer des Weltprozesses

Miguel de Unamuno

Baskischer Denker der Hispanität im Zeichen Don Quijotes

Pavel Florenskij

Ein russischer Leonardo da Vinci und Troubadour der Göttlichen Weisheit

René Guénon

Vermittler der Urtradition

Lucian Blaga

Seele Rumäniens und Vision des All-Lebens

Lettland als Raum der Poesie

„Was ewig ist, kann schweigen …“

Pythagoras
Himmelsmusik und Harmonie der Seelen Idee und Wirkung eines Ordens

Wetteifer aller Ichs, den Gedanken zu finden, der über der Menschheit stehen bleibt als ihr Stern.

Nietzsche

Am Ursprung der griechischen — und damit der europäischen — Philosophie stehen keine Universitäten, Kongresse und Seminare, sondern Tempelweistümer, Theophanien und mystische Bruderschaften. Thales, dem die Ansicht zugeschrieben wird, daß der Urgrund der Dinge im Wasser bestehe, hat auch gesagt, „daß alles von Göttern voll” sei. Heraklit war der Sohn eines Hohenpriesters, dem das Vorrecht zustand, sich mit königlichem Purpur kleiden zu dürfen. Seine Schrift über das Wesen der Welt hinterlegte Heraklit im Tempel der Göttin Diana zu Ephesos. Empedokles wirkte als von den orphischen Mysterien beeinflußter Sühnepriester und Seelenwanderungsprophet. Parmenides aus Elea (heute Castellamare di Veglia) in Unteritalien schildert zu Beginn seines Lehrgedichts, wie er, von „Sonnenmädchen” geleitet, auf fliegendem Rossegespann aus der Welt des Dunkels in ein Lichtreich entrückt wurde, wo die ihn die Wahrheit lehrende Göttin wohnt. Pythagoras, von der Insel Samos stammend, ließ sich in ägyptische, babylonische, iranische und, wie sich von selbst versteht, auch in griechische Mysterien einweihen. Wie Buddha, Sokrates und Jesus keine Schriften hinterlassend, übereignete er seine Lehre treuhänderisch einem ordensähnlichen Geheimbund, dessen Zentrum die griechische Pflanzstadt Kroton an der östlichen Küste Süditaliens war. Von Pythagoras ließ sich vor allem auch Platon beeinflussen. Die platonische Akademie wie die meisten späteren Philosophenschulen der Antike waren mehr als bloße Wissensvermittlungsanstalten. Sie stellen fast durchweg kultische Verbände mit eigenen Altären, Opfern und Heiligtümern dar, um einen Gott, Heros oder vergöttlichten Meister gescharte Gemeinden mit esoterischer Disziplin, Liturgie und Kalendarium. Der Streit um den Kern der nur mündlich einer eingeweihten Elite von Adepten als Geheimwissen anvertrauten Lehre Platons bewegt noch immer die Philosophiehistoriker. Die grandiose Kosmologie, die Platon in seinem dialogischen Alterswerk „Timaios” entwirft, hat in unserm Jahrhundert fortgeschrittener Naturwissenschaft wieder die Bewunderung philosophierender Physiker erregt; die namhaftesten unter ihnen sind der Brite Alfred North Whitehead und der Deutsche Werner Heisenberg.

 

Den Hauptteil des erdachten oder, wie ich mit guten Gründen vermute, weitgehend auf einer wirklichen Unterredung beruhenden philosophischen Gesprächs bildet der Vortrag des als Gast in Athen weilenden Pythagoreers Timaios.

Er stammt aus der von Lokrern an der Ostküste Unteritaliens gegründeten Kolonie Lokroi (heute Locri), also aus „Großgriechenland”, Magna Graecia, der Megále Hellás. Es ist dies jenes Gebiet im Süden der Apenninenhalbinsel, das von Kyme (Cumae) bei Neapel und Poseidonia (Paestum) in Lukanien bis Tarent (Taranto), und von Tarent bis Rhegion (Reggio di Calabria) und Terina (San Eufemia) reicht und auch die Insel Sikelia (Sizilien) mit den Städten Akragas (Agrigent), Syrakusai (Siracusa), Katane (Catania), Tauromenion (Taormina) und Messene (Messina) umfaßt. Es war seit dem achten vorchristlichen Jahrhundert von Griechenland aus besiedelt und „kolonisiert” worden und wurde kulturgeschichtlich zum strategischen Brückenkopf hellenischen Geistes in Italien und damit zum Vermittler griechischer Mythologie, Kunst, Wissenschaft und Philosophie an die römische Welt.

In diesem jahrhundertelangen Prozeß kommt dem Pythagoreismus eine überragende Rolle zu. Ohne zu übertreiben, kann man sagen, daß am Ursprung italischer Philosophie und Naturforschung, einschließlich Mathematik und Medizin, der von Samos nach Kroton ausgewanderte Inselgrieche Pythagoras steht. Ihm folgen dann Xenophanes, Parmenides, Empedokles und eben auch der im gleichnamigen platonischen Dialog auftretende Philosoph Timaios, der den Athenern die pythagoreische Lehre vom Ursprung des Kosmos, von der Weltseele und Harmonie der Sphären vortrug. Es ist zwar heute üblich, diesen aus Lokroi stammenden Timaios für eine von Platon erfundene Figur zu halten, was ich für ungefähr ebenso sinnvoll und aufschlußreich halte wie die historisch-kritische Behauptung, daß der Sänger der Odyssee nicht Homer, der Verfasser des Johannesevangeliums nicht Johannes und der Schöpfer der Shakespeareschen Dramen nicht Shakespeare hieß. Meinetwegen mögen sie anders geheißen haben, was tut es schon zur Sache? Wenn es um Werke dieser Art geht, gilt ewig nicht die Nörgelei geistblinder Pedanten, sondern der mitternächtliche Jubel der liebeentzückten Julia:

Was ist ein Name? Was uns Rose heißt,

Wie es auch hieße, würde lieblich duften;

So Romeo, wenn er auch anders hieße,

Ihm bliebe doch der köstliche Gehalt,

Der einmal sein ist, auch ohne jenes Wort.

Mag nun der Überbringer pythagoreischer Kosmologie Timaios oder anders geheißen haben, was eine drittrangige Frage ist, so steht jedenfalls fest, daß der Platonismus neben dem sokratischen und morgenländischen Element auch einen mindestens ebenso schwerwiegenden Bestandteil von Pythagoreismus enthält. Dieses drittgenannte Ingrediens hat um so mehr Gewicht, als vieles, was man als den „Orientalismus” Platons bezeichnen kann, ihm über die Schule des Pythagoras zugekommen ist oder zumindest von Quellen abstammt, aus denen auch der Stammvater des Pythagoreismus geschöpft hat.

Sowenig an der geschichtlichen Wirklichkeit der Gestalt des Pythagoras zu zweifeln ist, so dürftig sind die im Sinne moderner Historiographie zuverlässigen Nachrichten über sein Leben und seine Philosophie. Das erklärt sich daraus, daß, wie schon gesagt, Pythagoras keine Schriften verfaßt hat oder daß zumindest keine von ihm bekannt geworden sind. Wir besitzen keine einzige Zeile von seiner Hand. Wenn er Bücher geschrieben hatte, dann mußten sie jedenfalls zu den bestgehüteten und nur wenigen Auserwählten zugänglichen Schätzen seines Geheimbundes gezählt haben. Was wir über ihn und seine Lehre mit Sicherheit wissen, geht auf einige Abtrünnige zurück, dann auf vereinzelte Anekdoten in den Fragmenten anderer Vorsokratiker und schließlich auf Herodot und Platon; hinzu kommen noch etliche stark wahrscheinliche, vielleicht aber auch von ihm nicht mehr recht verstandene Nachrichten bei Aristoteles. Jamblichos’ Buch über das Leben des Pythagoras ist erst ungefähr achthundert Jahre nach dem Tode des Philosophen verfaßt worden; sein Autor hat allerdings viele ältere Quellen ausgewertet. Der sogenannte Pythagoreische Lehrsatz, demzufolge bei einem rechtwinkeligen Dreieck der Flächeninhalt des Quadrates über der Hypotenuse c gleich der Summe der Flächeninhalte der Quadrate über den Katheten a und b ist (a 2 + b 2 = c 2), war schon vor ihm den Babyloniern bekannt; und zum Beweis für die Richtigkeit des Satzes fehlten Pythagoras die dafür notwendigen mathematischen Grundlagen.

Pythagoras war der Sohn des auf der Insel Samos ansässigen Goldschmiedes und Kaufherrn Mnesarchos. Ob er auf Samos oder in Tyros geboren wurde, wohin seine Mutter den Vater auf einer Geschäftsreise begleitet hatte, ist strittig. Als sein Geburtsjahr kann man 570 annehmen; manche Berechnungen lassen ihn früher (um 580), andere später (um 560) geboren sein. Doch sei dem wie immer, die jonische Insel Samos, auf der Pythagoras aufwuchs und — abgesehen von ausgedehnten Reisen nach Babylon und Ägypten — bis in seine reifen Mannesjahre blieb, zeichnete sich damals bereits durch eine hohe, teilweise schon sehr verfeinerte Kultur aus. Samier hatten an der Kolonisation in Perinthos, Amorgos und Naukratis teilgenommen, und bereits um 660 war Kolaios von Samos als erster Grieche bis zum Atlantischen Ozean vorgestoßen. Für den Wohlstand der Stadt zeugen der Ausbau des großen, von einer doppelten Säulenreihe umgebenen Tempels zu Ehren der Hera, die auf der Insel dreihundert Jahre lang in geheimer Ehe mit Zeus gelebt haben soll, die Stadtmauern, Hafenmolen und die berühmte Wasserleitung, die in einem etwa tausend Meter langen Tunnel durch den Stadtberg geführt war. Das Heraion auf Samos, das bedeutendste Heiligtum der Gemahlin des Göttervaters neben dem zu Olympia, galt als eines der sieben Weltwunder. Es besaß zahlreiche Nebenbauten, Altäre, Hallen, Badehäuser und Hunderte von kostbaren Weihegeschenken, darunter vor allem große Bronzekessel und Standbilder aus Marmor. An den Hof des reichen und luxusliebenden Tyrannen Polykrates, der von 538 (seit 532 allein) bis 522 regierte und, gestützt auf Söldner und eine starke Flotte, auch über viele Inseln und Küstenstädte Kleinasiens herrschte, kamen neben dem berühmten Arzt Demokedes die Dichter Anakreon und Ibykos.

In dieser Welt also wuchs der reiche Kaufmannssohn Pythagoras auf, der sich schon früh für religiöse und kosmogonische Fragen interessiert zu haben scheint. Er soll nämlich, so wird berichtet, sich mit achtzehn Jahren zunächst zu seinem Onkel auf die Insel Lesbos begeben haben, um dort die Unterweisung durch den von der kleinen Insel Syros stammenden Pherekydes zu genießen, der eine noch stark mythische Weltentstehungslehre darlegte, die mehr an die der Orphiker als die des Hesiod erinnert. Pherekydes hat als erster die Ansicht vertreten, daß die menschliche Seele unsterblich sei und immer wieder auf die Erde zurückkehre, um sich erneut zu verkörpern. (Cicero: Tusculanische Gespräche I 38). Diese Lehre, die damals nur in Indien ausdrücklich und systematisch formuliert war, wurde für Pythagoras von bestimmendem Einfluß. Zwei Jahre später besuchte Pythagoras in Milet auch den greisen Philosophen Thales. Auf dessen Rat hin, heißt es bei Jamblichos, sei er nach Sidon in Phönikien und dann weiter nach Ägypten gesegelt:

„In Sidon begegnete er den Nachkommen des Philosophen und Propheten Mochos und den übrigen phönikischen Hierophanten. Er ließ sich in alle Mysterien einweihen, die in Byblos, Tyros und in vielen Teilen Syriens in besonderer Weise begangen wurden.”

Bereits damals war Pythagoras mit einer ganzen Reihe von kultischen Geheimbünden in enge Verbindung getreten; ja es gelang ihm sogar, in sie als Myste aufgenommen zu werden. Doch die phönikisch-syrische Esoterik genügte ihm nicht. Sie erschien ihm bloß als Ableger viel älterer und ehrwürdigerer Geheimlehren und Mysterien, die von mächtigen Kollegien eifersüchtig bewahrt und nur wenigen Auserwählten nach langen Prüfungen zugänglich gemacht wurden: der ägyptischen Priesterweisheit, wie sie in Heliopolis, Memphis und Theben blühte. Jamblichos berichtet, zweiundzwanzig Jahre lang habe Pythagoras in engstem Umgang mit der ägyptischen Priesterschaft in Theben verbracht. Unter strengsten Bedingungen zu ihren Kulten zugelassen, sei er Stufe für Stufe in immer tiefere Geheimnisse eingeweiht worden. Als im Jahre 526 der Perserkönig Kambyses das Land der Pharaonen eroberte, wurde er, wenn wir Jamblichos glauben dürfen, mit Tausenden der angesehensten Ägypter, darunter auch zahlreichen Priestern, als Gefangener nach Babylon abgeführt. Doch kaum war er dort angekommen, gelang es dem mysteriendurstigen Griechen abermals, zu den nicht nur die Götterverehrung, sondern auch Mathematik, Musik und andere Wissenschaften pflegenden Priestern des fremden Landes Zugang zu finden. Er verkehrte dort, wie Jamblichos ausdrücklich sagt, mit den „Magiern, die an ihm dasselbe Wohlgefallen fanden wie er an ihnen.”

Diese „Magier”, mit denen er in Babylon verkehrte, bildeten eine Art Erbkaste von Priestern, vergleichbar den indischen Brahmanen und den israelitischen Leviten. Wenngleich ihre Beziehungen zur Religion Zarathustras noch immer nicht ganz geklärt sind, so steht jedenfalls fest, daß sie viele zarathustrische Riten und Gebräuche übernommen hatten und schließlich als Jünger des iranischen Propheten galten. Wie Herodot berichtet, deuteten sie Träume, prophezeiten durch Opferung weißer Rosse und sangen während der gottesdienstlichen Feiern religiöse Hymnen. Das Christentum lehnt zwar die Magie als heidnische Zauberei oder sogar als Teufelsblendwerk ab, doch im Evangelium nach Matthäus (2, 1-12) huldigen gottesfürchtige und sternkundige „Magier” (Magoi) dem vor kurzem geborenen Jesusknaben. Die im deutschen Raum meist „Heilige drei Könige” oder auch „Weise aus dem Morgenlande” genannten Besucher aus dem Osten waren Nachkommen jener Magier, von denen Pythagoras mehr als ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt Unterricht und Einweihung erhalten hatte. Trotz der stark legendenhaften Züge des Besuchs der Magier in Bethlehem, wo über dem Hause, in dem sich Maria mit dem Kinde befand, der Stern aus dem Osten stehenblieb, ist es nicht unwahrscheinlich, daß um die Zeitenwende auch die persische Priesterkaste der Magier davon gehört hatte, wie sehnsüchtig im Judentum ein Messiaskönig erwartet wurde. Es ist sogar möglich, daß sie ihn mit dem zarathustrischen Helfer (sausbyant) im Kampf zwischen Licht und Finsternis gleichsetzten und deshalb einige ihrer Mitglieder in die Fremde aufbrachen, um diesem Heilbringer zu begegnen.

Doch wie immer es um den geschichtlichen Kern des Evangelienberichts bestellt sein mag, sicher ist zumindest eines: die volkstümlichen „Heiligen drei Könige”, die seit dem neunten Jahrhundert die Namen Kaspar, Melchior und Balthasar tragen, waren „Magier”, also Träger uralten Geheimwissens und Abkömmlinge jener sternkundigen Priesterkaste, die den aus Ägypten nach Persien verschleppten Griechen Pythagoras zwölf Jahre lang unterwiesen hatte. In den romanischen Sprachen ist, anders als im Deutschen, die Erinnerung an ihr Magiertum deutlich aufbewahrt. Im Italienischen heißen sie Re Maghi, im Französischen Rois Mages, im Spanischen Reyes Magos. Magier gehörten neben Engeln, Hirten und Tieren zu den allerersten Verehrern des neugeborenen Christusknaben.

 

Pythagoras hat also weite Reisen unternommen und in Phönikien, insbesondere aber in Ägypten und Babylon (das seit 539 zum Persischen Reich gehörte), mit religiösen Geheimbünden, Kultgemeinden und Priesterkasten intensive Beziehungen unterhalten. Mögen auch die Zeitangaben bei Jamblichos — 22 Jahre in Ägypten und 12 Jahre in Babylon — unglaubwürdig sein, so sind die Aufenthalte des Samiers in den beiden Ländern bereits durch Nachrichten aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert gut bezeugt. Der Redner Isokrates erwähnt die Ägyptenfahrt des Pythagoras; und der Pythagoreer Aristoxenos, der sich später Aristoteles anschloß, berichtet, daß Pythagoras mit Zaratos, das heißt Zarathustra (Zoroastres) zusammengekommen ist (vgl. B. L. van der Waerden: Die Pythagoreer. Religiöse Bruderschaft und Schule der Wissenschaft. Zürich 1979). Herodot (Historien, II 123; IV 95) erwähnt, daß „einige Griechen” die altägyptischen Lehren vom Schicksal der Seele nach dem Tode übernommen hätten; daß er damit auch Pythagoras meint, kann aufgrund anderer Stellen seines eigenen Werkes (vgl. II 81) nicht bezweifelt werden.

Was aber hat Pythagoras in Ägypten und Babylon an Lehren und Kenntnissen empfangen? Jamblichos erwähnt Astronomie, Geometrie, Zahlenlehre und Musik, somit die vier typischen Wissenschaften der Pythagoreer. Doch mehr als die Unterweisung in Mathematik und Sternkunde, in welchen Disziplinen die Babylonier damals bereits weit fortgeschritten waren, betont Jamblichos das religiöse und mystagogische Element in den Studien des Meisters aus Samos. Er sagt, Pythagoras wurde in Ägypten „in alle Mysterien und Geheimkulte eingeweiht”; er genoß die „Sympathie der Priester und Propheten”; er durfte „in den allerheiligsten Gemächern” der Tempel weilen; er wurde von den Magiern genau unterrichtet „in allem, was heilig war”.

Dies sind aufschlußreiche Auskünfte, die zu der Vermutung berechtigen, daß sich Pythagoras — weit mehr als für naturwissenschaftliche Fragen — für die überlieferten Geheimlehren und das „heilige Wissen” priesterlicher Kasten und ähnlicher Kultverbände interessierte. Hier fand er so vieles, was schließlich in seine eigenen Lehren und in die Ordnung seines Bundes einging.

Zurückgekehrt nach Samos, wo der einst für so glücklich gepriesene Polykrates durch die Perser gestürzt und ans Kreuz geschlagen worden war (522 vor Christus), fühlte sich Pythagoras unter den völlig veränderten öffentlichen Verhältnissen seiner nunmehr unter iranischer Oberhoheit stehenden Inselheimat nicht mehr wohl. Wahrscheinlich litt er auch darunter, daß er mit seinen im Orient gewonnenen Lehren zu Hause nur wenig Anklang fand, als er, wie Jamblichos sagt, versuchte, „seine Unterweisung auf symbolischem Weg zu vollbringen, ganz wie er selbst in Ägypten ausgebildet worden war.” So verließ denn Pythagoras um 510 — nach anderen Berichten, darunter auch dem von Cicero (De re publica 2, 28), allerdings schon um 530, also noch unter dem Tyrannen Polykrates — wieder und diesmal endgültig sein Vaterland und fuhr über Kreta und Griechenland, wo er neben anderen Orten auch das Apollonheiligtum zu Delphi und Sparta besuchte, nach Unteritalien, wo es eine Reihe blühender Griechenstädte gab. Pythagoras war damals also entweder schon fast sechzig oder erst etwa vierzig Jahre alt, als er in der achaiischen Kolonie Kroton landete und sich dort niederließ. Kroton, das mächtigste Gemeinwesen der Magna Graecia, wurde zur Schicksalsstadt des ausgewanderten Inselgriechen. Erst hier fand er völlig den ihm wesensgemäßen Weg. Hier gelangte er dazu, all das, was er auf seinen Reisen an Lehren empfangen hatte, geistig wie politisch fruchtbar zu machen und selber vom Adepten morgenländischer Priesterweisheit zum Stifter eines eigenen staatsübergreifenden religiös-ethischen Ordens zu werden.

Als Pythagoras in Großgriechenland ankam, befanden sich zahlreiche der süditalischen Griechenstädte miteinander in Kriegszustand. Um 540 hatten die Stadtstaaten Kroton, Sybaris und Metapontion als Verbündete die kleine Stadt Siris besiegt und völlig zerstört. Anschließend griff Kroton die mit Siris verbündet gewesene Stadt Lokri an. Trotz der militärischen Übermacht der Krotoniaten gewannen die Lokrer die Schlacht. Die Niedergeschlagenheit der Besiegten war allgemein; man führte den Mißerfolg des Kriegszuges auf Zuchtlosigkeit, Verweichlichung und schlechte Führung zurück.

In dieser Situation ging Pythagoras in Süditalien an Land. Nach einem kurzen Aufenthalt in Sybaris am Golf von Tarent ließ er sich in dem südlicher gelegenen Kroton nieder. Er hielt dort, wie Jamblichos berichtet, vier große Reden, mit denen er sich zuerst an die jungen Männer, dann an den Senat, schließlich an die Knaben und zuletzt an die Frauen der Stadt wandte.

Die jungen Männer ermahnte er zur Ehrfurcht vor dem Alter, indem er darlegte, daß auch im „Kosmos” dem Früheren höherer Rang zukomme als dem Späteren. Kosmos bedeutete damals allgemein „Schmuck”, „Ordnung”. Pythagoras scheint der erste Grieche gewesen zu sein, der mit diesem Wort das Weltall bezeichnete: das Universum als eine harmonie-erfüllte Ordnung, als ein von göttlicher Schönheit strahlendes Schmuckstück oder Juwel. Es ist bemerkenswert, daß er bereits in seiner allerersten Rede auf italischem Boden nicht nur das Weltall einen Kosmos nannte, sondern auch seine ethischen Gebote mit einer kosmologischen Begründung versah, indem er Sittlichkeit sozusagen als angewandte Astronomie lehrte: so wie im Kosmos das Frühere höher geehrt werde als das Nachfolgende, so wie der Aufgang würdevoller sei als der Untergang, die Morgenröte höher als der Abend, der Ursprung heiliger als das Ende, so sollen auch die später Geborenen zu den früher Geborenen ehrerbietig sein. Pythagoreismus ist, halten wir dies schon jetzt fest, eine das Weltall bedenkende und als normatives Vorbild menschlicher Wohlordnung anerkennende Philosophie oder „Kosmosophie”. Auch ein zweiter allgemeinpythagoreischer Grundgedanke klingt in der ersten Rede, die der Samiote im Gymnasion von Kroton hielt, schon rätselhaft an:

„Ihr schuldet den Eltern so großen Dank, wie ein Verstorbener dem abstatten möchte, der ihn ins Leben zurückbringen könnte.”

Der geheimnisvolle, wie raunend gesagte Ausspruch wird nur dann verständlich, wenn wir ihn als eine Anspielung auf die Seelenwanderungslehre der Pythagoreer auffassen: alle, die jetzt leben, waren schon einmal gestorben und sind insofern durch ihre Eltern wieder mit dem Leben versehen worden.

Daß Pythagoras jedoch nicht bloß als einzig der ekstatischen Schau des Kosmos und der Meditation des vor- und nachgeburtlichen Seelenschicksals lebender Esoteriker spricht, sondern von allem Anfang an die Statur eines Politikers, ja Staatsmannes aufweist, zeigt ein Satz aus der Rede an die Jünglinge, der gewiß über die privaten Beziehungen hinaus auch auf die öffentlichen Verhältnisse der Stadt zielte:

„Begegnet einander im wechselseitigen Verkehr am besten so, daß ihr den Freunden nicht zu Feinden und den Feinden so schnell wie möglich zu Freunden werdet.”

Dies war die erste Rede des Pythagoras in Kroton. Sie hatte die jungen Männer so stark beeindruckt, daß sie ihren Vätern davon begeistert erzählten. Daraufhin lud der „Rat der Tausend” — der Senat — den fremden „Weisheitsfreund“, wie er sich selbst im Gegensatz zu den „Sieben Weisen” der älteren Zeit nannte, ins Rathaus zu einer weiteren Ansprache ein. Pythagoras folgte der Einladung, den führenden Männern des Staates nützliche Ratschläge zu unterbreiten. Jamblichos berichtet darüber:

„Er riet ihnen zunächst, einen Musentempel zu errichten, um die Eintracht unter ihnen zu erhalten. Denn diese Göttinnen haben allesamt denselben Namen, man kennt sie in der Überlieferung nur als Gemeinschaft, sie freuen sich am meisten über gemeinsame Ehrungen, und überhaupt ist der Chor der Musen immer ein und derselbe. Außerdem umfaßt er Einklang, Harmonie, rhythmische Ordnung und alles, was Eintracht schafft. Auch erstreckt sich die Macht der Musen nicht nur auf die schönsten Gegenstände der Betrachtung, sondern auch auf die Symphonie und Harmonie des Seienden.”

Wieder ein Rätselwort, das den Kosmosophen Pythagoras verrät, der vom musisch-musikalischen Zusammenklang des Weltalls überzeugt ist: eine Anspielung auf die berühmt gewordene, durch die gesamte europäische Geistes- und Seelengeschichte fruchtbar nachwirkende, noch in den Werken Giordano Brunos, Johannes Keplers, Gottfried Wilhelm Leibniz’, Goethes, Hölderlins und Gustav Theodor Fechners widerhallende Lehre von der Harmonie des Kosmos und der Musik der Sphären, die nur begnadeten Eingeweihten vernehmlich ist. Dieser Gedanke wird bereits von Aristoteles dem Pythagoras zugeschrieben.

In seiner Rede vor dem Senat erläutert der aus der Ferne gekommene Philosoph seine Idee von der „Symphonie und Harmonie des Seienden” nicht näher. Ihre in alle Einzelheiten gehende Darlegung behielt er einem Kreis von ihm ergebenen Esoterikern vor. Sie war geistiges Krongut seines geheimen Bundes. Er erörtert desgleichen auch mit keinem Wort die mathematischen Beweise für diese Lehre von der Harmonie der Sphären, die im Denken der Pythagoreer eine so bedeutende Rolle spielte. Pythagoras begnügt sich mit einem allgemeinen Hinweis auf den kosmischen Ursprung jeglicher Ordnung und Harmonie, die, wie er ausdrücklich sagt, durch den Chor der Musen gestiftet und verbürgt werden. Ihnen sollen deshalb auch die Bürger einen Tempel weihen. Politik wird von Pythagoras im Kult der Musen begründet. Er rät den Krotoniaten, „einen Musentempel zu errichten, um die Eintracht zu erhalten”, denn der Chor der Musen, wie er hinzufügt, umfaßt „Einklang, Harmonie, rhythmische Ordnung und alles, was Eintracht schafft.” Der Oberhoheit der Musen unterliegen nicht nur „die schönsten Gegenstände der Betrachtung”, etwa die vom Geist des Dichters oder Philosophen geschauten und zur Sprache gebrachten Dinge, sondern auch „die Symphonie und Harmonie des Seienden”. Diese Worte des Pythagoras spielen deutlich auf seine in höchstem Maße „musische” Kosmologie an. So wie die irdische Musik eine Nachahmung der himmlischen Sphärenharmonie ist, so soll die Politik der Menschen nach den Gesetzen des von den Musen vollendeten Kosmos sich ausrichten.

Politik ist bei Pythagoras kosmisch fundiert. Der Kult der die Harmonie des Weltalls zum Tönen bringenden Zeus-Töchter soll auch der Polis, der Stadt als menschlichem Mikrokosmos, zur Eintracht verhelfen. Der Kosmos als wohlgeordnetes Gebilde erscheint als Urbild wohlgeordneter Staatlichkeit, und die mimetische Übereinstimmung beider Bereiche wird durch die Musen gewährleistet. In diesem Sinne steht Pythagoras, der auch eine Art von Musagetes ist, als mit Orpheus verwandte Gestalt vor uns. Orpheus, für alle Zeiten die Symbolfigur der friedenstiftenden Macht des Gesanges, war Sohn einer Muse; als seine Mutter wird Kalliope genannt, die vornehmste der neun Musen (Hesiod: Theogonie 79), als sein Vater Apollon. Wie Pindar (Pythische Oden 1,10) von den Musen sagt, ihre Macht sei so groß, daß bei ihrem Ertönen sogar der gewaltsame Kriegsgott Ares die Waffen fallen läßt, um in friedlichen Schlummer zu versinken, so wird von Orpheus berichtet, daß sein Lied die Zwietracht der Menschen wie die Wildheit der Tiere besänftigt habe und seinen bezwingenden Melodien selbst Bäume, Flüsse und Felsen sich einträchtig fügten. Der mythische Orpheus ist gleichsam die männlich-irdische Entsprechung der den Kosmos rühmenden, ihn erst recht eigentlich „kosmisierenden” Musen. Der geschichtliche Pythagoras hingegen erscheint uns als ein politischer Orpheus, als Musaget staatlich-bürgerlicher Harmonie, der das Wort Pindars ernst nahm: „Blind sind der Menschen Gedanken, wenn einer ohne die Musen mit Verstandeskünsten allein den Weg sucht.”