Des Rates Schreiber - Chemnitzer Annalen

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Magdalenas Sorge um die Töchter wird trotz des energischen Auftretens des Kräuterweibs nicht geringer. Sie befürchtet, dass die Mädchen von den Neuigkeiten überfordert sind. Immer waren sie als Bürger der Stadt groß geworden und nun sollten sie plötzlich nur noch zum Teil dazugehören? Werden sie weiterhin unbeschwert mit ihren Freundinnen spielen können? Tränen der Unsicherheit füllen ihre Augen. Ob ihre Mutter vor vielen Jahren vor dem gleichen Problem stand?

Plötzlich fühlt sie sich an den Schultern umfasst und Ruprechts Gesicht füllt ihren Blickwinkel aus. „Keine Sorge“, er drückt sie fest an seine Brust, „die Mutter Mechthild ist im Recht. Du kannst die zwei nicht länger schonen. Aber wir sind alle da, sie zu beschützen: der Vater, Paule und auch ich. Und so gefährlich ist die Sache nun auch wieder nicht. Weder die Mutter Mechthild noch du selbst wurden jemals angegriffen oder gar ins Unglück gestürzt. Ganz im Gegenteil, ihr beide werdet von den Leuten hoch geachtet.“

„Ist gut, Großer. Wo ist die Muhme hin?“

Ruprecht lacht leise. „Du musst ja weit weg gewesen sein, gegangen ist sie. Also eine Hexe kannst du wahrlich nicht sein, sonst wäre dir das nicht entgangen.“

„Treibe nur keinen Spott damit, es könnte schnell zum bitteren Ernst werden, wenn es fremde Ohren erlauschen“, mahnt ihn die Mutter eingedenk der kurz zuvor von ihm selbst erhobenen Warnung. „Und nun geh schön brav durch die Stadt, wie es dein Vater geheißen hat, damit du schnell gesund wirst. Vielleicht triffst du auf unseren Herrn Bürgermeister und lässt dich gleich zum Stadtschreiber machen?“ Sie schiebt ihren Ältesten aus dem Garten und wendet sich dem Haus zu. Eine Kontrolle der Mädchen wäre sicher angebracht. Der Anstrich der Stühle erfordert viel Geschick, soll er dem Anspruch des Tischlermeisters entsprechen.

Ruprecht betritt indes die Gasse und wendet sich gen Westen. Die Morgensonne wärmt ihm gehörig den Rücken und gemahnt ihn, den Nacken vor den brennenden Strahlen zu schützen. Da ihn die Pflicht heute nicht zur Eile treibt, geht er gemächlichen Schrittes und besieht sich die Grundstücke entlang des Weges. Es ist nicht zu übersehen, dass die Stadt gerade einen Umbruch erlebt. Hinter der Bach sind die Anwesen von Zäunen begrenzt und die Häuser ducken sich mit ihren schlichten Wänden aus grobem Holz unter den Grassoden der buckligen Dächer. Die Nordseite der Gasse ist nur hin und wieder mit Häusern besetzt, was vor allem auf die drei großen Stadtbrände von vor über siebzig Jahren zurückzuführen ist, die seinerzeit die Stadt fast vollständig verwüsteten. Vorn, ab dem Wirtshaus und der Quergasse „Uff der Bach“ verkünden massive Steinhäuser von neuen Besitzern und wachsendem Wohlstand. Hier hätte es ein Feuer deutlich schwerer, das Hab und Gut der Besitzer aufzuzehren.

Gerade hier will sich Ruprecht umschauen, ob sich seine Vorbehalte gegen die neureichen Händler nicht bestätigen und so führt ihn sein Schritt in Richtung Nikolaitor. Die Häuser sind bis an die Gasse herangebaut und reihen sich ohne Zwischenraum aneinander, so dass der Blick in die dahinterliegenden Gärten verwehrt bleibt. Einige Händler haben die Fassaden mit Hofeinfahrten durchbrochen, welche die Aussicht auf die gepflasterten Innenhöfe und die Hinterhäuser ermöglichen. Die bedauernswerten Bewohner dieser Häuser müssen sich offensichtlich mit nur vereinzeltem Grün zufriedengeben, das sich nur mit Mühe gegen das Grau und Braun der Steine durchsetzt. Ruprecht wird klar, dass dies der Tribut ist, den die Händler zu leisten haben, um ihre Warenlager in angemessener Größe zu errichten.

„Gibt es in Preschers Tischlerei nichts zu tun, dass der Herr Sohn am helllichten Tage träumend durch die Stadt schlendert und Maulaffen feilhält?“ Hans von Pirne aus dem Chemnitzer Gässchen ist ihm unbemerkt in den Weg getreten, so dass Ruprecht den alten Leinenhändler um ein Haar angerempelt hätte.

„Entschuldigt nur, Meister Hans, ich war etwas in Gedanken.“

Der Alte blickt ihm prüfend ins Gesicht und zieht sehr bedeutungsschwanger die Brauen in die runzlige Stirn. „Das habe ich gesehen, mein Junge. Und sehr lustig waren die Gedanken eher nicht, wie?“

„Ach was, ich habe nur überlegt, wie arm die Fernkaufleute dran sind, dass sie für ihre Warenlager jedes Grün im Hofe opfern müssen. Wie gut wir es haben, einen Garten hinter dem Haus unser Eigen zu nennen.“ Ruprecht weist auf das offene Tor neben sich und der Leinenhändler stimmt ihm zu. „Das mag richtig sein, aber man kann im Leben nicht alles haben. Vor der Stadt, in der Niklasgasse, da kann man sich neben den Lagerhäusern einen Garten zur Erbauung leisten. In der Stadt ist ein solcher Luxus viel zu teuer. Dafür ist man hinter der Stadtbefestigung aber viel besser geschützt. Nun frage mich, was ein Händler vorzieht. Was meinst du, warum ich im Chemnitzer Gässchen mein Geschäft aufgeschlagen habe und nicht weiterhin in der Johannisvorstadt sitze?“

„Ich dachte, weil das Geschäft nicht mehr so gut läuft und Ihr Euch zur Ruhe setzen wollt, weil Ihr zu alt seid?“

„Damit kannst du ihm doch nicht kommen, Tischlergesell’! Der Hans meint, noch jung zu sein, auch wenn bei jeder Bewegung die Gelenke knacken, als müssten sie gleich bersten. Im Übrigen laufen seine Geschäfte so gut wie eh und je.“ Schmunzelnd tritt der Mathis Arnold an die zwei heran. Er ist in Ruprechts Alter, hat aber schon Weib und Kind. Als Hufschmied verfügt er an der Westseite des Rossmarktes über einen nur allzu günstigen Standort für sein Geschäft. Wenngleich recht jung an Jahren, hat er als Meister in seinem Handwerk einen guten Ruf und wie es heißt, soll er demnächst gar als der jüngste Ratsherr seit Menschengedenken ein gewichtiges Wörtchen in der Stadt mitreden. Trotzdem ist er als umgänglicher Mensch allgemein sehr beliebt und keine Hoffart ist ihm nachzusagen.

„Verzeiht, wenn ich mich einmische, während ihr vertraut plaudert. Aber ich hörte, dass der Herr von Pirne alt genannt wurde, was ja wohl überhaupt nicht sein kann. Derer von Pirne sind immer in den besten Jahren, auch wenn sie mit schlohweißen Haaren nicht mehr die Treppe herabkommen, so wie seinerzeit der Vogt im Hohen Turm.“

Jedem anderen hätte der Alte die Lästerei wohl verübelt, nicht aber dem jungen Schmiedemeister. „Lass mir meine Ahnen in Ruhe, du Lästermaul. Wenn der Vogt damals hätte die Treppe hinuntergekonnt, er hätte deinem Ahnen fürderhin das Schmieden verboten, denn der hat sicher des Teufels Fuß beschlagen.“

Die beiden Männer lachen lauthals über ihren Scherz, während Ruprecht still den Disput der zwei verfolgt. So sieht also Erfolg aus: der Alte hat einen guten Handel betrieben, der eine große Familie zu ernähren vermochte, während der Junge nach denkbar kurzer Gesellenzeit schon den Meisterbrief erwarb und den Betrieb des Vaters übernahm. Was aber hat er selbst vorzuweisen? Der Vater übergibt die Tischlerei an den Zweitgeborenen, weil er selbst als der eigentliche Erbe nicht für das Handwerk taugt! Wofür ist er überhaupt gut auf dieser Welt?

„Hier sind wir, Ruprecht, hier! Nimmst du uns überhaupt wahr oder träumst du derweil von lockeren Jungfern?!“ Erschrocken blickt Ruprecht auf seinen Freund Mathis, der ihn am Ärmel zupft. „Bist du jetzt wieder da? Was lässt dich denn ringsum die Welt vergessen?“

Verlegen wischt sich Ruprecht die Nase. „Was ist es verwunderlich, dass die Gedanken abschweifen. Als Handwerksmeister komme ich nicht in Frage, denn ich scheine das Missgeschick gepachtet zu haben. Was auch immer ich beginne, es endet für mich in einer Katastrophe. Gestern habe ich mich fast mit einem Stemmeisen erstochen! Jetzt will mein Vater die Tischlerei an den Paul übergeben und ich soll Stadtschreiber werden.“

Überrascht blickt Hans von Pirne auf. „Nanu, Ruprecht, woher weiß dein Vater, dass wir einen neuen Stadtschreiber suchen wollen? Wir sind uns im Rat noch gar nicht einig darüber geworden. Da muss einer von den Ratsherren geschwätzt haben!“

„Was weiß ich, ob da einer geschwätzt hat. Aber mein künftiger Herr Schwiegervater will mich gern auf dieser Stelle sehen und da muss er mir gegenüber etwas verlauten lassen, nicht wahr?“

„Da magst du recht haben. Wessen Tochter willst du zum Weib nehmen?“

Ruprecht zuckt mit den Schultern. „So fragt man Leute aus. Ihr werdet es schon rechtzeitig merken. Wichtiger scheint mir, dass Ihr als Ratsherr meine Bewerbung unterstützt. Ich glaube, ich kann dabei jede Unterstützung gebrauchen.“

Der Schmied schlägt dem verhinderten Tischler betont sachte auf die Schulter. „Also eines muss ich sagen: Dein Vater hat unbedingt recht. Du wirst nie ein guter Meister sein können. Bei jedem Stück, welches du anfängst, brauchst du einen Medikus, der dich wieder zusammenflickt. Hast du überhaupt schon ein Möbelstück fertiggestellt, wo nicht dein Blut dran klebt?“

Wütend will Ruprecht das Weite suchen, denn das Gesagte ist ein wenig arg übertrieben. Mathis jedoch hält ihn zurück. „Sei nicht gleich beleidigt, ich habe nicht gesagt, dass du Schund herstellst. Das wäre gelogen. Und dass du dich oft verletzt, ist nicht zu leugnen. Aber Schreiben und Rechnen kannst du viel besser als jeder andere in der Stadt, weswegen es nur recht und billig ist, dich zum Schreiber zu machen. Wie mir zu Ohren kam, versuchst du dich sogar beim Herrn Pfarrer im Latein. Herr von Pirne, Ihr solltet unbedingt für den Ruprecht Prescher im Rat eintreten. Vielleicht wäre das erholsam für das Stadtsäckel, wenn Ruprechts Gewissenhaftigkeit und die Steuerrechnung aufeinanderträfen?“

Der alte Leinenhändler blickt pfiffig auf die beiden Freunde. „Geschickt stellt ihr beiden es an, andere für eure Ziele einzuspannen. War das von vornherein so geplant oder hat sich dieses Geplänkel tatsächlich so ergeben? Aber wie dem auch sei, die Idee scheint mir von Vorteil für die Stadt und ich werde sie sofort dem Herrn Bürgermeister vortragen, zumal ich ohnehin auf dem Weg zu ihm bin. Gänzlich ungeeignet erscheint mir der Prescher-Junge nicht. Mit Worten weiß er umzugehen und als Schreiber hat er das Interesse der Stadt in fremden Mauern zu vertreten. Ich will es also vortragen, nur versprechen will und kann ich nichts.“

 

Überschwänglich ist Ruprecht versucht, dem Alten zu danken, doch der winkt energisch ab und wendet sich betont eilig der Gasse „Im kleinen Sessel“ zu, die ihn zum Holzmarkt führt und dann weiter zum Markt mit dem Rathaus.

Mathis schmunzelt seinen Freund an. „So haben sich dein Vater und dein künftiger Schwiegervater den Werdegang vermutlich nicht vorgestellt. Nun ist denen gewissermaßen das Zepter des Handelns aus der Hand genommen. Der Hans von Pirne ist der verkörperte Tatendrang. Oh, die langen Gesichter der beiden hätte ich gern gesehen.“

Ruprecht knufft ihn in die Seite. „Als Schmied bist du gut, als Hufschmied noch besser, aber am besten verstehst du dich offenbar auf das Ränkeschmieden. Wenn ich nun lieber im Kontor des Kupferschmiedehammers vor der Stadt arbeiten würde?“

„Erzähle doch nichts! Schon auf dem Weg dahin würdest du dir in der Klostergasse das Bein brechen, so ein Pechvogel wie du einer bist. Genug davon, komm mit zu mir in meine Schmiede. Ich bin gerade beim Umbau und könnte dein kluges Köpfchen gebrauchen. Außerdem wartet dort ein Krug kühlen Bieres auf uns, den du sicher nicht verschmähen wirst.“

Die Glocke von Sankt Jacobi dröhnt vom Markt herüber und der Klang sagt den Leuten in der Gasse, die da „Im Sessel nach dem Rossmarkt“ genannt wird, dass die Mittagsstunde gekommen ist. Eilig verabschiedet sich Ruprecht vom Hufschmied und bedankt sich artig bei dessen Weib für das Bier. Schnellen Schrittes quert er den Rossmarkt und nimmt bei Jocuff Hillebrands Anwesen den Durchgang zur Langgasse, die direkt zum elterlichen Haus führt.

Schon von Weitem gewahrt er den Auflauf im hinteren Teil der Häuserreihe. Die Nachbarn haben sich vor dem Prescherchen Anwesen eingefunden und bemerken in ihrer eifrigen Debatte nicht, dass er sich nähert. Verwunderung klingt aus ihren Worten, wenn nicht vielleicht Unverständnis.

„Darf ich bitte vorbei?“ Fast bleibt Ruprechts Wunsch ungehört, da wird die Roselerin seiner gewahr. Gleich einer Fanfare tönt ihre Stimme über die Vielzahl eifriger Wortmeldungen der Anwohnerinnen und natürlich auch einiger Männer aus der Nachbarschaft, deren Inhalt und Sinn sich Ruprecht nicht erschließen.

„Da ist er ja endlich, der Ruprecht! Junge, was hast du angestellt? Schon zweimal war der Bote vom Rat hier, um dich zum Bürgermeister zu holen! Zweimal! Es scheint also wirklich von Wichtigkeit zu sein und ausgerechnet da bist du nicht zu Hause! Sag schon, was dir passiert ist, du Unglücksrabe? Du weißt, was mein Mann mit dir vorhatte! Hoffentlich hast du es nicht verdorben!“

„Wie werde ich denn?“, versucht Ruprecht das erregte Weib zu beruhigen. „Ich war in der Stadt unterwegs und habe mit ein paar Leuten gesprochen, die mir wohlgesonnen sind. Das kann keinen Schaden verursacht haben, Mutter Roselerin.“

Eben noch von atemloser Neugier zum Schweigen getrieben, verfällt die Menschentraube in ein empörtes Gewisper. Man hatte auf desaströse Antwort gehofft, die dem grauen Alltag eine pikante Würze verliehen hätte und so gibt man mit einem gewissen Widerwillen den Weg frei.

Ruprecht bemerkt sehr wohl die Enttäuschung der Nachbarn. Mit einem überlegenen Lächeln auf den Lippen erwidert er den verkniffenen Blick der Meierin von gegenüber, als er sich den Weg zur Haustür bahnt.

Weder der Vater noch die Mutter, nicht einmal die neugierigen Schwestern scheinen den Auflauf in der Gasse bemerkt zu haben. Abweisend zeigt sich die verschlossene Tür und der junge Mann stößt mit einem lauten Klacken den Riegel zurück. „Hallo, ich bin wieder allhier! Ist keiner zu Hause?“, gibt er sein Eintreffen bekannt und drückt hinter sich die Tür zu.

Tatsächlich befindet sich niemand in der Stube, was Ruprecht dann doch verwundert, denn es ist Essenszeit und er hatte geglaubt, die Mutter am Herd vorzufinden. Über dem Feuer köchelt zwar die Suppe im Kessel, aber niemand zeigt sich, ihn zu begrüßen. So wendet er sich der Werkstatt zu, wo dann tatsächlich auch alle beisammensitzen. Offensichtlich steht auch hier seine Person im Brennpunkt des Gesprächs, denn bei seinem Eintritt tritt vorerst augenblicklich ein verlegenes Schweigen ein, welches der Vater jedoch schnell zu beenden weiß. „Es wird Zeit, dass du heimkehrst, Großer. Du scheinst eine gefragte Person in der Stadt zu sein. Bereits zweimal schickte der Bürgermeister nach dir. Hast du auch nur eine entfernteste Ahnung, worum es geht? Die Nachbarn wetzen schon ihre ungewaschenen Mäuler und ich befürchte, dass Michael Roselers Plan scheitert, bevor er den ersten Schritt für dessen Umsetzung in die Wege leiten konnte. Nun lass dir nicht die Würmer aus der Nase ziehen: was will der Bürgermeister von dir, Junge?“

Erwartungsvoll blicken ihn die anderen an und die Mutter ist versucht, frohen Mut in ihren bangen Blick zu legen. „Sag schon, müssen wir mit Unheil rechnen? Ich fände es besser, einem Lindwurm sehenden Auges gegenüber zu stehen, als von hinten gefressen zu werden.“

Erstaunt mustert Ruprecht die Seinen. „Wie kommt ihr auf dergleichen? Wenn ich schon Schaden verursache, dann doch wohl nur an mir selbst. Noch nie hatte mein Ungeschick anderer Leute Schaden im Gedinge. Möge es auf ewig so bleiben.“

Der alte Tischler mustert wenig zufrieden seinen Ältesten. „Soll das ein Trost sein? Mit deinen zwei linken Händen treibst du deine Mutter in die Verzweiflung und mich in den Wahnsinn. Nun sag endlich, warum schickt der Bürgermeister nach dir? Womit muss ich nun wieder rechnen?“

Endlich erzählt Ruprecht von seinem Zusammentreffen mit Hans von Pirne, dessen Überraschung und schließlich dessen Gang zum Rathaus. Immer sorgenfreier wird das Mienenspiel der Eltern je länger er berichtet und die kummergezeichnete Stirn der Mutter wird vom Kranz der Lachfalten um den vor Glück glänzenden Augen überstrahlt. „Wenn das kein Grund zur Freude ist“, meint sie zu ihrem Mann, „trifft er ausgerechnet auf den alten Pirne! Der ist der erste Mann im Rat. Es ist jetzt schon der vierte Bürgermeister, den er aus dem Hintergrund lenkt: den Syptenheyn, den Springer, den Beyer und jetzt der Stobener. Und allemal hat es der Stadt gutgetan.“

„Der Große ist nur mit den Händen ungeschickt, nicht mit dem Kopf!“, entgegnet der Vater. „Dieses Gespräch wird den Werdegang über die Maßen beschleunigt haben. Der Hans von Pirne ist schon ein rechtes Schlitzohr. Wie es heißt, soll er anno dreiundzwanzig dem Kurfürsten die Hohe und Niedere Gerichtsbarkeit sowie den Zoll abgerungen haben, als der gerade knapp bei Kasse war.“

„Da kann er kaum älter gewesen sein als der Ruprecht heute“, wirft Paul ein, der es sich auf der Hobelbank bequem gemacht hat.

„Die von Pirnes waren schon immer recht vermögend und eben auch nicht auf den Kopf gefallen“, erklärt der Meister. „Aus dieser Lage ist es leicht möglich, Einfluss zu nehmen. Da hören mitunter sogar die Fürsten auf einen, wenn man es ein bisschen geschickt anstellt. So konnte der Ratsherr von Pirne auch sechsundzwanzig Jahre später die Gerichtsbarkeit auf den hiesigen Landstraßen ergattern – für die Stadt natürlich.“

„Und warum treibt er seinen eigenen Handel nicht mehr so gut voran?“, wirft Ruprecht mit einem verständnislosen Kopfschütteln ein.

„Weil ihm das Geschäft zu viel wird, zu anstrengend ist. Er hat nicht einen ungeschickten ältesten Sohn zum eigentlichen Nachfolger so wie ich, sondern gar keinen. Deshalb bringt er seinen Handel langsam zum Erliegen und sorgt gerade noch so für seinen Lebensunterhalt im leichten Wohlstand.“ Damit beendet der Vater den Disput und bedeutet der Mutter, dass es an der Zeit sei, das Mittagsmahl zu sich zu nehmen. Anschließend würde Ruprecht immer noch rechtzeitig im Rathaus erscheinen, denn der Herr Bürgermeister wird kaum über Mittag hungern.

Als Ruprecht endlich das Haus verlässt, haben sich die Nachbarn lange verlaufen, ohne jedoch gänzlich ihre Neugier zügeln zu können und so manche Nase zeigt sich in den nahestehenden Fenstern und Türen. Um den unausweichlichen Fragen zu entgehen, wählt Ruprecht den Umweg über die Johannisgasse. Entlang der Stadtmauer wird ihm sicher kaum jemand begegnen. Außerdem kommt er so am Tor des Ratsdieners vorbei und nur dieser konnte der Bote des Stadtoberhauptes gewesen sein. Vielleicht ist er zum Mittagsmahl nach Hause gegangen und er vermag ihn noch anzutreffen? Dann könnte er ihn fragen, ob die Vorladung nicht mit der Stelle als Schreiber zu tun hat.

Klein und einsam hockt die Kate des Ratsdieners neben dem Johannistor. Fast scheint es, als klammere sich das schiefe, hölzerne Geviert an die Stadtmauer und teile mit dieser die zweihundert Jahre seit der Errichtung. Sehr hoch scheint der Wert des Bewohners beim Rat nicht angesiedelt zu sein, denn die Behausung ist gar zu jämmerlich.

Es mag dem Aussehen der Hütte zuzuschreiben sein oder Ruprechts Angst, noch mehr Schaden anzurichten, dass er nur ganz zaghaft gegen die rissige Tür klopft, kaum einen Widerhall erzeugend. Dennoch wird er im Inneren wahrgenommen und gleich darauf öffnen sich die oberen Läden der waagerecht wie senkrecht jeweils zweigeteilten Tür. Es ist nicht der Ratsdiener, der sich zeigt und auch nicht die erwartete schmuddelige Alte mit den zerzausten grauen Haaren und der Warze auf der Nase. Ein reinliches Weib mittleren Alters mit nussbraunen Augen und rötlichen Locken, welche erste Silberfäden durchziehen, lehnt sich heraus und lächelt den Besucher freundlich an. „Schau an, wenn das nicht der Sohn vom Tischlermeister Prescher ist! Was führt dich in unsere Hütte? Wenn dich der Rat schickt, für die Hütte braucht man eher einen guten Zimmermann als einen Tischler, wenn schon kein Maurer angedacht ist, solide Steinwände hochzuziehen.“

Erschreckt weicht Ruprecht einen Schritt zurück. „Ich komme nicht vom Bürgermeister, nein, ganz im Gegenteil, dieser hat mich rufen lassen und nun wollte ich vom Ratsdiener wissen, worum es überhaupt geht, bevor ich mich ins Rathaus begebe. Ich hatte gehofft, ihn hier zu Mittag zu treffen.“

„Ach, woher denn“, gibt ihm das Weib Bescheid, „der Niklas ist lange wieder fort. Nur auf einen Sprung kam er und schlang seinen Brei glatt im Stehen. Eigentlich hätte es ihm den Schlund verbrennen müssen. Es nützt dir nichts, dich nun zu sputen. Er wird lange schon im Rathaus sein und du wirst tatsächlich erst dort erfahren, was man von dir will.“

Grüßend winkt Ruprecht zum Dank und wendet sich der Johannisgasse zu, die im Spalier der Häuser zum Markt hinführt. Auf jeder Seite der Gasse stehen zehn Häuser aufgereiht, die vom Wohlstand der Besitzer künden. Ganz vorn, da wo das Pflaster des Markts beginnt, prahlen beiderseits der Gasse die steinernen Fassaden vom gehobenen Stand der Familien Schütz und Neefe, die im Rat ein gewaltiges Wörtlein mitzureden haben. Der Ulrich Schütz ist inzwischen fortgeschrittenen Alters und hat sich ein wenig von der Stadtpolitik zurückgezogen. Sein letzter großer Streich war die Unterstützung für den Bau des Kupferhammers an der Straße nach Rochlitz. Anders der Hieronymus Schütz, dessen Haus den Beginn auch der Gasse „Uff der Bach“ markiert. Dieser ist noch relativ jung, voll Elan und ist aktiv an der Lenkung des Geschickes der Stadt beteiligt.

Heute ist kein Markttag und so kann Ruprecht ungestörten Schrittes den großen Platz vor dem Rathaus queren. Eilig hastet er die breite Treppe zur Eingangstür hinauf, nimmt die Stufen zum Obergeschoss, wo er die Amtsstube des Bürgermeisters weiß, an deren Tür er mit einem energischen Klopfen Einlass erbittet.

„Herein!“, tönt es gebieterisch aus dem Zimmer und Ruprecht tritt geflissentlich ein. „Gott zum Gruße, Herr Bürgermeister. Der Ratsdiener hat nach mir gefragt und so bin ich zu Euch geeilt, bevor er sich nochmals auf den Weg machen muss.“

Hans Stobener, der nun schon in seiner zweiten Amtszeit nach dem Jahr einundfünfzig die Geschäfte des Stadtoberhauptes wahrnimmt, füllt mit seinem ausladenden Körper den gewaltigen Armsessel hinter dem wuchtigen Schreibtisch ziemlich aus und eher schlaff denn behäbig hebt er den Kopf, um den Eintretenden müden Blickes zu visitieren. „Du bist also der Sohn vom Tischlermeister Prescher? Du musst sehr von dir eingenommen sein, wenn du gleich die Ratsherren vor deinen Wagen zu spannen traust. Oder wie muss ich es verstehen, wenn der Herr von Pirne für dich ein Wort einlegt, darum bittet, die Stelle des Stadtschreibers dir zu übertragen, zumal dieser Schritt offiziell noch gar nicht zur Debatte steht?“ Nunmehr sehr streng blickt er in die Augen des vor ihm stehenden jungen Mannes. „Aber, so es mir zu Ohren gekommen ist, kannst du manierlich mit der Feder umgehen. Wir wollen es also auf einen Versuch ankommen lassen.“

 

Ruprecht verbeugt sich ehrfürchtig vor dem Mann, wenn nicht gar in Demut. „Ich bin gern bereit, mich Eurem Examen zu stellen, Herr Bürgermeister Stobener. Aber den Ratsherrn habe nicht ich zu Euch gesandt. Wie hätte ich das tun können? Von sich aus hat er sich erboten, für mich diesen Schritt zu gehen – was mich natürlich sehr erfreute. Wenn Ihr mich nun zu prüfen gedenkt, so gestattet mir, Feder und Tinte zu holen.“

Der Bürgermeister winkt ab. „An den Utensilien soll es nicht scheitern. Was wäre das für ein Rathaus, wenn sich hier nicht Feder, ein Schreibbogen, Tinte und Löschsand fänden. Dort auf dem Pult ist alles bereit, was du benötigst.“

Tatsächlich ist in der Ecke des Raumes ein Stehpult vorhanden. Dass es seiner Bestimmung entsprechend durchaus genutzt wird, erkennt man an den dunklen Flecken, die die Wand zieren. In der Schale obenauf liegen drei Federn unterschiedlicher Dicke, deren Kiele noch zu schneiden wären, wozu ein Messerchen bereitliegt. Im irdenen Töpfchen daneben glänzt dunkel die Tinte. Sauber zugeschnitten hebt sich vom dunklen Untergrund der helle Bogen. Die hohe Flasche enthält sicher den seltenen blauen Koblenzer Löschsand zum Trocknen der Tinte. Blaue Krümel haben sich auf die Platte unmittelbar neben dem Flaschenboden verirrt.

Auf die herrische Geste des Stadtoberhauptes eilt Ruprecht an das Pult und prüft die Federn. „Gestattet Ihr, Herr Bürgermeister, dass ich erst die Federn anspitze? Die Schrift gäbe sonst kein rechtes Bild, auch die Zeilen müssen erst noch angerissen werden.“

Es scheint fast, als läge ein gewisses Quantum Anerkennung im gnädigen Nicken Hans Stobeners. Sollte dies schon der erste Stolperstein der Prüfung gewesen sein? Noch bevor sich Ruprecht darüber im Klaren ist, drängt ihn die Stimme des Prüfers: Allergnädigster Herr Graf von Waldenburg …“

Schnell taucht die Feder in die schwarze Tinte und es ist einzig des Schreibers elegantem Schwung zu verdanken, dass kein Klecks, sondern ein gewagter Schnörkel zum Buchstaben hin sich formt. Ruprecht merkt wohl, dass der Bürgermeister recht gekonnt in wohlgesetzten Abständen Pausen beim Diktieren lässt. Dennoch hat er Mühe mitzuhalten und so erscheint ihm das erzielte Schriftbild überhaupt nicht von gewohnter Klarheit und er nimmt sich vor, das Schriftstück später ins Reine zu übertragen.

„… mit untertänigstem Dank, der Bürgermeister der Stadt Chemnitz, Hans Stobener. Chemnitz im Jahre des Herrn 1466, am Freitag, dem 24. August.“

Endlich ist der Brief zu Ende gebracht und Ruprecht trocknet gewissenhaft die Zeilen, bevor er den Bogen übergibt.

„Na, da wollen wir sehen, ob wir schon den neuen Schreiber gefunden haben.“ Konzentriert fliegt der Blick des Prüfers zwischen Ruprechts Blatt und der Vorlage hin und her. Fast scheint es, als sei die Schreibkunst des Hans Stobener keineswegs so weit ausgeprägt, wie man für einen Mann dieses Amtes annehmen sollte. Immer wieder murmelt er das Gelesene, als könne er es nur so verstehen. Aber der Schein trügt, die Konzentration dient ausschließlich dem Vergleich.

„Ich kann keine wesentlichen Fehler entdecken, Prescher. Zügig geschrieben ist es und gut lesbar allemal. Der Rat wird sicher meinem Vorschlag folgen und Ihn zum Sekretär berufen.“

Der Gesichtsausdruck des Bürgermeisters hat eine Wandlung von der Abwartehaltung hin zur Herzlichkeit vollzogen und vermittelt Ruprecht das Hochgefühl ehrlich entgegengebrachter Anerkennung. „Es wäre mir schon recht, in den Dienst der Stadt zu treten, zumal mir im Handwerk recht wenig Glück beschieden ist.“

„Das pfeifen schon die Spatzen von den Dächern, Prescher. Nun, vielleicht wollte Gott es so, dass du nicht Handwerker wirst, sondern Schreiber und hat deswegen deinen Weg derart verschlungen gestaltet. Aber gemach, mein Junge, warten wir es ab, was die Ratsherren letztendlich zu sagen haben. Es ist eine unbedingte Vertrauensstellung, um die Er sich bewirbt. Es gilt nicht nur, das Wirken des Rates aufs Papier zu bringen, sondern auch in diplomatischer Mission der Stadt zu dienen. Wir werden Ihn in Kenntnis setzen, sobald ein Beschluss gefasst ist.“

Ruprecht schlägt das Herz vor Freude bis zum Hals. Trotz der Vertröstung auf später ist de facto die Stellung an ihn vergeben. Die Ausdrucksweise des Bürgermeisters, dieser ständige Wechsel der Anrede in der ersten und dritten Person zeigt deutlich, dass dieser auf seiner Seite steht. Außerdem: wer würde dem Wort Hans Stobeners widersprechen, vornehmlich, wenn noch zwei andere gewichtige Stimmen im Rat auf seiner Seite sind? Er verneigt sich, nach seiner Meinung recht gesittet, und wischt auf den huldvollen Wink des Stadtoberhauptes aus dem Zimmer.

Wenig später steht er wieder auf dem Marktplatz mit dem Rücken zum Rathaus. Hoch am Firmament lacht die Sonne und schmeichelt seinem Hochgefühl. Weil man so glückliche Momente eher mit anderen teilt, eilt Ruprecht schnurstracks nach Hause.

Es ist normalerweise nichts Ungewöhnliches, wenn Hans Prescher an der Fassade seines Hauses Ausbesserungsarbeiten ausführt. Die Vergänglichkeit des Holzes verlangt allenthalben Zuwendung, welche man im Interesse der Erhaltung des Heims natürlich gewährt. Nur scheint es sehr zweifelhaft, warum der völlig intakte Fensterladen ausgerechnet heute nachgenagelt werden muss. Dem aufmerksamen Beobachter kann nicht entgehen, wie nebensächlich jeder Handgriff wirkt und wie häufig der Blick des Mannes wieder die Gasse hinabwandert. Nicht weniger unruhig ist sein Weib, welches eifrig am Flechtzaun die Weidenruten erneuert, dabei kein Stück vorankommt und nicht eine Handspanne zur Seite geht.

Als Uff der Bach der Ruprecht endlich um die Ecke kommt, fällt die Unruhe von beiden ab und die Arbeiten werden in größter Konzentration ausgeführt. Auf gar keinen Fall sollen der Sohn oder die Nachbarn ahnen, wie kribbelig ihnen ist. Aus den Augenwinkeln heraus vermag die Prescherin schon bald zu erkennen, dass Stolz und Selbstbewusstsein ins Gesicht ihres großen Sohnes geschrieben stehen und nicht länger die Zweifel am eigenen Können aus der Miene spricht wie nur allzu oft nach den so häufigen Fehlgriffen in der Tischlerei.

Kurze Zeit später wird auch dem Vater die optimistische Ausstrahlung des Sohnes bewusst. Da er die feinfühligen Winkelzüge seines Weibes zwar bewundert, aber niemals selbst anwenden könnte, poltert er geradezu: „Bist du endlich wieder zurück?! Ich dachte schon, sie hätten dich wegen der zwei linken Hände in den Kerker gesteckt. Nun, welchen tiefgreifenden Rat hat dir der Rat geraten?“

„Hans!“, protestiert Magdalena voll ehrlicher Entrüstung. „Du wirst den Großen noch aus dem Haus treiben mit deinen Bemerkungen!“

Während Ruprecht generös abwinkt – immerhin kennt er seinen Vater zur Genüge – schnieft dieser durch die Nase: „Was verstehst du davon, Mutter? Er ist keine zarte Jungfer und wird ein ehrliches Männerwort verkraften. Wenn er deswegen das Weite sucht, dann kann ich ihn auch nicht halten.“ Gutgelaunt schlägt er seinem Sohn auf die Schulter, dass es recht laut knallt. „Oder siehst du das anders, Junge?“

Ruprecht ist von so blendender Laune, dass er am liebsten singen würde und die ohnehin nicht bös gemeinten Worte vermögen ihn in keiner Weise zu betrüben. „Lasst mal gut sein, ich bin kein Tonfigürchen. Aber bevor euch die Neugier auffrisst: Ich bin vom Bürgermeister auf meine Schreibkunst getestet worden und er schien sehr zufrieden. Wenn jetzt noch der Rat zustimmt, dann werde ich der neue Stadtschreiber sein. Ich denke, das ist einen Krug besten Bieres wert, oder?“ Beifall heischend sieht er seinem Vater in die Augen, doch der schüttelt nach kurzer Überlegung mit dem Kopf. „Warte ab, Großer. Erst muss das Haus stehen, bevor man die Tür einsetzt. Noch hast du die Stelle nicht.“