Der Ziegenmelker

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Plötzlich sprang Miriam zwischen uns.

»Halt!«, rief sie mit funkelnden Augen, »seid ihr verrückt? Gregor ist schon ganz grün im Gesicht!«

Sie schien wirklich besorgt, doch Stephan strahlte sie an: »Er spielt ganz gut.«

Miriam schob die Hand unter meinen Ellbogen und führte mich zurück in das grüne Zimmer. Die Knie zitterten mir derart, dass ich fast auf den Stuhl fiel.

Die beiden umstanden mich reglos und blickten auf mich herab. Ich atmete tief durch und hob ein wenig den Kopf.

Aus meinem armseligen Bauch stieg ein Lächeln auf mein Gesicht. Es war kaum zu fassen, ich hatte wieder Saxophon gespielt.

»Es hat mir gut getan zu spielen«, sagte ich leise, »das Saxophon ist mein Lieblingsinstrument.«

»Dann soll es nicht das letzte Mal gewesen sein«, meinte Miriam, »und jetzt bitte ich Sie, mit uns zu Abend zu essen.«

Ich drückte beherzt beide Hände auf meinen Magen und sagte: »Ich glaube, das kann ich jetzt.« Stephan sah Miriam fragend an, doch sie schüttelte nur kaum merklich den Kopf.

Sie nahm meinen Teller und füllte ihn mit einer braunen Schokoladensuppe. Es schwammen grüne Hölzchen darin, und ich wunderte mich, dass sie nicht süß, sondern salzig schmeckte.

»Was ist das?«, fragte ich neugierig. So etwas hatte ich noch nie gegessen.

»Es ist eine fermentierte Bohnensuppe«, erklärte Miriam, »mit Schnittlauch und Thymian, basisch und sauer ausgewogen. Sie wird Ihnen bekommen.«

Ich probierte auch eine Paste mit Kräutern, die herb und etwas bitter auf der Zunge blieb.

Hatte ich nicht am Nachmittag den Rat bekommen, ich solle essen, was bitter sei?

Plötzlich genierte ich mich. Essen war für mich zu etwas geworden, das Probleme bereitete. Doch jetzt saß ich hier und verhielt mich wie jemand, der ich gar nicht war.

Trotzdem aß ich meinen Teller leer und legte dann verwirrt den Löffel hin. Ich suchte nach etwas Vertrautem, an das ich anknüpfen konnte. Mir fiel nur mein Auto ein.

»Ich muss mein Auto holen«, sagte ich übergangslos, »es steht vor dem Dorf im Tal.«

»Das kann ich für dich tun, wenn du mir die Schlüssel gibst«, meinte Stephan, »und wenn es dir recht ist.«

Er stand vom Tisch auf, nahm meine Autoschlüssel und verschwand hinter den Zweigen des Kirschbaumes. Miriam trug die Teller weg. Ich saß plötzlich ganz allein im Zimmer.

Ich nahm mein Handy und rief in Frankfurt an. Die Stimme meiner Mutter klang zunächst wie immer, dann angstbesetzt und kam schließlich wie eine drohende Wand auf mich zu.

»Gregor!«, rief sie »Gregor, wo bist du?«

»Ich bin … ich bin … gut versorgt, Mutter. Aber lasst mich in Ruhe! Bitte lasst mich in Ruh!«

»Gregor, bitte«, flehte sie, »komm nach Hause! Dein Vater will dich mit der Polizei suchen lassen!«

»Nein! Nicht! Es geht mir gut. Ich bin bei Freunden«, log ich, »lasst mich in Ruh! Bitteee!«

Ich schrie wieder, drückte danach in wilder Hast den roten Knopf und ließ mich schluchzend vornüber fallen.

Miriam musste sich zu mir gesetzt und mich beobachtet haben. Als ich den Kopf hob, sah ich ihr geradewegs in die Augen.

»Gregor«, sagte sie sanft, »möchtest du nicht in ein Krankenhaus gehen?«

»Nein«, sagte ich, »lieber will ich sterben.«

Miriam entgegnete nichts. Es fiel mir auf, dass sie Du zu mir gesagt hatte. Sie blickte mich weiterhin aufmerksam an.

Ich gab meiner Stimme einen festen Klang: »Der Engel sagte, ich müsse nicht sterben, wenn ich es nicht wolle … und ich will nicht!«

Noch bevor ich zu Ende gesprochen hatte, wusste ich, dass ich wie immer mit mir selbst im Widerstreit lag. In Frankfurt hatte ich mit meinen Eltern darum gerungen, dass ich weder eine Operation noch eine Chemotherapie haben sondern sterben möchte.

Und hier, vor Miriam, beteuerte ich keine acht Stunden später, fast in einem Satz, sterben und nicht sterben zu wollen. Vielleicht sollte ich aufhören, gegen mich zu kämpfen.

Was wollte ich denn überhaupt? Wenn ich es nicht wusste, wer dann?

Ich erinnerte mich später, dass Miriam mich in dem blauen Zimmer zudeckte, mit einer blauen, weichen Decke. Die Instrumente schimmerten zunächst in ihren matten Goldtönen durch das Blau hindurch zu mir herüber.

Dann veränderten sie sich rasend schnell und wurden zu furchtbaren Flammen-Dämonen, die mit schrecklichen Fratzen und Gebärden über mich herfielen.

Danach brach das Feuer über mir zusammen. Ich verbrannte. Versank in eine andere Welt. Hatte kein Zeitempfinden mehr.

Ein dunkles, feuchtes Tuch lag über meinen Augen, als ich aufwachte. Das Feuer schien nicht mehr in meinem Körper zu sein. Ich empfand mich ohne Schwere, leicht.

Ich betastete meine Hüften, meinen Bauch, meine Oberschenkel. Drückte sie fest. Sie waren fühlbar, also war ich da.

Entschlossen nahm ich das Tuch von meinen Augenlidern und blickte überrascht auf die beiden Muttermale in dem Gesicht über mir.

Es waren Miriams Muttermale, doch es war nicht ihr Gesicht. Um ihren Kopf ringelten sich pechschwarze Locken. Ihre Augen blickten mich eigenartig an.

Und dann kamen aus ihren rundgeformten Lippen seltsam gutturale Laute, die immer sonderbarer klangen.

Ich verstand sie nicht. Was für eine eigenartige Sprache! War ich vielleicht doch gestorben?

Das Gesicht über mir erhob sich. Ich blickte ihm nach. Es gehörte einer kleinen Gestalt, die sich vor mir aufrichtete. Zu meiner Verblüffung war es die ganz junge Miriam.

Sie hob mit einer wiegenden Gebärde beide Arme hoch. Dabei kamen weiterhin unverständliche Worte aus ihrem Mund.

Das konnte nicht sein. Es war bedrückend. Ich ließ meinen Kopf in das Kissen zurückfallen und zog mir das Tuch wieder über die Augen.

Ich träume, sagte ich mir, ich bin in einem Delirium. Gleich werde ich wach und alles wird sich erklären.

Ich hörte mich in der Stille ausatmen und empfand nach einer Weile, dass sich die zierliche Gestalt mit einem schleifenden Geräusch von mir entfernte.

Dann kam wieder jemand. Mit einem anderen, leichteren Schritt.

»Gregor, bist du wach?«

Das war Miriams wirkliche Stimme.

Sie nahm mir das Tuch von den Augen, sah mich ernst an und sagte: »Du musst etwas trinken.«

Sie stand in der mir bekannten Gestalt vor mir, bückte sich, bauschte das Kissen hinter meinen Rücken und hob mich etwas hoch.

Ich tastete mit der Hand nach meinen Lippen. Die Haut rundum war verschorft, mein Kinn voller Stoppeln.

Aus der Tasse dampfte mir Heugeruch entgegen. Ich trank den Tee in winzigen Schlucken und war dankbar, dass er beruhigend in meinem Magen ankam.

»Habe ich lange geschlafen?«, fragte ich.

»Zwei Nächte und zwei Tage.«

Zwei Nächte und zwei Tage?

Ich begann mich an das Feuer zu erinnern, das mich niedergerungen hatte. In dieser Zeit war ich wohl gefallen, verbrannt und wieder aufgetaucht. Was war von mir übrig?

»Habe ich irgendetwas erzählt, phantasiert?«

»Ja. – Vieles, was dir wahrscheinlich wichtig war. Mach’ dir keine Sorgen darüber.«

Es war mir unangenehm. Miriam schien es nicht so zu empfinden. Sie sah mich weiter ruhig an.

In diese Ruhe hinein verriet ich, ohne es zu wollen: »Ich habe dich gesehen, eben noch, du warst ganz jung, deine Haare waren ziemlich dunkel, fast schwarz, und du sprachst in einer eigentümlichen Sprache zu mir. Es war sonderbar.«

Sie legte eine Hand auf meinen Arm.

»Hat es dich erschreckt?«, fragte sie besorgt.

»Nein«, sagte ich gedehnt, »oder doch. Ich habe nicht verstanden, was du sagtest.«

Ihre Augen weiteten sich.

»Ich wollte dich unbedingt verstehen, aber es ging nicht«, beeilte ich mich hinzuzufügen.

Sie nickte und nahm mir die Tasse aus der Hand.

»Du darfst jetzt aufstehen und dich waschen«, meinte sie fürsorglich, »wenn du dich kräftig genug fühlst, selbst ins Bad zu gehen. Stephan hat dort alles für dich hingelegt. Er kommt gleich.«

Ich ließ mich wieder zurück sinken. Was war passiert? Ich konnte mich wirklich an nichts erinnern. Nur eben an die junge Miriam, die ich nicht verstand.

Da war ich wohl noch verwirrt. Aber es war doch gerade erst vor wenigen Minuten gewesen. Wie seltsam wirklich ich das empfunden hatte.

Stephans Stimme holte mich aus meiner Grübelei. Er setzte sich zu mir auf die Couch und erzählte mir, er habe stundenlang in der Kirche Orgel für mich gespielt. Seine Energie wirkte ansteckend.

Ich kam unsicher auf meine Beine, gab mir einen energischen Ruck und entdeckte, dass ich wohl einen seiner Pyjamas trug. Er war überall zu kurz.

Stephan fasste meinen Arm und führte mich durch den Flur. Vor dem Spiegel blieb ich stehen und riss die Augen auf. War ich das?

Aus dem Bauch heraus fing ich an zu lachen. Ich lachte lauthals über diese Witzfigur, die ich darstellte.

Wie ein krummer Ast stand ich dort, ein zerknitterter, jämmerlicher Don Quichotte in einer ausgebeulten Pyjamahose; ein armseliger Wicht mit einem hohlen, stoppeligen Gesicht, dessen Lippenhaut in kleinen Papierfetzen in den Mundwinkeln stand. Erbarmen, oh Gott, Erbarmen! Mir brachen fast die Beine weg.

Miriam kam angerannt. Ich deutete mit dem Finger auf die groteske Gestalt im Spiegel und konnte mich nicht beruhigen. Miriam begann ebenfalls zu lachen.

Ich ließ mich erschöpft auf den Boden sinken, immer noch lachend und nach Luft ringend. Miriam setzte sich auf die Dielen neben mich und reichte mir ein Taschentuch.

»Ich wusste nicht, dass ich so aussehe«, bekam ich schließlich heraus.

 

»Und ich wusste nicht, dass du wirklich lachen kannst, Gregor. Hinter jedem Lächeln, das du dir abverlangst, erscheint eine Entschuldigung auf deinem Gesicht. Entschuldigung, dass es mich gibt, Entschuldigung, dass ich mich freue.«

Ich konnte nichts erwidern.

»Gregor«, sagte sie bestimmend, »Du musst dich für gar nichts entschuldigen.«

Hinter uns entstand eine Bewegung, ich hörte ein schleifendes Geräusch. Miriam sprang auf und breitete die Arme aus, einer kleinen Gestalt entgegen, die mit wiegenden Armen und einem sonderbaren Singsang auf uns zukam.

Es war die junge Miriam, die sich über mich gebeugt und angesehen hatte.

Bevor ich irgendeine Frage formulieren konnte, umschloss Miriam die schmale Figur mit den Armen, legte ihren Kopf darauf und sagte: »Das ist unser Sohn Alexander. Er hat während deines Fiebers manchmal über dich gewacht und mir vorhin gemeldet, du seist aufgewacht.«

Ich starrte sie sprachlos an. Die beiden waren sich absolut ähnlich. Der Unterschied bestand nur in der ganz jungen und der älteren Ausführung. Aber wieso …?

»Er ist geistig behindert. Seit seiner Geburt«, erklärte Stephan nun. »Deshalb kann er nicht sprechen und vieles andere kann er auch nicht. Aber einiges gelingt ihm doch. Und dich scheint er zu mögen. Er war sehr besorgt um dich.«

Ich war vor Verblüffung und Überraschung weiter auf dem Boden sitzen geblieben, wie festgeklebt, und versuchte nun hastig und ungelenk aufzustehen.

Der Kleine löste sich aus der Umarmung seiner Mutter und kam in seinem sonderbaren Gang mit den Händen gestikulierend auf mich zu.

Wie konnte ich begreifen, was er sagte und dabei an mir vorbei sah? Ich wurde unsicher, was ich tun sollte.

Als er vor mir stand, senkte er die Arme und hielt sie wie kleine Stecken gegen meinen Körper.

In einer aufkommenden Woge von Mitgefühl umschloss ich den Jungen und hielt ihn einen Moment lang fest. Dann beugte ich mich zu ihm hinunter.

»Alexander«, sagte ich unbeholfen, »wie gut, dass es dich gibt.«

Er sah mit seinen Augen durch mich hindurch. Nichts deutete darauf hin, dass er mich verstanden hatte.

Doch er fing wieder an, undeutlich zu sprechen, hörte abrupt auf und hangelte sich an mir vorbei zu seiner Mutter zurück. Keiner sagte etwas. Wir sahen ihm stumm zu.

Ich blickte an mir herunter und erkannte mit Erschrecken meine eigene jämmerliche Situation.

»Vielleicht sollte ich jetzt wirklich ins Bad«, unterbrach ich die eingetretene Stille.

Miriam fasste Alexander an der Hand und Stephan nahm meinen Arm. Wir drehten uns um, alle vier in dieselbe Richtung.

Ich stellte mir die sonderliche Frage, ob wir gemeinsam ins Paradies gingen, oder ob wir gerade daraus vertrieben worden waren.

Eine Stunde später saßen wir zusammen im grünen Zimmer. Eigentlich sollte ich mich gut fühlen, geduscht, rasiert und umgezogen, doch ich fand mich aufgewühlt und in meinen Gedanken total verändert angesichts des kleinen, so sonderbar agierenden Alexander.

Ich bewunderte die disziplinierte, zärtliche Haltung seiner Eltern. Der Junge konnte sich für Momente ganz ruhig verhalten. Doch dann bewegte er in dem ihm eigenen, ungelenken Rhythmus die Hände, Finger, den Kopf und seinen schmalen, ansonsten anmutigen Körper. Er wanderte ziellos umher oder warf sich über einen Stuhl oder den Sessel.

Ich hatte bis dahin wenig Kontakt zu Behinderten, sah sie nur hin und wieder in den Straßen Frankfurts. Meist ging ich an ihnen vorbei, ohne dass ich sie besonders beachtete.

Sie sollten nicht das Gefühl bekommen, dass ich ihrem Anderssein als Voyeur mit Abneigung oder Mitleid begegnete.

Ich sah über sie hinweg wie über andere mir Unbekannte. Doch dieses behinderte Kind berührte plötzlich etwas, was ich bisher nicht kannte.

Wir aßen weiche braune Bohnen, eingewickelte Reisbälle, jede Menge Gemüse und kleine gebratene Fischstücke.

Miriam unterstützte ihren Sohn dabei, selbst zu essen. Unermüdlich gab sie ihm den Löffel, leitete Alexander an und redete begütigend auf ihn ein.

Ich beobachtete, dass der Junge ihre Hand nahm und an die Wasserflasche führte. Das bedeutete wohl, gib mir zu trinken, denn er konnte die Flasche nicht allein öffnen. Miriam verriet, dass er so auch seinen Hunger anzeige. Er ziehe sie in die Küche an den Herd mit den Töpfen und sage dabei unverständliche Worte, die sie jedoch inzwischen als: »Ich bin hungrig«, erkenne.

Es bedurfte wahrscheinlich eines langen Weges der Gesten, der Gewöhnung, bis seine Eltern ihn in seiner Verschlossenheit erreichen konnten.

Mir fiel das Schlucken plötzlich schwer. Diese beiden Menschen taten so viel für mich, obwohl sie ein behindertes Kind hatten, das viel Aufmerksamkeit benötigte. Ich musste sie fragen, warum sie das so selbstverständlich taten.

»Miriam, Stephan«, sagte ich beherzt, »ich bewundere euch sehr. Trotz all der Arbeit mit Alexander habt ihr mich bei euch aufgenommen und gepflegt. Das hatte ich nicht erwarten können. Ihr sollt wissen, dass ich euch eure Fürsorge vergelten werde.«

»Ah, Gregor«, Stephans Hand fiel auf meinen Arm. »Wir erwarten keinerlei Entlohnung. Doch ich nehme dich in die Pflicht. In den nächsten Tagen werden wir wieder Saxophon spielen. Wir beide. In der Musik liegen ungeahnte Kräfte, die müssen wir nutzen.«

Er legte den Arm um Miriams Schultern, küsste sie liebevoll auf die Wange und fügte hinzu: »Miriam hat, je nachdem wie es dir ging, deine fiebrige Verwirrtheit sogar mit der Flöte zu besänftigen versucht.«

Sonderbar. Welche Pflege sie mir sonst hatten angedeihen lassen, konnte ich nur ahnen. Wieso machten sie das? Und warum lebten sie in solch speziellen Farben?

Meine Frage danach ließen Miriams Augen eigentümlich leuchten.

In dem grünen Zimmer schienen die Tage zu beginnen und zu enden. Dort wurde das Essen eingenommen.

Zum blauen Zimmer gehörten die Kupfertöne der Musikinstrumente, das blaue Samttuch auf dem Klavier, der farblich abgestimmte Teppich und die Couch.

Ich fand, dass ich auf eine merkwürdige Weise begann, blau zu denken, zu atmen, zu sprechen. Blau war fortan ein musikalisches Wort. Auch Musik klang blau.

Der Blick nach oben war immer hell. Weiß. Offen.

Doch alle wesentlichen Dinge trugen ihre in unterschiedlichen Tönen gehaltene Farbe: rot, blau, grün, violett, orange. Der vorherrschende Ton bestimmte das Gefühl für die Farbe.

Es war, dachte ich, als ginge man durch den Wald. Wald vermittelt das Wohlgefühl von Grün, das der Blätter und Nadeln in ihren vielfältigen Nuancen.

Grün dominiert, obwohl dort auch viele andere Farben zu sehen sind, die der Borke, das Rostbraun der vertrockneten Blätter und Nadeln, der Ameisenhaufen und das Dunkel des feuchten Waldbodens.

Im Vorbeigehen blickte ich in ein offensichtlich ganz helles Zimmer. Ich sah neugierig hinein.

Der Fußboden, der weiche Teppich, die Sessel, ein Lesepult, die Voile-Vorhänge, die Bilder, die Decke, das Licht. Alles schimmerte in einem unterschiedlichen Weiß, nur die Buchrücken nicht.

Es war die Bibliothek.

»Nichts soll von der Lektüre ablenken«, meinte Miriam, die meinen überraschten Blick bemerkt hatte.

»Setz’ dich hin und probiere es aus.«

Sie klinkte eine weitere Tür auf. Es war ein Schlafzimmer. War es ihr Schlafzimmer? Darin schimmerte alles bestürmend rot.

Es waren die betörendsten Rottöne, die ich je sah. Sie flossen ineinander verbanden sich miteinander und ergänzten sich.

Rot wie die Bordüren der Kleider der Schönen in den Fresken von Pompei, wie das Innere der Granatäpfel, der Saft der Malvasiertraube.

»Rot?«, fragte ich erstaunt, »wie die Hölle? Oder das Feuer? Nein, die Farbe des Feuers ist anders.«

Meine Fragen klangen gewiss befremdlich.

Ich wandte mich zu Miriam um und empfand gleichzeitig, dass ich sofort in dieses Rot hineinfallen konnte.

»Keine Hölle, Gregor! Was denkst du! Rot wie das Innere unseres Herzens. Sieh’ genau hin, dann erkennst du die Farben. Wenn wir schlafen, ziehen wir uns in unsere Herzen zurück.«

Ich wandte mich etwas linkisch zur Tür und sprach dann etwas aus, was mir unerhört vorkam: »Dürfte ich irgendwann einmal einen Moment in diesem Schlafzimmer sitzen, dort auf dem roten Teppich? Ich habe noch nie in einem Herzen geschlafen.«

»Ja natürlich.«

Miriam deutete mit der Hand auf den Boden.

Ich sah sie nicht an. Ich hatte ihr Herz gemeint.

Am Ende des Flurs öffnete sie die Tür zu einem recht kleinen Zimmer. Darin war alles violett, sogar die Schranktüren. Auch die Decke und die Wände waren mit violett-geblümtem Stoff bespannt.

Miriam erklärte nichts, sah sich nur lächelnd um und hob einen Seidenschal auf. Ein Boudoir, fand ich, das wohl Miriam ganz allein gehörte.

Neben einem zierlichen Stuhl stand eine Lampe, durch deren Glas die Umrisse eines Kirchturms schimmerten. Ich konnte den Lavendel riechen, der rund um diese Kirche blühte.

Die Wucht der Farben und die Anmut dieses Zimmers ließen mich einen Augenblick unbeholfen dastehen.

Laut der Aussage meines Bruders Gernot war ich ein Moll-Freak. Ich entsann mich, dass ich das stets als Schwäche empfunden hatte. So wie jetzt in meiner Sprachlosigkeit.

Bisher hatte ich die Frauen verpasst, und hier stand eine, so nah und doch so weit von mir entfernt, dass es mir fast den Atem nahm. Eine Frau, die mir ihre Farben zeigte, zu denen ich keinen Zugang hatte.

Ich riss mich zusammen, spürte, wie ein verzagtes Lächeln auf mein Gesicht kroch und wusste nicht, welche der vielen Fragen, die mir durch den Kopf schossen, ich an sie richten konnte.

»Geh’ ein wenig in den Garten«, sagte sie und drehte sich um.

Stephan hatte einen Stuhl unter den Kirschbaum gestellt. Offenbar für mich. Ich holte ein Saxophon und setzte mich in die Stille, das Saxophon im Arm. Dann stellte ich es neben mir ab, drückte meine Fäuste auf die Augen und wartete. Ich wartete lange Zeit. Schließlich wusste ich, was ich spielen wollte.

Ich war zu linkisch, zu unbegabt, Miriam meine Empfindungen mitzuteilen, aber ich konnte das Instrument als meine Stimme benutzen. Diese Sprache würde sie verstehen.

Ich begann, mit dem Saxophon zu ihr zu sprechen. Zaghaft zunächst. Ich suchte nach Worten, um Sätze daraus zu formen. Die Tonfolgen klangen unbeholfen und gefielen mir nicht.

Einige darunter konnte es so gar nicht geben. Ich wollte sie in ihrer Fremdheit jedoch so behalten, wie ich sie empfand und probierte sie erneut. Vorwärts, rückwärts, lauter, leiser, um herauszufinden, was mir selbst unbekannt war.

Und mit einem Mal, urplötzlich, wusste ich, diese Melodie spricht jetzt. Ich spielte sie viele Male, arrangierte meine Musik um diesen einen kleinen Satz.

Ab und zu teilten sich die Zweige einen Spalt weit und Stephans oder Miriams lächelndes Gesicht zeigte sich zwischen den Blättern.

Wenn ich müde war, legte ich eine Pause ein.

Am nächsten Morgen stieg Miriam mit Alexander ins Auto. Stephan und ich winkten ihnen nach. Wir gingen ins Haus zurück, während Stephan mir erklärte, dass Alexander eine Förderschule für geistig und motorisch behinderte Kinder besuche, etwa zwanzig Autominuten entfernt.

»Und Miriam? Was macht sie?«

»Hat sie es dir nicht gesagt?«

»Nein. Ich weiß eigentlich gar nichts von euch, und ich bin nicht der Typ, der Menschen ausfragt.«

Stephan suchte meinen Blick.

»Du hast sofort nach deiner Ankunft Fieber bekommen und hattest ein Riesenglück. Miriam ist Ärztin und hat zwei Tage und Nächte ordentlich um dich gekämpft.«

»Oh«, entfuhr es mir überrascht.

Stefan kniff verständnisvoll ein Auge zu.

»Vielen Dank«, beeilte ich mich hinzuzufügen »und wer bestimmt, dass man solch ein Glück hat?«

»Ich weiß nicht, wer es bestimmt. Man kann das Schicksal annehmen wie der arme Hiob, das vermögen aber nur wenige. Wir selbst bestimmen bewusst oder unbewusst die Richtung und entscheiden dies auch. Oft, ohne dass wir es sofort wahrnehmen.

Und es gibt Zufälle, die man wie Weggabelungen betrachten kann. Je nachdem, wo wir abbiegen, bringen sie uns auf völlig andere Wege.«

»Dem kann ich zustimmen, Stephan, das habe ich gerade erfahren.«

Wir standen in dem für mich so bedeutsamen blauen Zimmer und setzen uns nebeneinander auf die Couch.

»Auch Miriam bin ich zufällig begegnet«, bekannte Stephan, »ich traf sie in der Frankfurter Kleinmarkthalle. Miriam hatte dort eingekauft wie ich auch, als jemand an ihr vorbeirannte und sie anrempelte.

 

Miriams Korb knallte auf den Boden und ihre gerade erworbenen Äpfel rollten aus der Tüte in alle Himmelsrichtungen.

Sie stand sprachlos neben mir. Dann bückten wir uns fast gleichzeitig und rannten den Äpfeln hinterher.

So sei das im Paradies nicht gewesen, erklärte sie mir, als wir alle gefunden und eingesammelt hatten, da habe Eva dem Adam den Apfel gereicht. Einen. Ich habe ihr schon drei gegeben. Sie bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln.

Normalerweise wäre ich danach mit einer höflichen Erwiderung weitergegangen. Doch bei so viel Charme suchte ich nach einem Anlass, noch bei ihr stehen zu bleiben.

Schließlich fragte ich, ob ich mich für diesen lümmelhaften jungen Adam entschuldigen und neue Äpfel für sie kaufen dürfe. Die eingesammelten seien schließlich alle angeschlagen.

Das wollte sie nicht. Ich lud sie in ein Café um die Ecke ein. Dort saßen wir und unterhielten uns, als besäßen wir alle Zeit dieser Welt.

Ich war damals 54 Jahre alt und stand sozusagen an einer Weggablung meines Lebens, denn als Pilot konnte ich im nächsten Jahr in den Ruhestand gehen.

Stattdessen verliebte ich mich, als wäre ich siebzehn. Es war eine aufregende, unerwartet schöne Erfahrung.

Sie wurde jedoch problematisch für mich, da ich seit Jahren in einer Beziehung lebte und mir mit einem Mal Ausreden und Lügen zurechtlegen musste.

Doch ich wollte die Romanze nicht beenden. Das Doppelleben empfand ich als reizvoll, bis Miriam mir eines Tages sagte, sie habe sich an eine Klinik in Herdecke beworben und wolle wegziehen. Das verstand ich nicht. Wir waren doch glücklich. Warum wollte sie weg?

Ich sprach von meiner Überlegung, mit 55 in den Ruhestand zu gehen und ebenfalls umzuziehen. Mit ihr zusammen. Und hoffte, dass sie dann in Frankfurt bliebe.

Dass sie schwanger war und aus diesem Grund den Umzug plante, verriet sie mir nicht sofort.

Ich verließ meine andere Freundin und entschied mich für Miriam, ohne recht zu wissen, wie wir unser Leben gestalten wollten. Wir heirateten erst zehn Tage vor der Entbindung.«

Stephan blickte zuweilen geradeaus, als könne er dort noch einmal sehen, wie sich ihr Leben damals veränderte.

Wir saßen im vertrauten Blau des Zimmers mit den schimmernden Instrumenten, und ich hörte ihm zu, ohne Zwischenfragen zu stellen.

Alexander war also »ein Unfall« wie ich, aber dennoch ein ganz anderer, ging es mir durch den Kopf, als er schwieg.

Stephans Gesicht hellte sich einen Moment auf, als er weitererzählte, dass die Freude auf ein Kind ihn damals belebt, ja geradezu verjüngt hatte.

Alexander war für beide eine Überraschung. Obwohl nicht geplant schon im Voraus geliebt. Die Situation beschwor mit einem Mal eine Menge Veränderungen herauf. Doch damit erfuhr ihr Leben eine neue Dynamik. Sie freuten sich auf die neuen Wege zusammen mit einem gemeinsamen Kind.

Bei der Geburt kam es zu Komplikationen. Miriams unbedingter Wunsch, auf natürlichem Weg zu entbinden, war nicht zu erfüllen.

Ihr Sohn kam durch einen schnell eingeleiteten Kaiserschnitt zur Welt. Er war ein perfektes, kleines Abbild Miriams und sie dachten, sie seien die glücklichsten Eltern der Welt.

Doch Miriam entdeckte bald, dass mit dem kleinen Alexander etwas nicht stimmte.

Er reagierte nicht auf sie, erkannte sie nicht. Sah er sie nicht? War etwas mit den Augen nicht in Ordnung? War seine Entwicklung verzögert? Sie konsultierten Kinderärzte, die sie zunächst zu beruhigen suchten.

Da Miriam Ärztin war, wusste sie, dass Säuglinge und Kleinkinder sehr bald ein Selbst- oder Ich-Bewusstsein entwickeln. Sie beobachtete ihren Sohn kritisch, wartete mit immer größerer Unruhe, dass sich endlich Ansätze eines Erkennens, der Wahrnehmung, der Selbstwahrnehmung zeigten.

Doch bei Alexander gab es diese normale Entwicklung nicht. Die weiteren Untersuchungen bestätigten schließlich ihre Sorge. Es war niederschmetternd.

Stephan sah nachdenklich durch das große Fenster in den Garten, als ob er die Ängste von damals dort erneut erblicke. Nur einige Blätter an den langen, festen Zweigen des Kirschbaumes bewegten sich.

Es war absolut still um uns. Und dann kamen die Worte stoßweise, als brächen die Emotionen brockenweise ab. So, als habe er noch nie darüber geredet. Vielleicht hatte er es auch nicht.

Die abstrusen Gedanken, die ihn damals marterten, kamen zurück. Wollte Gott sie bestrafen. Wofür? Was hatten sie falsch gemacht? Waren sie schuld?

War er schuld? Schließlich war er Jahre lang unter großer Strahlenbelastung um die Erde geflogen.

Hatte der Arzt versagt? Sollten sie prozessieren? Miriam sprach sich dagegen aus.

In ihrer Ratlosigkeit stellte sie tausend Überlegungen an, verwarf sie wieder und suchte verzweifelt einen Weg aus dieser Situation, die sie wie einen Schmerz zu paralysieren schien.

Sie schlug Stephan vor, ihn mit dem Kind zu verlassen, um das Leben allein zu schultern. Mich verlassen, hatte er gefragt. Nein, sagte sie beim nächsten Atemzug, das sei unvorstellbar. Sie mussten alle drei zusammen bleiben.

Sah so der Weg aus, der vor ihnen lag? Einen solchen hatten sie sich nicht vorgestellt.

Stephan fand sich regelrecht aus dem Gleichgewicht geworfen und entdeckte noch etwas: Mitleid. Mitleid mit Alexander.

Würde er heranwachsen, ohne sich seiner eigenen Existenz bewusst werden zu dürfen?

Es gab Momente, da lächelte er. Doch wie war das zu deuten? War es nur ein Muskelreflex, den sie, seine Eltern, sich als Lächeln wünschten?

Er gab Laute von sich. Er war da. Und er war ihr Sohn.

Für Miriam, dachte er, sei es leichter. Krankheit, Siechtum und Gebrechen begegneten ihr von Berufs wegen täglich. Doch sie empfand es doppelt schwer und machte sich schwere Vorwürfe.

Als Ärztin habe sie den Menschen helfen wollen, klagte sie, für sich selbst sei ihr das nicht gelungen, im Gegenteil, sie habe noch ein anderes Lebewesen, ihren eigenen Sohn, geschädigt. Sie habe als Mutter und Ärztin total versagt.

»Wo?«, fragte er. »Warum?«

Nichts war rückgängig zu machen.

Wie begeistert hatte er sich während der letzten Tage im Cockpit sein Leben mit Miriam ausgemalt. Es waren Höhenflüge im wahrsten Sinne des Wortes gewesen. An einen Absturz hatte er nie gedacht. Doch nun waren seine Träume abgestürzt. Zerschellt.

Sie waren alte Eltern mit einem behinderten Sohn. Das war die Tatsache.

Wenn Alexander schlief, sah er aus wie ein schönes normales Kind. Doch wenn sich sein Gesicht verzog, die unartikulierten Worte seinen Mund noch größer erscheinen ließen und seine Finger sich seltsam streckten, floh Stephan innerlich vor dem Bedauern seiner Mitmenschen, weil er nicht wusste: Galt ihr Mitleid Alexander oder ihm?

Wut über seine Ohnmacht packte ihn, für die er sich im nächsten Augenblick schämte. Gleichzeitig wurde Miriam immer stiller.

Es folgte eine Zeit, in der sie sich mit schleppender Aufmerksamkeit überhäuften, doch keiner von ihnen konnte über die innere Verzweiflung sprechen.

An einem dieser Tage schlug Miriam erneut vor, sich von ihm scheiden zu lassen und die Fürsorge Alexanders allein zu übernehmen.

Das war für ihn der Moment, an dem er den Hebel umlegte! In seinem Denken! Er empfand es körperlich wie einen Knebel, der riss und ihn befreite.

Ein Weiterleben ohne Miriam und Alexander?

Das ging nicht!

Sie fielen sich in die Arme, weinten und küssten sich wie verzweifelt Ertrinkende. Dabei hatten sie sich gerade errettet.

Wieso konnten sie nicht glücklich sein mit einem behinderten Kind? Ein erfülltes Leben mit ihm und seinem Anderssein finden? Sie mussten es nur tun!

Er würde Miriam davon überzeugen, dass dies möglich war.

Nach langen Gesprächen und schlaflosen Nächten gelang es ihnen beiden, ihrem Denken eine Richtung zu geben, die sie planen und handeln ließ.

Sie sagten sich vor, dass dies ihr Wunsch war: Ein ganz anderes Leben zu führen, als sie es sich vorgestellt hatten.

Sie machten sich gegenseitig Mut, den sie noch nicht wirklich besaßen. Doch sie hatten keine bessere Wahl.