Der Ziegenmelker

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Letztendlich war es Alexander selbst, der ihnen mit seiner Hilflosigkeit und seinem Ausgeliefertsein die meiste Kraft gab.

Miriam strich eines Tages die Wände von Alexanders Kinderzimmer blau. Blau sei die Farbe der Genesung, behauptete sie. Blau sei Trost, Wiedergeburt, die Farbe des Firmaments und der Ozeane.

Sie brauchten ein anderes Ufer für ihn, fanden sie, und beschlossen, ihn behütet aufwachsen zu lassen und seiner Behinderung entsprechend zu fördern.

Wo gab es geeignete Pflegeeinrichtungen? Heime? Miriam wollte nach Möglichkeit in seiner Nähe bleiben und weiter als Ärztin arbeiten.

Und Stephan? Er durfte in diesem neuen Lebensabschnitt nicht untergehen. Miriam sagte, sie habe genauso viele Sorgengedanken für ihn wie für Alexander.

Sie schalteten Kollegen, Freunde bei ihrer Suche ein. Und fanden schließlich dieses Haus mit dem großen Garten. Etwas zurückgezogen und inmitten unverdorbener Natur.

Das Pflegeheim mit Kindergarten für Alexander befand sich im Einzugsbereich ihrer neuen Heimat.

Ein Arbeitsplatz in der Klinik der Kreisstadt wurde Miriam zugesichert. Frankfurt war in etwas mehr als einer Stunde mit dem Auto zu erreichen. Sie beschlossen umzuziehen.

Das ehemalige Bauernhaus hier war ihren Vorstellungen entsprechend umgebaut worden.

Miriam sagte, sie wolle in aussagekräftigen Farben leben, um sich zu erkennen, zu messen oder darin zu versinken. Jedem Zimmer teilte sie eine andere Farbe zu. Sie gab ihnen damit eine Bestimmung, einen Einfluss.

Zu ihrer großen Freude stellte sich heraus, dass Alexander eines Tages gehen konnte. Er lernte es verspätet und entwickelte seinen eigenen Stil, ein wenig schleppend und wiegend, doch er bewegte sich eigenständig vorwärts.

Verglichen mit anderen behinderten Kindern, die nur in Rollstühlen saßen, in die sie hinein- und herausgehoben werden mussten, war Alexander geradezu pflegeleicht. Das sagten sie sich zu ihrer eigenen Beruhigung.

Irgendwann hörte Stephan auf, in Selbstmitleid zu denken.

Er hielt in seiner Erzählung inne, ballte die Hände zu Fäusten und schlug die Knöchel gegeneinander. Es schien die dumpfe Bejahung einer gewaltigen Anstrengung zu sein.

Mir wurde bewusst, welch ein schwieriger Lebensabschnitt hinter den beiden lag.

Etwas ratlos drehte ich mich zu ihm um und suchte nach einem passenden Wort der Erwiderung, Anerkennung oder des Trostes, fand aber keins. Stephan kam meiner Sprachlosigkeit zuvor und sagte noch etwas ganz anderes: »Miriam setzte ihre Empfindungen in Farben um. Ich habe sie dabei sehr unterstützt und mich einverstanden erklärt, denn es gibt ja viele heftige Farbnuancen in unserem Haus. Das gefällt sicher nicht jedem. Aber es war und ist der Ausdruck ihrer Emotionen.

Für mich wurde die Musik eine große Hilfe. Ich hatte mich ihr nach meinem Ruhestand sowieso zuwenden wollen. Bis dahin spielte ich einigermaßen gut Klavier, Trompete und Saxophon.

Nachdem wir hierher gezogen waren, entdeckte ich die Orgel in der Kirche. Ein noch recht gutes Instrument, eine Peter-Orgel mit zwei Manualen, die ursprünglich einmal in einer anderen, größeren Kirche stand. Ich bekam den Schlüssel und begann, mich mit ihr anzufreunden und darauf zu spielen. Tagelang übertrug ich meine Trauer für meinen um ein normales Leben betrogenen Sohn auf diese Orgel.

Mein Spiel klang nicht besonders gut am Anfang, doch ich gab nicht auf. Ich ließ die Orgel restaurieren und stimmen und spielte meine Fragen fort. Zuerst laut, dann immer leiser, bis hin zum Pianissimo.

Seit knapp drei Jahren nehme ich Unterricht. Ich werde bestimmt kein großer Künstler, doch das Orgelspiel bereitet mir unsagbar viel Freude.

Im letzten Jahr habe ich ein Musikwochenende ins Leben gerufen. Hier. Mit und für Alexander. Und mit Freunden. Du würdest wunderbar dazu passen.«

Ich hatte das Haus und den Garten seit meiner Ankunft nicht verlassen. In meiner Erinnerung war das Dorf nicht groß, es war gewiss schnell zu erkunden.

Ich verließ daher mein Baumrefugium, ging an der Kirche und dem Friedhof vorbei, sah mir Häuserdächer, verwitterte, hölzerne Scheunentore, Schuppen und Verschläge an und wähnte mich bald an dem einen Ende des Dorfes.

Von der niedrigen Mauer des Gehöftes vor mir lag ein langes Stück herunter gebrochen auf dem Feldweg. Der Grasstreifen davor suchte sich mit langen, trockenen Sommergräsern den Weg zur Mitte. Wahrscheinlich gingen hier nur wenige Menschen entlang.

Hinter einem großen Walnussbaum zeigte sich mir ein offenbar aufgegebenes kleines Bauernhaus.

Das Dach des Wohnhauses war mit grau gewordenem Schiefer eingedeckt. Ein mit vielen Flecken behaftetes Wellblechdach schützte offenbar die Scheune noch immer vor Regen. Zur Mitte hin war eine Blechbahne eingedrückt, die zu rosten begann.

Trotz der Sonne vermittelte das verwitterte Grau der Fassade Trostlosigkeit. Seine Verlassenheit rührte mich.

Während ich es aufmerksam betrachtete, fand ich, dass das Haus ein trotziges Aussehen bekam: Wenn ich dir nicht gefalle, geh’ doch weiter, schien es mir zu sagen.

Viel weiter konnte ich nicht gehen. Am Ende des Gehöftes hörte der mit Gras bewachsene Weg auf. Und dann standen dort Haselnuss- und Weißdornsträucher, die ein großer, wilder Kirschbaum überragte.

Eine Eidechse hielt sich bewegungslos auf der Mauerschräge neben mir fest. Ich wollte in die Hocke gehen, um sie zu beobachten, als ich unmittelbar vor mir eine Stimme hörte.

Ich trat einen Schritt vor und sah eine ältere Frau, die mit heftig gestikulierenden Fingern auf das Gras deutete und zu jemandem sprach.

Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als sie mich sah und runzelte die Stirn.

Vor ihr in dem überwucherten Garten stand eine Ziege, die kurz aufsah und dann wieder zu fressen begann.

Ich sollte doch Ziegenmilch trinken, schoss es mir durch den Kopf.

»Ist das Ihre Ziege?«, fragte ich die Frau.

Sie antwortete nicht, sondern sah mich schräg von unten herauf an, als ob sie mich nicht verstanden habe.

»Ich soll nämlich Ziegenmilch trinken, mehrere Male am Tag«, fuhr ich fort.

»Wer hat das denn gesagt?«, kam es verwundert zurück.

»Ein Engel«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Ihre Augen maßen mein Gesicht mit einem Blick, der sagen wollte, der hat sie nicht alle beisammen.

Doch dann leckte sie sich ihre Unterlippe und erklärte mir in ihrem Dialekt: »Meine Ziegenmilch verkaufe ich niemandem, die behalte ich für mich. Im Nachbardorf gibt es aber eine richtige Ziegenwirtin. Sie macht Käse und sogar Eis aus Ziegenmilch. Kleine Zicklein hat sie auch. Davon macht sie Zickleinbraten für ihre Gäste.«

»Und dieses Haus hier? Gehört das Ihnen?«

»Oh nein«, wehrte sie ab, »das ist ja alles verkommen. Das gehörte einmal einem Franzosen. Aber er wohnt schon lange nicht mehr hier. Ich komme nur ab und zu mit meiner Ziege vorbei.«

Und dann ergänzte sie besserwisserisch: »Sie können das Haus kaufen, wenn Sie wollen. Sie müssen nur den Bürgermeister fragen.«

Ich weiß nicht, wie lange ich sie wortlos anblickte und dann sagte: »Das ist eine Idee! Das ist die Idee.«

Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und ließ sie stehen. Ich lief ein Stück auf dem Weg zurück wie in Panik, der plötzliche Gedanke, dieses Haus zu kaufen, könne mir abhandenkommen.

Zur Bekräftigung sprang ich in die Höhe, riss die Arme hoch und schrie: »Ja, ja, jaaa!«

Als ich mich umdrehte, sah ich, dass die Frau mir nachblickte. Sie hielt den rechten Zeigefinger an ihre Schläfe und drehte ihn hin und her. Plemplem, hieß das wohl. Mir war völlig egal, was sie dachte.

Ich rannte durch den Garten und bemühte mich, vor dem grünen Zimmer nicht mehr zu keuchen. Zu meiner Enttäuschung fand ich Stephan nicht im Haus.

Ich schlüpfte durch die Kirschbaumzweige, stellte mich mit dem Rücken an den Stamm und hielt mich mit den Armen an ihm fest.

Durch meinen Kopf wirbelten plötzlich unendlich viele Gedanken, die übereinander stolperten.

Ich wollte ein Haus kaufen? Ich? Das war absurd. Vielleicht war ich in einem Jahr tot. Und dann?

Ich krallte meine Finger in die Rinde des Baumstammes und gebot mir, einige Minuten an nichts zu denken. An nichts, nichts, nichts.

Nach einer Weile holte ich das Saxophon aus dem blauen Zimmer und setzte meine Gedanken in Töne um. Sie waren wie Grind auf dem Kopf, der nach und nach abblätterte.

Die Idee, das verwahrloste Gehöft zu kaufen, ließ mich nicht mehr los.

Bei der Abendsuppe erzählte ich meinen Gastgebern von meinem Vorhaben, das kleine Nachbarhaus zu erwerben und zu restaurieren. Stephan hob Alexander hoch und rief begeistert: »Gregor wird unser Nachbar!«

Während der Junge uns umwanderte, seine Arme hob und mit den Händen rudernd Striche und Zeichen auf die Fensterscheiben wischte, setzten wir uns auf die blaue Couch und besprachen mein Vorhaben.

Zuerst errichteten wir aus dem alten Gemäuer ein Luftschloss und belächelten es übermütig. Dann restaurierten wir es zu einem einfachen Haus mit dem Nussbaum davor, unter den ich eine Bank stellen wollte.

Zu meinen Bedenken, die doch noch einmal auftauchten, sagte Miriam sanft: »Tu es einfach.«

Einfach? Unter dem Kirschbaum dachte ich über dieses Wort nach. Warum war für mich nichts einfach?

Als es dunkel wurde, legte ich mich zum Schlafen mit einem Seufzer auf die blaue Couch.

Wie ein Mantra wiederholte ich immer lauter werdend Miriams letzte Worte und fürchtete in der Endlosschleife, das Feuer könne wieder über mir zusammenbrechen.

Es waren vielleicht ihre kühlen Finger auf meiner Stirn, die das verhinderten.

 

Ich wusste nicht, ob ich wach war oder schlief. Obwohl ich ihre Stimme hörte, konnte ich nicht wirklich verstehen, was sie sagte.

Ich musste sie dennoch verstanden haben, denn sie sprach, wie es schien, die ganze Nacht mit mir.

Irgendwann begriff ich, was sie mir mitteilte und speicherte es ab. Als ihre Stimme sich verlor, blitzte die Morgensonne die Saxophone an.

Im Haus war es still. Miriam war mit Alexander schon weggefahren und Stephan irgendwo unterwegs. Im grünen Zimmer auf dem Tisch stand mein Frühstück.

Ich nahm mir Zeit zum Essen, wie Miriam mich unterwiesen hatte, trank den herben Tee und räumte alles sorgsam weg. Dann erschien eine Frau, die, wie sie mir erklärte, den Haushalt hier besorge.

Zehn Minuten später lief ich über den kurzen Weg zu dem verfallenen Gehöft, das plötzlich eine solche Bedeutung für mich gewonnen hatte.

Die Sonne leuchtete die südliche Frontseite wie für eine Fotografie unerbittlich aus. Ich konnte deutlich das verwitterte Mauerwerk sehen, den abbröckelnden Verputz, bemerkte die Wasserschäden und hoffte, dass es in der Substanz zu erhalten und zu erneuern war.

Ich holte tief Luft, setzte meine Lippen an ein imaginäres Saxophon und blies die Tür auf. Danach gelangte ich zur Treppe und kam in die oberen Zimmer.

In den nächsten Sekunden spielte ich mich durch ein zerbrochenes Fenster und fand, es war zwar wenig, doch genug Raum für meine Belange vorhanden.

Mit diesen Wunschgedanken versuchte ich, die Haustür zu öffnen.

Es gelang mir nicht, doch nach einem vehementen Rütteln gab das alte Kastenschloss nach. Ich stemmte schließlich mein ganzes Körpergewicht gegen die Tür, bis sie sich mit einem knirschenden Laut zwei Fußbreit öffnen ließ.

Im nächsten Moment zwängte sich eine Katze durch den Türspalt. Mit einem Satz sprang sie an mir vorbei und verschwand hinter dem Nussbaum.

Ich drückte die Tür weiter auf und sah eine zweite Katze. Sie duckte sich, wölbte ihren Rücken und wartete auf die Gelegenheit, an mir vorbeizukommen.

Ich stellte mich kerzengerade gegen die Wand und blieb dort stehen. Im gleichen Moment brach mein rechter Absatz in den hölzernen Fußboden ein.

Die Katze nutzte die winzige Unterbrechung und schoss an mir vorbei. Ich zog den eingebrochenen Schuh heraus und besah den Schaden.

Der Fußboden war nicht gänzlich morsch, doch unterhalb der Leiste befand sich ein Mauseloch, und von dort her war die Diele wohl vermodert.

Ich sammelte die Brocken, Brösel und kleinen Steine auf und sah plötzlich zwischen den Schmutzkrümeln etwas blitzen. Ich nahm es hoch und bestaunte es verwundert.

Ein kleines Goldnugget von der Größe eines zerdrückten Marienkäfers lag in meiner Hand. Wie kam das wohl hier hin?

»Was ist das?«, fragte eine Stimme hinter mir, die ich zu kennen schien.

Die Frau mit der Ziege war mir gefolgt. Sie hockte sich mit einem beschwerlichen Schwung neben mich und starrte auf meine Hand.

»Gold«, sagte ich überzeugt.

»Ist da noch mehr?«

Ihre Augen wurden begehrlich. Sie fuhr mit ihren großen Fingern in das kleine Loch im Boden, um weiterzusuchen.

»Nein!«, wehrte ich ab und hielt ihre Hand fest. »Sie dürfen das Loch hier nicht weiter aufreißen. Ich habe das Haus gekauft und werde den Fußboden reparieren.«

Sie überhörte meine Lüge.

»Und wenn da wirklich noch mehr ist?«

Ich stand auf. »Das werde ich sehen.«

Die Erfahrung, dass sich Vorhaben eher realisieren, wenn man sie wirklich will, war mir eigentlich nicht neu. Dass mein Entschluss so viel sonderbare Freude in mir auslöste, überraschte mich dennoch.

Die Augen des Dorfbürgermeisters, den ich sofort aufsuchte, wurden immer runder und hoffnungsvoller, je mehr er aus mir herauspresste.

Sein Elan erschreckte mich, erinnerte mich an meinen Vater. Ich wurde schließlich einsilbig.

»Aij«, meinte er schließlich, »natürlich helfe ich Ihnen. Dieses kleine Haus, das Sie kaufen wollen, hat eine Geschichte. Soweit meine Informationen reichen, will ich sie Ihnen gerne erzählen:

Ursprünglich gehörte es einem Juden, einem Viehhändler, der den Bauern der Umgebung hier Rindvieh und Ferkel verkaufte. In den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts zog er ganz plötzlich weg, nach Palästina, hieß es.

Der neue Besitzer war ein Belgier aus der Wallonie, ein Maler. Bis vor dem Krieg malte er die Bauersleute hier, ihre Häuser, den Rhein, die Mosel, alles was ihm unter die Augen kam. Ich bin sicher, dass Sie in nicht wenigen Familien hier Bilder von ihm aus dieser Zeit finden.

Bei Kriegsanfang 1939 war er dann verschwunden. Nach dem Krieg tauchte er plötzlich wieder auf und erzählte, er habe sich versteckt, denn er sei grundsätzlich gegen Krieg. Alle haben ihm das auch geglaubt. Anfänglich sprach er nur französisch, später auch recht lustig deutsch. Hier wurde er nur ›der Franzos‹ genannt.

Hin und wieder verreiste er auch für eine Weile. Doch grundsätzlich blieb er im Dorf mit seiner Malerei. Sommers wie winters trug der kleine, schmale Mann eine Baskenmütze. Er wurde sehr alt und starb auch hier.

Nach seinem Tod wurde er von seinen Verwandten nach Belgien überführt und ist dort begraben worden. Er hatte wohl ein Testament hinterlassen, wonach das Haus fortan seiner Nichte in Metz gehörte.

Doch die, hieß es, sei sehr krank oder ebenfalls verstorben. Diese Nichte meldete sich trotz vieler Versuche, sie zu erreichen, nicht, so dass wir das hier zunächst als gesichert annahmen.

Die Sachen aus dem Haus, es war wohl nicht viel drin, wurden ebenfalls von den belgischen Verwandten abgeholt.

Erstaunlicherweise hatte dieser alte Maler für seine Kunst eine ganze Anzahl Liebhaber hier gefunden, eine Fan-Gemeinde wie das heute heißt.

Und es tauchten auch einige Bilder auf, die seine Verwandten übersehen oder nicht mitgenommen hatten.

Da weiterhin nichts geschah, wurden von den Leuten hier irgendwann nach seinem Tod die Bilder in der Sparkasse ausgestellt, die rechtmäßig erworbenen und die übrig gebliebenen. Die Eigentümer holten ihre Bilder nach einiger Zeit wieder ab, die anderen hängen heute noch dort.«

Der Bürgermeister lächelte entschuldigend.

»Herr Laif, in einem etwas gottverlassenen Dorf geht so etwas. Die Frau des Sparkassendirektors hütet die restlichen Bilder sozusagen und kümmerte sich lange Jahre um das Haus. Vielleicht auch heute noch. Wahrscheinlich wegen des Vorverkaufsrechts, falls die Erben sich doch noch melden.

Die Lage des Hauses ist nicht sonderlich attraktiv. Das Gehöft ist nur über den Feldweg, den Sie kennen, erreichbar.

Das Gebiet wird auch kein Bauerwartungsland werden. Dort ist kein Platz, denn wenige Meter weiter beginnt bereits die Böschung hinab in das Spiesstal.

Doch ein Liebhaberobjekt für jemanden wie Sie ist es allemal.«

Das Lächeln des Bürgermeisters wurde immer euphorischer. Er wollte mich unbedingt von meinem eigenen Plan überzeugen und fügte bekräftigend hinzu: »Seitdem Ihre Freunde, die Ärztin und der Pilot, dort das Nachbarhaus erwarben und umbauten, steht das Franzosenhaus in deren Sicht- und Schallschutz. Es ist jedes Jahr ein wenig mehr gealtert, doch es wurde kein Schindluder mit dem Haus getrieben.«

Ich hatte dem Bürgermeister stumm zugehört. Das kleine Gehöft wurde tatsächlich für mich immer erstrebenswerter.

»Gibt es einen Schlüssel?«, fragte ich, »es war recht einfach für mich, das alte Kastenschloss aufzudrücken. Ich möchte das Anwesen gerne kaufen.«

»Ich habe einen Schlüssel«, sagte er stirnrunzelnd, »wieso das Haus nicht abgeschlossen war, ist mir jetzt nicht erklärlich. Trotzdem …«

Der Bürgermeister streckte mir nach alter Sitte die Hand entgegen und hielt die meine für einen Augenblick fest.

»Ich freue mich, dass Sie es erwerben wollen und werde mich persönlich nach der Adresse der Eigentümerin in Metz erkundigen, das muss noch möglich sein. Sobald ich sie erfahre, melde ich mich.«

Sein Händedruck war fest und seine Erleichterung darüber, dass ich dieses verfallende Haus wirklich kaufen wollte, stand deutlich in seinem Gesicht.

»Wenn Sie möchten, kann ich gerade mal mit Ihnen hinübergehen. Ach, da fällt mir ein, die Sparkassengattin hat auch einen Haustürschlüssel.«

Er zog die Mundwinkel ein wenig belustigt herunter.

»So etwas wäre in Frankfurt nicht möglich«, meinte er.

»Nein, ganz und gar nicht. Ich bekäme auch nicht so schnell einen Termin. Ich konnte ja eben mal bei Ihnen vorbeischauen. OB und Baudezernat, fast alles in einem«, übertrieb ich ein wenig.

»OB heißt Ortsbürgermeister, das wissen Sie«, korrigierte er schmunzelnd.

Offensichtlich wegen seiner Befürchtung, mein Interesse an dem Gehöft sei doch nicht ganz so ernsthaft, versprach er mir jede Hilfe für den Kauf und die Restaurierung.

Das Dach des Wohnhauses habe der Besitzer vor Jahrzehnten noch erneuert. Das Scheunendach müsse ich untersuchen lassen, riet er, als wir uns dem Haus näherten.

Wir überquerten den verwilderten Hof, besichtigten sämtliche Räume und stiegen über die Treppen bis zum Speicher.

Eine Kiste mit fleckigen Lappen, einige alte Weidenkörbe und leere Weinflaschen lagen verstreut auf dem verstaubten Dachboden. Es war wirklich verwunderlich, dass das Haus nicht von Vandalismus gezeichnet war.

Der Bürgermeister redete und redete, sagte, wie er sich das alles vorstellen könne, und wie ich dies und jenes machen solle. Doch sein Wortschwall erreichte mich nur zur Hälfte. Schließlich gab er auf und sah mich an.

»Ah«, meinte er, »Sie haben gewiss Ihre eigenen Vorstellungen.«

Dann ging er. Ich ließ mich auf der Stelle auf den Boden fallen und sagte zu mir: »Ich bin verrückt!«

Ich hatte für diesen Kauf überhaupt kein Geld. Zu Finanzen hatte ich noch nie eine Beziehung. Wenn ich etwas benötigte, bekam ich es problemlos. Bisher waren meine Wünsche bescheiden gewesen, ich brauchte nie sehr viel. Doch um dieses Haus zu kaufen, benötigte ich einen höheren Betrag, den ich aufnehmen musste. Die Krux war: Ich hatte kein eigenes Einkommen. Keine Bank würde mir einen Kredit geben.

Ich rief vom blauen Zimmer aus meine Mutter an und erklärte ihr, ich wolle ein Haus kaufen. Vor Überraschung wurde sie sprachlos.

»Mutter«, sagte ich in die Stille hinein, »ich komme morgen nach Frankfurt und erkläre euch alles.«

Ich drückte auf den Knopf und unterbrach das Gespräch. Das war ungehörig und gemein, fand ich. Aber im Augenblick erschöpften mich Diskussionen mit meiner Mutter.

Ich empfand, dass ich dieses Haus wie in einem Atemzug kaufen und restaurieren musste, ohne viel nachzudenken. Diesen Wunsch wollte ich mir von niemandem zerreden lassen.

Für meine Eltern war ich nicht wichtig. So jedenfalls dachte ich bisher. Anders als meine Brüder, die Vorzeigesöhne waren. Sie bauten mit unserem Vater Hochhäuser, Brücken, Straßen und führten sein Unternehmen fort. Auf sie war er stolz.

Ich passte nicht in das gut funktionierende Schema und fiel besonders negativ auf, als sich meine Ängste so deutlich zeigten, und ich krank wurde.

Ernst genommen hatte meine Familie mich nie, außer Gernot, der mittlere von uns Brüdern. Man betrachtete mich als phantasievoll, pflegeleicht, bedürfnislos, ein ewiger Student. Ich war der kleine, verwöhnte Bruder, den man zuweilen liebevoll hänselte.

Mein Vater sagte mir, bevor ich fortlief, er gebe jede Summe Geld für die richtigen Ärzte für mich aus. Nun, vielleicht finanzierte er mir dieses Haus?

Mein Körper schien sich plötzlich an die vergangenen Spannungen zu erinnern. Kamen sie wieder? Ich legte die Hände auf meinen Bauch, hob den Kopf und sah geradewegs in Miriams Augen.

Sie stand mit einem kleinen Glas vor mir, holte mit einem Löffel etwas heraus und sagte: »Iss’ das, Gregor, auch wenn es scheußlich schmeckt. Ganz langsam.«

Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse und begann, die, wie sie mir erklärt hatte, speziell eingelegte Aprikose zu kauen. Sie war furchtbar bitter und salzig. In meinem Bauch angelangt, verbreitete sie jedoch eine wuchernde Wärme und dann … Leichtigkeit.

»Ich werde nach Frankfurt fahren und meinen Vater bitten, mir das Geld zu leihen.«

Ich sagte leihen, fiel mir auf, also wollte ich es zurück zahlen. Miriam legte mir die Faust auf die Brust, sacht, mit einem kleinen Druck.

»Tu das!«, sagte sie, »mache alles bewusst, mit Achtsamkeit. So wie du bewusst isst, damit du den Geschmack auf der Zunge spürst, die Süße, das Salzige und das Bittere. Es wird dir nicht sofort gelingen, doch du lernst es, wenn du daran denkst und es willst.«

 

Ich fuhr am nächsten Morgen zu dem Waldstück, auf dessen Weg ich den kleinen Elefanten gesehen hatte. Mein Herz hämmerte vor Aufregung gegen meine Rippen, als ich ausstieg. Ich wollte ihn unbedingt finden und mitnehmen. Wo war er? Wo lag er in meiner Erinnerung?

Ich ging den Weg dreimal ab. Meine Augen suchend zuerst rechts, dann in die Mitte, dann links gerichtet. Nichts. Ich untersuchte das nächste Stück Weg. Dort entdeckte ich ihn auch nicht. Schließlich kehrte ich bekümmert um, immer noch in meiner Erinnerung wühlend.

Standen da nicht Hecken vor dem Abhang, den ich hinunter gegangen war? Ich lief zurück zu dem Schlehengestrüpp, bohrte wie besessen meinen Blick auf den Weg, suchte zentimeterweise das Gebröckel ab und entdeckte schließlich ein ganz kleines, helles Stückchen Farbe in den Lavabröseln.

Mit der Behutsamkeit eines Archäologen scharrte ich ihn frei. Ich hatte gefunden, was ich suchte! Doch das Spielzeug war nicht weiß, sondern hellgrau. Ich nahm es hoch und drückte es gegen mein Gesicht. Mit einem idiotischen Gefühl von unbändiger Freude.

Der Bauch des Elefanten war auf der linken Seite eingedrückt, der linke Fuß und der kleine Rüssel vorne waren ebenso schwer verletzt.

Ich legte meine Hände wie einen Verband darum, lachte und weinte fast und schrie in die Schlehenhecken hinein: »Ich werde dich verbinden, heilen, kurieren. Wir ziehen zusammen in das Haus dort unten!«

Im Auto legte ich ihn behutsam auf den Sitz neben mir und fuhr nach Frankfurt.

Bei der Einfahrt in unseren Hof erinnerte ich mich an den knirschenden Kies bei meiner Flucht. Das schien lange her zu sein. Und was war seither alles geschehen?

Der Kies knirschte auch jetzt, doch anders. Welches Datum hatten wir?

Ich empfand mit einem kleinen Erstaunen, dass ich aus der Zeit gefallen war. Mein nicht aufgeladenes Handy und mein altes Auto existierten unverändert, nur ich nicht. Ich hatte unbewusst eine zeitlose Zeit mit unzeitgemäßen Gedanken verbracht.

Nun brauchte ich dringend die Gegenwart. Ich tauchte in mein früheres Leben wieder ein.

Mit Erleichterung sah ich den kleinen Renault meiner ehemaligen Kinderfrau neben der Treppe stehen. Florenza war da. Sie gehörte von Anfang an zu mir dazu. Alles wurde gut.

Meine Mutter und Florenza hatten sich als Wöchnerinnen in der Klinik kennen gelernt. Ihre Tochter Ines und ich wurden fast zur gleichen Zeit geboren.

Einige Zeit nach meiner Geburt kam Florenza tagsüber zu uns ins Haus und wurde die getreue Überall-Hilfe meiner Mutter. Die Geschichte hatte ich oft gehört.

Mit ihrem Mann war sie, gerade verheiratet, mittellos aus Portugal angereist und dann sofort schwanger geworden.

Dass die deutsche Frau aus der Klinik sie mit dem Kind in ihren Dienst nahm, das zeigte sie meiner Mutter mit einer übergroßen Hilfsbreitschaft und Dankbarkeit.

Und als diese Senhora, so erfuhr ich weiter von meiner Mutter, sechs Wochen nach meiner Geburt Milchpulver für mich benötigte, blickte Florenza sie bittend an. Sie zeigte auf ihre prallen Brüste. Dort war genug Milch für zwei Kinder.

Bitte, hatte sie gesagt, bitte. Sie sprach noch wenig deutsch. Meine Mutter schluckte, hielt ihrem flehenden Blick stand und ließ dann zu, dass Florenza meine Amme wurde. In einer Zeit, in der Ammen bei uns überhaupt nicht mehr üblich und Milchpulver der Renner waren.

So stand auch immer ein Fläschchen abgepumpter Milch im Kühlschrank, wenn Florenza am frühen Abend in ihre eigene Wohnung zurückkehrte.

Mein Vater wusste nichts davon. Das Ammensein fiel nicht auf. Die Freundschaft der beiden Frauen gefiel ihm dagegen. Sie verbreitete eine angenehme Ausgeglichenheit im Haus. Alle Probleme, die mit seinem neuen Kind auftauchten, wurden durch die beiden Mütter gelöst und tangierten ihn nicht.

Florenza konnte alles, kochen, nähen, bügeln, putzen und sonderbar schön singen. Sie hatte ein »Gärtchen« organisiert, ein rundes Kindergitter mit Rollen, zusammenklappbar, das sie, mit uns beiden darin, überall mitzog, wo sie gerade arbeitete.

Ines und ich hielten uns so lange in diesem Gärtchen auf, bis wir darüber kletterten und herausfielen.

Das Unglück, dass Ines mit vier Jahren in ein Auto lief, ihrem Vater entgegen, und dabei tödlich verletzt wurde, war für uns alle unfassbar, ein schrecklicher Schock. Die Trauer lähmte uns lange. Auch mein Vater zeigte Betroffenheit.

Florenza und ihr Mann wurden immer schmaler, sie schienen aus ihrem Kummer gar nicht mehr heraus zu gelangen. Sie bekamen auch kein weiteres Kind.

Meine Mutter und Florenza redeten manche Stunde von Ines und holten sie in ihren Erinnerungen zurück. Sie sahen sich die Fotos an, weinten und trösteten sich gegenseitig. Ich saß dabei, hörte ihnen zu und schlief zuweilen darüber ein.

Meine eigenen Erinnerungen an Ines verblassten mit der Zeit. Florenza blieb weiter bei uns. Sie war so notwendig geworden wie das tägliche Brot.

All ihre Liebe, die eigentlich ihrer Tochter gebührte, ergoss sich nun auf mich. Sie hatte mich ›vermädelt‹, wie sie einmal sagte. Ich wurde maßlos verwöhnt, verzärtelt. Vielleicht war auch das ein Grund meiner Schwäche. Als sie erfuhr, wie krank ich sei, weinte sie sich die Augen rot.

Ich verscheuchte diese Gedanken und stieg die Treppe hinauf. Die Tür öffnete sich wie von selbst. Im nächsten Augenblick hing Florenza an meinem Hals.

»Gregor!«, rief sie »Gregor, du bist zurück! Welch ein Glück.«

Sie umklammerte mich heftig, trat dann einen Schritt zurück und rief mit der gleichen Lautstärke:

»Katharina, Katharina, komm’ schnell, Gregor ist hier!«

Meine Mutter kam, sah mich mit großen Augen verlegen an und drückte mich dann ebenfalls an sich.

Jetzt war auch ich verlegen. Ich löste mich aus ihren Armen und sagte: »Ich gehe hoch in mein Zimmer und komme nachher herunter.«

Krebs. Krebs ist in der Welt, zusammen mit den Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die Todesursache Nummer eins.

Der Krebs war nun hier, in diesem Zimmer, in mir. Hier hatte ich meiner Mutter die Diagnose mitgeteilt und gesehen, wie ihr die Angst in die Augen sprang, ihr Gesichtsausdruck sich veränderte, ihre Beine den Dienst versagten. Sie musste sich setzen.

»Gregor, aber …«

Es gab kein aber. Es war so.

Zuerst hatte ich mich daran festgeklammert, dass mit Sicherheit die Untersuchungsergebnisse vertauscht worden waren. Die Ärzte hätten sich geirrt, mich mit einem anderen verwechselt. Doch nein, es gab keine Verwechslung. Die Auswirkungen spürte ich immer deutlicher.

Bruchstückhaft, dennoch sehr klar, konnte ich mich mit einem Mal an die Reaktionen von Freunden und Bekannten erinnern, wenn sie von einer Krebserkrankung erfuhren.

Ich hatte ihr Bedauern gesehen, ihre Hilflosigkeit und Verlegenheit. Sie nahmen einen Anlauf und sprachen Betroffenen Mut zu. Was sollten sie einem Krebserkrankten auch sonst sagen?

Und was soll einer antworten, der plötzlich diesem Todesurteil gegenüber steht?

Meist wurde es zwar nicht gleich vollstreckt, aber es war eins. Und bei jungen Menschen ginge es oft schneller, wussten sie aus Erfahrung.

Die Betroffenen nahmen Zuflucht zu bekannten Kliniken und guten Ärzten. Sie erzählten von Operationen, Bestrahlung und Chemo, ertrugen Haarausfall, künstliche Ausgänge, Erschöpfung und Schmerz.

Es war ein beharrliches, verzweifeltes Bemühen, den Krebs zu besiegen, wieder gesund zu werden. Zu einem Leben ohne Krebs zurückzukehren. Bloß wie? Jeder Strohhalm wurde als Rettungsanker angesehen.

Jegliche Probleme außerhalb dieses Kreises, in den sie geraten waren, schrumpften. Vordergründig waren sie nicht wichtig.

Der »Wendekreis des Krebses« kam mir in den Sinn. Auf diesem Breitenkreis der Erdoberfläche erscheint die Sonne einmal im Jahr zur Zeit der Sommersonnenwende im Zenit.