Loe raamatut: «Sieben Welten - Seven Summits»

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Geri Winkler
Sieben Welten – Seven Summits


Für Sylvia

Kein Horizont ist so fern,

dass wir ihn nicht erreichen könnten

Geri Winkler

INHALT

Von großen Träumen und kleinen Schritten

Kapitel 1

ELBRUS – An Europas wilder Grenze

Wie alles begann

Zu Lenins vergessenen Erben

Kapitel 2

ACONCAGUA – Aus den Regenwäldern zum Berg der zornigen Winde

Diamanten, Ganoven und ein Hauch von El Dorado

Caribbean Ice

Kapitel 3

MOUNT VINSON – Eiswelten unter dem Kreuz des Südens

Stürmische Pforte der Weltmeere

Antarctica – Bergabenteuer in der weißen Unendlichkeit

Kapitel 4

CHOMOLUNGMA – Vom tiefsten Punkt der Erde auf den Gipfel des Mount Everest

Einleitung

Mit dem Rad vom Toten Meer in den Himalaya

Pfade zu den Bergen der Götter

Expedition Endpunkt

Kapitel 5

KILIMANDSCHARO – Im Rausch der Farben Afrikas

Perlen der Vergessenheit

Das weiße Dach Afrikas – der Weg als Ziel

Kapitel 6

NEMANGKAWI/CARSTENSZ-PYRAMIDE – Auf Wegen jenseits der Zeit

Bakopa und das Ende dieser Welt – Trilogie aus drei Jahrtausenden

Wald der Geister

Schneesturm am Äquator

Kapitel 7

DENALI/MOUNT MCKINLEY – Abenteuer unter der Mitternachtssonne

Auf den Spuren des Goldrausches

Himmelsleiter der Arktis

ANHANG

Besteigungsdaten

Nachwort

Dank

VON GROSSEN TRÄUMEN UND KLEINEN SCHRITTEN

Der kleine Junge, der von seinem Kinderzimmer auf die Zinnen der Götter blickt, in seinen frühen Tagen an Felsen herumkraxelt und später zu den Bergen der Welt aufbricht – nein, der bin ich nie gewesen. Ein Meer aneinandergereihter Häuserfronten in meiner Heimatstadt Wien und die Zerstreuungen städtischer Jugendlicher haben meinen Erfahrungshorizont geprägt.

Doch da war etwas gewesen, das schon in früher Kindheit meine Sehnsüchte weckte. Ich wünschte mir einen Globus. Ich saß vor aufgeschlagenen Atlanten, betrachtete die abstrakten Abbildungen fremder Welten und wusste, dass ich eines Tages dorthin aufbrechen werde.

Später habe ich die Liebe zu den Bergen entdeckt, hatte dann aber hart mit meiner Höhenangst zu kämpfen und konnte nie eine ansprechende Klettertechnik entwickeln.

Ein Bergsteiger bin ich eigentlich nie gewesen. Ein Reisender, der die Lebensformen fremder Völker, der die Wüsten, Meere, Wälder und auch die Berge ferner Länder erkunden will – das war mein Lebenstraum. Schon früh bin ich mit dem Rucksack in die Welt aufgebrochen, habe in klapprigen Bussen die Faszination des Fremden erlebt. Bald wollte ich mehr. Ich wollte mich nicht mehr darauf beschränken, mit öffentlichen Verkehrsmitteln von einem städtischen Zentrum zum nächsten zu gelangen. Fremde Länder zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu bereisen, das wurde für mich die intensivste Form der Begegnung, verbunden mit der größten Freiheit. Wochenlang wanderte ich durch abgeschiedene Täler und kleine Dörfer, erlebte die Bewohner in ihrer Ursprünglichkeit und bestaunte die zu beiden Seiten aufragenden Berge. Oft verhinderten einige Meter anspruchsvoller Kletterpassagen, dass ich zu ihren Gipfeln vordringen konnte. So fand ich in bescheidenem Ausmaß zum Klettern zurück – als Mittel zum Zweck, um auch die spektakulären Bergwelten in meine Reiseerlebnisse einfließen lassen zu können. Doch das alles sollte bald vorbei sein!

Als ich 1984 Diabetiker wurde, hat man mir vom ersten Tag an geraten, meine lang gehegten Reiseträume und meine erst kurz zuvor entflammte Bergleidenschaft für immer zu vergessen. Weiße Wände, weißes Bettzeug, die Sterilität des Krankenzimmers hatte mich gefangen genommen. Lautloses Grau meiner Gefühle! Tage, die so regelmäßig waren, dass sie in ihrer Gleichförmigkeit ihr Antlitz verloren, denen jede Farbe fehlte – mit solchen Tagen sollte ich künftig mein Leben verbringen. Nur in Büchern und Tagträumen folgte ich damals noch den aufregenden, oft zu Mythen verklärten Pfaden großer Abenteurer.

Hatte ich erahnen können, welch positives Wandlungspotenzial in einer chronischen Erkrankung verborgen liegen kann? Ich fand nach wenigen Jahren meinen individuellen Weg, meinen Diabetes in meine Lebensträume zu integrieren. Ich ging wieder auf Reisen, die langen Ferien gaben mir als Lehrer dazu ausreichend Möglichkeiten.

Jedes neue Reiseabenteuer steigerte mein Selbstbewusstsein, zu immer aufregenderen Zielen aufzubrechen. 1992 wanderte ich auf der Insel Neuguinea wochenlang mit drei Freunden auf Dschungelpfaden zu den Dörfern der dort steinzeitlich lebenden Urvölker, und es waren zum Teil neue, von Fremden bisher unbegangene Pfade. Der Bann war gebrochen! Der Aufbruch in ein Leben der Grenzenlosigkeit sollte keine Utopie bleiben, kein abgeschottetes Refugium, das nur den großen, bekannten Abenteurern vorbehalten ist.

Auch meine Bergleidenschaft erwachte zu neuem Leben. Doch das Bergsteigen blieb, was es immer für mich gewesen war: nie Ziel seiner selbst, stets Teil eines komplexen Reiseabenteuers. Auch meine Erlebnisse an den Seven Summits habe ich immer unter diesem Aspekt gesehen. Das vorliegende Werk ist daher kein Bergbuch im eigentlichen Sinn, es ist eine Reise in jene Welten, in der diese sieben faszinierenden Gipfel beheimatet sind.

Als ich 2004 an Krebs erkrankte, wusste ich, dass ich dieser neuen Herausforderung mit der gleichen Strategie begegnen werde, die auch nach meiner Diagnose Diabetes zum Erfolg geführt hatte. Die intensivsten Jahre meines Lebens sollten meiner erfolgreichen Krebsoperation folgen.

Schwierigkeiten? Es waren nie die letzten Schritte gewesen, die mich Überwindung kosteten. Es waren immer die ersten Schritte, die all meine Kräfte forderten – die ersten Schritte aus der Komfortzone des Alltags hinaus in ein unwägbares Abenteuer, die ersten Aktivitäten am Morgen in einem eisigen Zeltlager, die Momente vor dem Aufbruch. Danach, auf dem Weg, war alles viel leichter!

WIE ALLES BEGANN

Wirklich ernst habe ich diese Aktion nicht genommen. Dass ich damit eine kleine Lawine in meinem Leben lostreten sollte, damit hatte ich wohl am allerwenigsten gerechnet. Aber alles der Reihe nach!

Der Frühling ließ die Großstadt wieder zum Leben erwachen, die warme Jahreszeit rückte näher und es war an der Zeit, Reisepläne für die Urlaubswochen reifen zu lassen. Ein Siebentausender soll es in diesem Sommer werden, darüber sind sich Thomas und ich schnell einig. Ein leichter Siebentausender, denn wir wissen, dass wir mit der Höhe noch genug zu kämpfen haben werden. Asienkarten, denn nur dort gibt es Siebentausender, nehmen den kleinen Tisch im Kaffeezimmer in Beschlag. Eine Idee nach der anderen sprudelt aus Thomas und mir heraus, während die mit ihren Kaffeetassen an den Rand gedrängten Kollegen bald nur noch die Köpfe schütteln. Was um alles in der Welt treibt diese Verrückten in der schönsten Jahreszeit in menschenfeindliche, eisige Höhen? Pik Lenin heißt unser erwählter Berggigant – Sommerurlaub in Zentralasien, mal etwas anderes!

Seit siebzehn Jahren bin ich Diabetiker, ohne mein Insulin kann ich nicht leben. Ob dies immer ein Nachteil sein muss? Ich will es wissen! So sende ich eine E-Mail an alle Unternehmen, die Blutzuckermessgeräte in Österreich vertreiben, biete an, ihre Geräte unter extremen Outdoor-Bedingungen zu testen, führe meinen Kumpel Thomas als nicht-diabetische Kontrollperson für Parallelmessungen an und verspreche großzügig umfangreiches Datenmaterial. Nun, ganz so großzügig ist mein Angebot doch nicht, schließlich denken wir an einen ergiebigen Reisezuschuss. Zu verlieren habe ich ja nichts! Nützt die Anfrage nichts, so kann sie auch nicht schaden! Ich drücke auf „Senden“ und vergesse die ganze Sache bald wieder. Wer soll sich schon für mich interessieren? Die Diabetiker-Kundschaft dieser Unternehmen strömt nicht gerade in Scharen auf Siebentausendergipfel, das Interesse der Firmenvertreter, wie ihre Produkte in eisigen Höhen funktionieren, wird wohl eher bescheiden sein.

Doch bald traue ich meinen Augen nicht. Da haben sich doch tatsächlich einige Unternehmen gemeldet, die wissen wollen, was ihre Geräte in Sphären jenseits der Gemütlichkeit taugen. Damit ist nicht nur unser Pik Lenin finanziert, da machen wir auch noch Gewinn. Nein, Gewinn wollen wir keinen machen. Da nehmen wir doch lieber noch einen Berg dazu. Ich habe mit dem Muztagh Ata schon einen Siebentausender zu Buche stehen, darum weiß ich, was ich an solchen Touren in große Höhen gar nicht schätze. Es ist dieses ewige Auf und Ab am selben Berg. Ein Stück hinauf, Lastentransport und dann alles wieder runter. Das nächste Mal dieselbe Prozedur, nur eine Etappe weiter, und wieder alles zurück. Beim dritten oder vierten Mal kann man dann den Gipfel ins Auge fassen. Das Ganze ist notwendig, da sich der Körper nur in kleinen Schritten an die immer größere Höhe und dünnere Luft anpassen kann. Warum also nicht vorher einen anderen, etwas niedrigeren Gipfel besteigen, um dann gut akklimatisiert am Pik Lenin aufzutauchen und dieses langwierige Prozedere deutlich zu verkürzen? Ein erstrebenswerter Nachbargipfel muss her! Da scheint der Elbrus im Kaukasus recht günstig zu liegen – zumindest auf der Landkarte, in natura ist er satte 3000 Kilometer entfernt. Der Elbrus ist mit seinen 5642 Metern der höchste Berg des Kaukasus und der höchste Gipfel Russlands. Pik Lenin und Elbrus waren also unser Ziel: Zwei faszinierende Bergregionen, zwei grundverschiedene Völker, zwei Gipfel zum Träumen und dazwischen noch zwei Ruhetage in Moskau – was kann man sich Besseres wünschen!

ZU LENINS VERGESSENEN ERBEN

Landeanflug auf Moskau – Minuten später ziehen wir im Strom der Passagiere erwartungsvoll in die Ankunftshalle. Stau! Das neue Russland hat vor den Pforten des Sheremetyevo-Flughafens von Moskau Halt gemacht. Die Erben von Stalin und Breschnew haben hier ihr Refugium gefunden. Willkommen scheint außer ihnen selbst aber niemand zu sein. Mit versteinerter Miene thronen diese ewig Gestrigen in ihren Glashäuschen, delektieren sich an Hunderte Meter langen Warteschlangen und bringen nichts weiter. Der „Kalte Krieg“ gegen die Einreisewilligen wird mit Akribie und Effizienz geführt. Thomas und ich gehören zu den Glückspilzen, wir sind weit vorne gelandet. Nur etwa zwanzig Ankömmlinge warten vor uns auf die Gnade, den Einreisestempel in den Pass gedrückt zu bekommen. Unter zwei Stunden ist da kaum etwas zu machen. Mitfühlend blicke ich auf die Verdammten am Ende der langen Reihe. Werden sie Moskau noch erleben?

Die groteske Situation hat auch ihr Gutes: Das Warten verbindet, es entstehen neue Bekanntschaften und bald herrscht heiteres Treiben, das nur hin und wieder gestört wird durch strenge Ordnungsrufe aus dem Glaskontor.

Sie können sich nicht verstecken. Sie sehen überall gleich aus auf dieser Welt, man kann sie mit ihren bunten Hosen und Jacken, ihren halbhohen Trekkingschuhen und ihren lässig über die Schulter geworfenen Tagesrucksäcken auch unter Hunderten nicht verfehlen – die Bergbegeisterten. So erkennen wir ohne Schwierigkeiten in der Menge der Wartenden unsere vier Bergkameraden aus Deutschland, die wir zuvor noch nie gesehen haben. Schnell entwickelt sich die beste Plauderei, die unwirschen Genossen können uns mit ihrer Hinhaltetaktik nicht mehr kratzen. Erstaunt nehmen wir das abrupte Ende unserer Unterhaltung hin. Wir sind tatsächlich dran, die Einreisestempel knallen in unsere Pässe. Das Erlebnis Russland beginnt.

Kilometerlang kurven wir durch triste Plattenbausiedlungen, jede Straße sieht der anderen zum Verwechseln ähnlich, ehe wir ins kleine, aber sehenswerte Zentrum von Moskau gelangen.

Viel hat sich verändert seit meinem letzten Besuch in Russlands Hauptstadt vor zehn Jahren. Das Leben ist bunt geworden, Lebensfreude und Ausgelassenheit in den Straßen und Biergärten der Altstadt. In der Glitzerwelt des Kaufhauses Gum am Roten Platz traue ich meinen Augen nicht. War das nicht jene Markthalle, in der sich noch vor einigen Jahren Tausende Russen in dichtem Gedränge mit Billigfetzen eingedeckt haben? Die Kundschaft ist rar und elitär geworden. Die „Fetzen“, die man heute in diesen prunkvoll renovierten Arkaden erwerben kann, sind auch für die meisten westlichen Geldtaschen nicht mehr leistbar – Markenware vom Feinsten aus aller Welt.

Nach der Wanderung durch Moskaus Altstadt kehren wir zurück in unser Hotel, das zumindest den Vorteil hat, dass man es nicht verfehlen kann: ein riesiger Betonblock mit 3200 Zimmern, 5400 Betten – eine Kleinstadt in einem einzigen Haus! Wir sind hier in guten Händen. Eine Concierge wacht am Ende der Zimmerflucht die ganze Nacht über uns und kümmert sich rührend um unsere „Bedürfnisse“, indem sie die Zimmernummern westlicher Touristen an freundliche, junge Damen verhökert, die uns dann im Fünf-Minuten-Takt per Zimmertelefon aus dem Schlaf reißen und ihre reizenden Dienste anbieten.

Der Anflug auf Mineralnye Vodý ist eine Erfahrung der eigenen Art. Flugzeugwracks jeder Bauart säumen malerisch die Runway und erinnern uns daran, dass wir durchatmen können. Wir sind sicher gelandet und rollen langsam auf das kleine Flughafengebäude zu. Da warten sie schon auf uns, mit freundlichem Lächeln heißen sie uns willkommen, Nikolai, Edip und Tanja, unsere drei Bergführer für den Elbrus. Drei Bergführer für sechs Gipfelaspiranten? Ungläubiges Staunen, mit Bergführern hatten wir gar nicht gerechnet. Das technische Know-how für eine eigenständige Besteigung dieses Kaukasus-Riesen bringt jeder von uns von zahlreichen Alpentouren mit. Doch wir sind weit davon entfernt, auf unsere Eigenständigkeit zu pochen. Mit diesen drei geselligen Russen durch den Kaukasus zu touren, das wird sicher unterhaltsam werden! Es wird uns manche Tür öffnen und manch verstecktes Juwel dieser Gebirgswelt zutage bringen. Das Großaufgebot an Bergführern findet schnell eine plausible Erklärung. Tanja ist Nikolais Freundin, Edip ist Bergführer-Lehrling, und beide wollen wie wir erstmals auf dem Elbrus-Gipfel stehen. Nikolai Kadoshnikov ist allerdings ein großes Kaliber in der Bergsteigerszene. Den Mount Everest hat er im Vorjahr bestiegen, den Makalu zwei Jahre zuvor.

Ein liebliches Flusstal führt uns hinauf in grandiose Bergregionen. Diese Welt ist ein Schmelztiegel verarmter Völker, wo der russische Einfluss sich in den asiatischen Basaren verliert. Alte Menschen mit mikroskopisch kleinen Renten fristen hier in noch älteren Holzhäusern ihr bescheidenes Dasein. Die Jungen sind längst zu den Geldquellen der Großstädte abgewandert, auch die zahlungskräftigen Bergtouristen sind zu neuen Zielen aufgebrochen, denn der Zerfall der Sowjetunion brachte auch das Ende der staatlichen Förderung des Alpinismus mit sich. Die Bergvölker des Kaukasus sind aus dem festen Zugriff der Kommunisten in die Vergessenheit abgerutscht. Der bröckelnde Verputz liebloser Hotelanlagen erzählt traurig von besseren Zeiten.

Auch unser Hotel Itkol, ein trostloser Plattenbau aus den Sechzigerjahren, bildet keine Ausnahme. Rissige Außenwände, muffige Teppichböden, herausgebrochene Schlösser, nie ersetzte Glühbirnen – dennoch finden wir in dieser abgewohnten Unterkunft alles, was das anspruchslose Bergsteigerherz begehrt. Im Matratzenlager auf den Berghütten in den Alpen können wir uns schließlich auch nicht einschließen und schlafen deshalb auch nicht schlechter. Fehlende Lichtquellen schrecken uns nicht, wir haben unsere Stirnlampen.

Kleine Eingehtouren führen uns zu den fast senkrechten Eiswänden des Kaukasus. Sobald wir die Pfade dichter Nadelwälder verlassen, gelangen wir in eine tief zerrissene Gletscherwelt – ohne Übergang. Zonen karger alpiner Vegetation können wir hier kaum entdecken. Die Landschaft ist wie ein Gemälde aus dunklem Grün, blendendem Weiß mit steil aufragenden, schwarzen Zacken, die den tiefblauen Himmel berühren! In dieser grandiosen Bergwelt vergessen wir unser großes Ziel, den Elbrus, und kommen ihm doch näher. Die Touren zum Gumachi-Pass und auf den Cheget Bashi dienen der Akklimatisation, der Gewöhnung unserer Körper an die sauerstoffarme Luft am Gipfeltag.

Wir verlassen die Niederungen und brechen zum Elbrus auf. Staunend betrachte ich Nikolais und Edips überdimensionale Rucksäcke. Nachdem wir die Nahrungsmittel redlich auf unsere neun Gepäckstücke aufgeteilt haben, frage ich mich, was sie haben und wir nicht haben. Mit unseren Lasten steigen wir hinauf zu den berühmten Barrel Huts in 3800 Metern Höhe, riesige Fässer, in denen Bergsteiger schlafen, kochen und sich auf ihren Gipfelsturm vorbereiten – für viele das Basislager am Elbrus. „Kein Platz!“, lautet die ernüchternde Auskunft des amtierenden Hausmeisters. Hätte sich darum nicht Nikolai kümmern müssen? Ratlosigkeit, Achselzucken, wir stapfen weiter durch den Schnee. Besonders einladend haben diese runden Behausungen ohnehin nicht gewirkt. Nur etwa 50 Meter höher sehen wir auf einem Felsvorsprung eine winzige Holzhütte in grandioser Lage. Sie gehört dem geologischen Institut der Moskauer Universität und ist mit einem riesigen Schloss versperrt. Nikolai hat in seinem Rucksack alles, was man zum Bergsteigen in Russland benötigt. Zuallererst die Feile! In wenigen Minuten ist die Hütte offen und großmütig wie Nikolai eben ist, hat er gleich ein neues Vorhängeschloss mitgebracht. Acht enge Lagerplätze finden sich in dem kleinen Raum, Zeit zum Kuscheln für Nikolai und Tanja. Das Geheimnis von Nikolais und Edips großen Lasten ist schnell gelüftet: Elf Flaschen Wodka und einige Flaschen Bier kommen auf den Tisch. Unser durch fleißiges Feilen erworbenes Basislager lässt keine Wünsche offen, der Gipfelsturm kann beginnen!

Wir wandern hinauf zu den Pastuchova-Felsen in über 4700 Metern Höhe, um unser Blut noch einmal kräftig mit roten Blutkörperchen aufzurüsten, denn unsere lange Gipfeletappe soll nicht an der Höhenanpassung scheitern. Dabei kommen wir an der Prijut-Hütte in 4100 Metern Höhe vorbei. Das wäre die ideale Basis für eine Elbrus-Besteigung. Wäre gewesen! Die Hütte ist vor einigen Jahren abgebrannt. In ihren Ruinen haben einige russische Bergsteiger ihr spartanisches Höhenlager eingerichtet. Sie hatten offensichtlich dieselben Probleme wie wir mit den überfüllten Barrel Huts, aber keine Feile im Gepäck.

Die Ruhe vor dem Sturm! Am Ruhetag vor unserer Gipfeltour wollen wir unsere Speicher noch einmal füllen. Wir liegen in der Sonne auf unserem exponierten Plätzchen, können unsere Augen nicht von den grandiosen Kamelbuckeln, den beiden Hauptgipfeln des Elbrus, abwenden und genießen den Tag in dieser herrlichen Gletscherwelt. Den Tag genießen? Da wäre doch ein Bier nicht schlecht. Gibt es leider nicht mehr! Kurzerhand legen Ralph, Lutz und ich unsere Steigeisen an und steigen 500 Meter hinunter zur Mir-Station, dem Endpunkt der Seilbahn. Honeymooner bevölkern den Platz, drehen in High Heels und Lackschuhen einige Runden im Schnee, lassen sich von allen Seiten abknipsen und verschwinden wie wir in der schummrigen Bar. Ein Bier bitte! Für jeden eines? Ja, für jeden! Es sollte bei einem Bier bleiben, der Inhalt der Flasche beträgt satte 2,25 Liter. Gut hydriert machen wir uns an den langen Anstieg zu unserem Feriendomizil.

Der Aufstieg auf den Gipfel des Elbrus verläuft unspektakulär. Am Morgen des 19. Juli 2001, knapp nach drei Uhr früh, stapfen wir im Schein der Stirnlampen los, der gewaltige Höhenunterschied von 1800 Metern ist die einzige Herausforderung an diesem technisch einfachen Berg. Das tut aber unserer Ausgelassenheit keinen Abbruch, als wir dann in der Mittagssonne am höchsten Punkt Russlands und des gesamten europäischen Kontinents1 stehen. Farben von Amethyst bis Blau-Violett bedecken ein Meer kleinerer Berge, deren Konturen ineinanderfließen, so sanft, als wären sie von einem Weichzeichner geschaffen. Lange genießen wir das seltsame Farbenspiel der Natur. Zufrieden und gelassen machen wir uns schließlich an den Abstieg. Wir können nicht wissen, dass der Tag noch einige aufregende Stunden für uns bringen wird. Unterhalb des Sedlowina-Sattels, dem Einschnitt zwischen den beiden Hauptgipfeln, sehen wir in einiger Entfernung ein buntes Bündel in der Aufstiegsspur. Wir eilen hin. Ein Mensch! Er ist nicht mehr ansprechbar, zeigt Anzeichen eines Hirnödems, aber er atmet noch! Wie wir später erfahren, ist es ein Däne, der ohne Wissen seiner Gruppe auf eigene Faust einen Gipfelversuch gewagt hat.


Bergwelt auf dem Weg zum Gumachi-Pass

Die nächsten Momente zeigen die Professionalität unserer drei Bergführer und wir sind wahrhaft froh, sie in diesen Minuten bei uns zu haben. Tanja, in ihrem Hauptberuf Ärztin, zieht eine Spritze mit Dexamethason auf. Dieses Wundermittel gegen die Höhenkrankheit sollte unseren Bergkameraden schnell wieder auf die Beine bringen, doch der erhoffte Erfolg bleibt aus. Die Zeit wird knapp! Mit wenigen Handgriffen bastelt Nikolai aus einer aufblasbaren Matte und einem Kletterseil eine Art Schlitten mit vier Führungsgriffen. Wir verschnüren unseren dänischen Kollegen, während Nikolai die Mir- Station anfunkt und einen Ratrak bis unter die Pastuchova-Felsen ordert.

Der Wettlauf mit der Zeit beginnt und es ist ein schweißtreibendes Rennen bis zur Atemlosigkeit. So schnell wir können, lassen wir den Schlitten den Hang hinuntergleiten. Wir müssen uns immer wieder abwechseln. Zu unerwarteter Stunde fordert der Berg doch noch all unsere Energie. Unterhalb der Pastuchova-Felsen wird das Gelände schließlich so einfach, dass es mit einem Ratrak befahren werden kann. Der Fahrer erwartet uns schon. Der Däne scheint von all dem Treiben um ihn herum noch gar nichts mitbekommen zu haben, sein Zustand hat sich aber nicht verschlechtert. Wir heben ihn mitsamt der Matte auf die Pistenraupe und können ihm nur ungehört das Beste wünschen. Bald sollte er in der Mir-Station sein, fast 2000 Meter tiefer als die Stelle, wo er zusammengebrochen war, seine Chancen werden mit jedem Meter besser. Langsam setzen wir unseren Abstieg fort und treffen auf seine verstörten dänischen Kollegen, die schon vergeblich nach ihm gesucht haben. Wir erreichen unsere Hütte, Stunden des Wartens vergehen. Unser Gipfelerfolg hat noch keine Bedeutung, es gibt Wichtigeres, das uns jetzt bewegt. In den Abendstunden meldet sich die Mir-Station. Der Däne ist wieder auf den Beinen und kann sich schon mit seinen nach unten geeilten Bergkameraden unterhalten. Die Spannung löst sich, Stimmung kommt auf, die letzten Tropfen Wodka müssen dran glauben. Wir stoßen auf den geretteten Dänen an, und ein bisschen natürlich auch auf unseren Gipfel.


Ausblick von den Pastuchova-Felsen über die Berge des Kaukasus

Siebzehn Tage später stehe ich auf dem höchsten Punkt des Pik Lenin (7134 m). Nach der Expedition kehre ich mit umfangreichem Datenmaterial zum Thema „Diabetes und Outdoor-Leben“ zu meinen Sponsoren zurück. Ich habe mit diesem Gipfelerfolg und meiner recht sorgfältigen Arbeit ihr Vertrauen gewonnen, sie werden mich in den folgenden Jahren großzügig bei der Verwirklichung meiner Bergträume unterstützen.

1 Der Grenzverlauf zwischen Europa und Asien wurde völkerrechtlich nie genau definiert. In vielen Teilen der Welt galt die Manytsch-Niederung nördlich des Kaukasus als Grenze. Dies ist der Grund, warum früher in den Schulen gelehrt wurde, dass der Montblanc der höchste Gipfel Europas sei. Im englisch- und französischsprachigen Raum galt immer der Kaukasus-Hauptkamm als Grenze, wonach sich der Elbrus, etwa 20 Kilometer nördlich des Hauptkamms gelegen, zur Gänze in Europa befindet. In den letzten Jahrzehnten hat sich diese Version durchgesetzt, unterstützt durch die Bildung der neuen Staatsgrenzen im Kaukasus nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.