Loe raamatut: «50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2», lehekülg 48

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Kapitel Acht­und­zwanzig

Das alte Rio

Um eine Stadt, um ein Kunstwerk, um einen Menschen wirklich zu verstehen, muß man ihre Vergangenheit, ihre Lebensgeschichte, ihre Entwicklung kennen. So geht mein erster Weg in jeder neuen Stadt zunächst zu den Fundamenten, auf denen sie sich erbaut hat, um ihr Heute aus dem Gestern zu begreifen. Nichts natürlicher, als daß ich in Rio zunächst den Morro do Castelo, den historischen Hügel suchte, wo sich vor vierhundert Jahren die Franzosen verschanzt hatten, und auf dem die siegreich stürmenden Portugiesen dann den eigentlichen Grundstein ihrer Stadt gelegt. Aber vergebens die Suche. Der historische Hügel ist abgeräumt. Kein Stein, keine Scholle Erde ist mehr davon zu finden. Das Terrain ist längst nivelliert, und breite Straßen erheben sich auf dem abgeflachten Boden. Merkwürdiges Phänomen. Das alte Rio ist verschwunden und das neue steht auf einem völlig anderen Grund als die Stadt des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts. Wo heute die asphaltierten Straßen laufen, war ursprünglich nur Sumpf gewesen, von kleinen Flußläufen durchzogen, ungesund und unbewohnbar, und die ersten Ansiedler hatten sich auf die Hügel hinaufgerettet. Erst allmählich konnte Terrain dem Sumpf und dem Meer abgewonnen werden, indem man das Land zwischen den Hügeln austrocknete, die Flußläufe zuschüttete oder kanalisierte und gleichzeitig durch Aufschüttung die Ufer immer weiter in die Bucht hineinschob. Dann wiederum fielen die Hügel, die den Verkehr hemmten. So hat sich in dreihundert Jahren die Stadt eigentlich völlig umgestülpt, und alles oder fast alles Historische ist dieser ungeduldigen Verwandlung zum Opfer gefallen.

Es ist kein großer Verlust, denn im sechzehnten, im siebzehnten und weit bis ins achtzehnte Jahrhundert war Bahia die Hauptstadt Brasiliens und Rio zu arm, zu gering für Kunstbauten und prunkvolle Paläste. Selbst als zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts der portugiesische Hof hier seine Residenz aufschlug, fanden die unfreiwilligen Gäste keine würdige Unterkunft. So reicht alles Historische bestenfalls in die Kolonialzeit zurück, und ein Haus von hundertfünfzig Jahren genießt hier schon im Gegensatz zu Bahia die Reverenz der Ehrwürdigkeit. Von dieser kolonialen Zeit, ihrem Stil und ihren Lebensformen bekommt man am besten ein Bild in den wenigen in ihrer Echtheit noch unveränderten Gassen um die Alfândega in Rio. Sie sind noch typisch portugiesisch und wirken angenehm in ihrer anspruchslosen Bescheidenheit. Einstöckig und zweistöckig, einstmals wohl bunt getüncht, haben sie keine andere Zier als das schön gehämmerte eiserne Spitzenwerk der Balkone; zurückgesunken nach einstiger Vornehmheit dienen sie ausschließlich mehr den kleinen Geschäften. Zu ebener Erde stehen die Läden, die Armazéns mit ihren Warenlagern offen, man blickt frei auf die aufgestapelte Ware, und meist riecht man sie schon zuvor, denn diese engen Gassen um den Hafen, die letzten unveränderten aus der Kolonialzeit, schwelen von einem fettig warmen Dunst von Fischen, Obst und Gemüsen. Es bedürfte nicht der ausgezeichneten Schilderungen Luís Edmundos in seinem Buch über Rio zur Zeit der Vizekönige, um zu ahnen, wie schauerlich verpestet und stickig diese engen Durchlässe gewesen sein müssen in einer Zeit, da Menschen und Vieh gemeinsam die Gasse bevölkerten und die primitivsten Gesetze der Hygiene noch nicht beachtet wurden. Auch die wenigen öffentlichen Gebäude aus den Zeiten der Kolonie, die Palais und Kasernen, sind hastig und billig ohne Plan und Ambition gebaut und stellen bestenfalls wohlfeile Kopien der portugiesischen dar. Jedes sentimentale Klagen um das »alte Rio« ist also eigentlich nur Angelegenheit von ein paar alten Leuten, die unbewußt ihre eigene Jugend beklagen. In Wirklichkeit hat Rio mit allem, was es wegräumte, wenig oder nichts verdorben. Von der Kolonialzeit verdienen einzig ein paar Kirchen, vor allem die wunderbar gelegene der Glória und São Francisco sowie der Aquädukt mit seinen nobel geschwungenen Linien geschützt zu werden und allenfalls als Wahrzeichen die eine oder die andere dieser kleinen farbigen Gassen. Denn ein großes Denkmal seiner Vergangenheit ist als Wahrzeichen unvergänglich: die Kirche und das Kloster von São Bento.

Diese Kirche von São Bento hat sich vom Wandel der Jahrhunderte gerettet, indem sie sich tapfer und einsam vom ersten Tage an auf einem Hügel verschanzte; so blieb dieses Bauwerk, 1589 begonnen, das einzige imposante Denkmal des sechzehnten Jahrhunderts, und vergessen wir nicht: ein Kunstwerk aus dem sechzehnten Jahrhundert ist für die neue Welt so alt wie für uns der Parthenon und die Pyramiden. Allein auf seiner Höhe, den Blick noch nicht verstellt von den Hochhäusern zu seiner Tiefe, frei nach allen Seiten schauend, bedeutet es ein wundervolles Stück Schönheit und Stille in dieser unruhig vordrängenden, mit Farbe und Lärm dröhnenden Stadt. Hier allein ist die Zeit in Rio stillgestanden, hier allein hat sein ungeduldiger Erneuerungswille nichts zu ändern vermocht. Noch ist die alte holprige Straße, die den Berg hinaufführt, dieselbe, die vor dreihundert Jahren die Pilger emporwanderten, und von derselben Terrasse, von der man früher die Galeonen Portugals und die schmalen Segelschiffe landen sah, blickt man jetzt auf die großen Ozeanriesen, die langsam und majestätisch ihre Bahn ziehen.

Von außen wirkt São Bento mit seinem angrenzenden Kloster zunächst weder sonderlich imposant noch eigenartig. Es ist ein solider breiter Bau mit schweren runden Türmen, das Kloster in seiner viereckigen Form eher einer Festung ähnlich, und tatsächlich hat es in Kriegszeiten als solche gedient. Ohne große Erwartung tritt man durch die schweren, kunstvoll geschnitzten Holztüren. Aber kaum man den Innenraum betritt, ist man geblendet. Eben stand man noch im scharfen südlichen Sonnenlicht von Rio, jetzt ist es nur ein honigfarbener Schimmer, der einen umhüllt, ein sonderbar weiches, gedämpftes Licht wie das eines nebligen Sonnenuntergangs. Man unterscheidet keine Formen, keine Konturen, Raum und Form zerfließen in diesem leuchtenden Nebel. Dann nimmt man erst wahr, daß dieser Schimmer von Gold ausgeht, das all die Wände einheitlich umleuchtet. Aber es ist nicht der laute, dröhnende, gellende Farbton von vergoldetem Metall, sondern ein ganz dünner, ein – möchte man sagen – leiser Glanz, der wie eine Lasur die Pfeiler und das Getäfel umspielt. Jede Linie, jede Fläche fließt dadurch zart und weich ineinander über und ergibt, gemengt mit dem Tageslicht, das von den Dachfenstern einströmt, diesen schwebenden Glanz, der wie ein feiner Rauch das weite und geräumige Kirchenschiff durchzieht.

Allmählich gewöhnt sich das Auge und vermag Einzelheiten zu erfassen. Und nun erkennt man, was in unseren Kirchen aus Stein und Metall und Marmor geformt ist, die geschnitzten Balustraden, die Täfelung, die Verzierungen, ist hier aus dem heimischen Holz, nur daß dies Holz mit einer ganz dünnen Schicht von Gold – man weiß nicht zu sagen: übermalt oder überzogen ist, einer so dünnen und so kunstvoll aufgetragenen Schicht, daß sie zart und unauffällig jede Schwingung und Biegung wiedergibt und das Krause des Barocks auf wunderbare Weise entlastet. Ohne an Originalität oder an Pracht den großen Kathedralen Europas vergleichbar zu sein, ist mit São Bento seinen Künstlern doch etwas Einmaliges gelungen: eine glückliche und neuartige Bewältigung der Materie, eine vollkommene Harmonie in dieser goldenen Dämmerung, die man nicht mehr vergißt. Und dieses wohltuend Maßvolle waltet dann auch im Kloster vor, in seinen weiten, steingepflasterten Gängen, den schweren schwarzen Holztüren, der schön proportionierten Bibliothek, dem abgeschiedenen Klosterhof, und man geht durch diese kühlen, von dicken Wänden gegen Lärm und Laut geschützten Gänge wie durch eine andere Zeit. Man hat vergessen, daß man in einer südlichen Welt ist jenseits des Äquators und unter anderen Sternen. Man könnte glauben in einem schweizer oder deutschen Benediktinerkloster, diesen uralten Refugien der Bücherfreunde, vor sich hin zu träumen. Da plötzlich an einem Fenster erinnert einen der Blick auf herrlichste Weise, wo man sich befindet: mit seinen Wolkenkratzern und Palais, mit seinen überfüllten Straßen dehnt sich in weitem Umkreis das Häusergewirr einer modernen Metropole unter der grünen Wacht seiner Berge. In der Tiefe dehnt sich die Bucht mit ihren Schiffen und Inseln und funkelt das tropische Meer; wie überall erlebt man in Rio an allen Stellen und auch den abgesondertsten und einsamsten diese unvergleichliche Zwiefalt von Stadt und Landschaft, von Zeitlichem und Zeitlosigkeit.

Dieses eine Kloster und noch das zweite auf dem andern Hügel von Santo Antônio hat sich Rio gerettet von seiner Vergangenheit. Es ist sein Adelsbrief, bezeugend das Alter und die Vornehmheit seiner Kultur. Mag alles Kleinliche und Ärmliche der Kolonialzeit auch weiter verfallen und verschwinden, mag die Stadt in ihrer Ungeduld sich von Jahr zu Jahr verändern, dieser goldene Schimmer durchleuchtet die Zeit.

Kapitel Neun­und­zwanzig

Spazieren durch die Stadt

Jeder Weg beginnt hier an der Avenida Rio Branco. Sie ist – oder vielmehr, sie war – der Stolz der Stadt. Vor etwa vierzig Jahren kam der Ehrgeiz über Rio, es den europäischen Großstädten gleichzutun und einen Boulevard, eine repräsentative Hauptstraße im Herzen der Stadt zu haben. Und da sie wie alle Städte des Südens davon träumte, ein Paris zu werden, verlockte das Vorbild des Boulevard Haussmann, den der große Präfekt mit kühnem, breitem Strich geometrisch gerade durch das frühere Gewirr verschachtelter alter Gassen gezogen, zur Nachahmung. Der Plan dieser Prunkavenida aber glaubte schon verwegen zu sein, wenn er sich das Maß von den europäischen Boulevards borgte und die Straßenbreite mit dreiunddreißig Metern ansetzte. Die Brasilianer der älteren Generation, die bodenständigen cariocas, an ihre engen schattigen kolonialen Durchlässe gewöhnt, schüttelten zwar die Köpfe und erklärten diese übermäßige Breite als allzu verwegen. Aber der Plan setzte sich durch. Man stellte an den Eingang der Avenida ein prächtiges und sehr pariserisches Opernhaus, die Nationalbibliothek, das Museum, das damalige Luxushotel, um von vornherein die neue Straße als den geistigen und kulturellen Mittelpunkt zu kennzeichnen, man wagte sogar sechsstöckige Häuser, die hochmütig über die niederen Dächer der bisherigen Palácios und Palacetes herabblickten. Die breiten Trottoirs wurden mit schwarzweißem Mosaik auf das schönste geschmückt, die Fahrbahn asphaltiert, die Geschäftshäuser und Klubs beeilten sich, die breite schöne Front in der damals modernsten Architektur zu flankieren. Es wurde in der Tat eine prächtige Straße, und mit Stolz konnten die Brasilianer sich sagen, daß sie den berühmten Boulevards Europas würdig an die Seite zu stellen sei.

Aber es erweist sich in Amerika, diesem mit ganz anderer Vehemenz aufstrebenden Kontinent, immer als Fehler und verhängnisvolle Bescheidenheit, in europäischen Maßen zu denken und zu rechnen. Zeit und Raum haben jenseits des Ozeans ein anderes dynamisches Maß. Hier entwickeln sich alle Dinge geschwinder, um freilich auch rascher zu veralten. Und so ist durch das tropische Wachstum Rios und den phantastisch sich entwickelnden Verkehr schon heute die Avenida Rio Branco längst zu eng, zu schmal geworden, ständig verstopft durch die Prozession der Autos, die nur im Schritt sich vorwärts bewegen können, donnernd von Lärm, überfüllt von Menschen und überdies noch rechts und links zurückgepreßt in ihrem Strombett durch die vorgeschobenen Planken der ständigen Umbauten. Denn schon scheinen die Prachtbauten von 1910 hier nicht mehr prächtig und verwegen genug, das Luxushotel von einst ist bereits zum Abbruch verurteilt, und an seiner Stelle soll ein zweiunddreißig Stock hoher Bau errichtet werden, die sechsstöckigen Häuser setzen entweder neue Stockwerke auf oder werden völlig umgestaltet; was vor dreißig Jahren mächtig und sogar monströs erschienen, wirkt heute klein und im Stil antiquiert und altmodisch. Die Oper, ganz in den Schatten gedrängt, kann ihre Proportionen nicht mehr entfalten, das Kunstmuseum und die Bibliothek haben ihre Superiorität verloren, und wie bei den Pariser Innenboulevards, der Berliner Friedrichstraße, der Londoner Regent Street beginnen die Luxusgeschäfte vor dieser wilden Betriebsamkeit sich in stillere Nebengassen zurückzuziehen. Die Prunkstraße ist heute nicht viel mehr als die obligate Verkehrsstraße und Durchgangsstraße ohne besonderes Cachet und ohne künstlerische Persönlichkeit; gerade was ihr als Charakter zugedacht war, die Vornehmheit, ist verloren, weil sie heute einzig der Zeit zu dienen sucht und ihr doch nicht mehr genügt.

Um ihren immer mächtigeren Rhythmus voll entfalten zu können, brauchte die Stadt darum neue und breitere Boulevards außer diesem einen, und sie schafft sie sich in ihrer ständigen Atemnot mit entschlossener Kraft. Rechts und links – die Pläne sind wirklich grandios in ihrer Verwegenheit – stößt sich Rio von innen heraus immer neue Avenuen frei, ganze Häuserblöcke wegfegend, wie eine vorwärtsrasende Lokomotive ein papiernes Blatt. Hügel werden abgetragen, ganze Karrees von Häusern der Spitzhacke ausgeliefert, Felsen mit Tunnels durchbohrt, die Berge empor in zementenen Serpentinen breite Verbindungen gebahnt. Rechtzeitig hat hier eine vorausdenkende Verwaltung erkannt, daß es nichts nützt, mit Raum zu sparen, indem man die Häuser höher türmt, wenn gleichzeitig die Stadt sich wie ein überkochender Topf weit und weiter hinaus ins Land ergießt. Die alten Hauptstraßen, die Rua Carioca und Catete und Laranjeiras, die nach Tijuca und Isidoro und Meyer halten den Verkehr mehr auf als sie ihm dienen, und von dem neuen Wohnviertel in das Herz der Stadt fährt man mit dem Auto eine halbe Stunde und noch mehr. Es mußte also Raum gewonnen werden um jeden Preis, und am nachgiebigsten, am gefälligsten erwies sich noch das Meer. Einer Bucht, die sich auf Meilen dehnt, zweihundert und sogar fünfhundert Meter durch Aufschüttung fortzunehmen, hieß dem unendlichen Meer nicht viel nehmen und doch der Stadt unendlich viel gewinnen. So entstanden die großen Strandboulevards, die heute den Blick umranden und durch den Blick auf das Meer und die Landschaft, geschmückt mit Bäumen, durchzogen von Gärten, mit ihren immer abwechslungsvollen Formen dem modernen Rio als Entgelt für seine alte Romantik eine neue Schönheit geben. Sie wirken wie der weiße Rand eines Buches um den gedruckten Text. Jede Seite dieses wie von Gottes Hand aufgeschlagenen Buches sagt eine andere Schönheit aus, und man wird nicht müde, sie immer und immer wieder aufzublättern. Dank der bizarren Formung, in der sich in fünffachen und sechsfachen Buchten das Meer in die Stadt hineinschmiegt, wirkt an jeder Kurve der Blick abwechslungsreicher. Man kann Rio wirklich nur mit einem gemalten Fächer vergleichen, wo jedes Blatt seine besondere Zeichnung hat und doch erst der voll ausgebreitete Fächer das ganze Bild ergibt.

Wer diese Strandboulevards im Auto durchfährt oder wenn er stundenlang zu marschieren bereit ist – entlanggeht, durchwandert eigentlich sechs oder sieben oder acht völlig verschiedene Städte. Da strahlen zuerst zur Linken der Avenida Rio Branco all die Straßen aus, die zum Hafen und damit in die Handelsstadt führen. Hier landen die großen Ozeandampfer, hier stoßen die Ferryboote nach den Inseln ab, hier füllt sich der farbenfunkelnde Markt mit Blüten und Früchten, hier wartet der Flugplatz mit seinen silbernen Schwalben, hier scharen die Docks und die Arsenale und die Kasernen der Marine sich zusammen; in neuer stolzer Gruppe erhebt sich der mächtige Block der zusammengescharten Ministerien, zwölf-, vierzehn-, sechzehnstöckige Bauten von neuzeitlichstem Charakter. Nach einem kühnen Plan ist beinahe die ganze Verwaltung des riesigen Reiches hier wie zu einem einzigen aufstrebenden Block vereinigt. Aber mögen auch Hafen und Geschäftsstadt und Verwaltungsstadt um ein paar Nuancen farbiger getönt sein als anderswo, die Physiognomie des Modernen wirkt hier noch international. Noch hat man die eigentliche, die persönliche Stadtschönheit Rios nicht gespürt, die weder im Nutzhaften noch im Historischen liegt, sondern in der unvergleichlichen Kunst, wie sie alle Gegensätze harmonisch zu lösen vermag.

Die kostbare, nachts mit tausend Lichtperlen leuchtende Kette der Strandboulevards beginnt eigentlich erst, sobald man die Avenida verläßt; die Praça Paris, von der sie ausgeht, ist gleichsam ihre kunstvolle Schließe. Der Name Praça Paris ist nicht zufällig. Zweifellos haben die französischen Stadtarchitekten, die den Plan entwarfen, an den Place de la Concorde gedacht, wenn er abends mit den runden Bogenlichtern strahlte. Aber diese Praça Paris hat noch den Blick auf die Bucht mit ihren gegenüberliegenden Inseln und Bergen, Luxus des Städtischen verbindet sich dem Verschwenderischen der Natur in einem unvergeßlichen Bild. Zwischen das blaue Meer und die weißen Häuserreihen ist ein breiter Streifen Grün gestellt, und der Himmel ruht offen über den Wipfeln dieses Parks, durch den blau, rot, grün, gelb wie wildgewordene Tiere die Automobile und Autobusse sausen, ohne aber wie in den meisten anderen Straßen durch ihr Jagen und Heulen den Blick zu verwirren. Hier kann der Blick rasten und betrachten, was ihm beliebt. Die belebte Linie der Palácios und Hotels, die freie Bucht mit ihrem weißen Saum von Niterói und den Schiffen und Ferrybooten oder auf den Hügeln über den Häusern die weiße, noble, alte Kirche Nossa Senhora da Glória, die sich abhebt von den massigeren Hängen des wie eine Kulisse fern aufsteigenden Gebirges.

Schon glaubt er alles umfaßt zu haben, dieser erste Blick, die ganze panoramische Schau, aber wie wenig erst hat er gesehen, wieviel erwartet ihn noch! Nach der Praça Paris verengert sich die Straße und drückt sich näher ans Meer als Avenida Beiramar und wird zur Praia do Flamengo. Hier waren früher die vornehmen alten Residenzen und blickten zwischen Gärten bescheiden aus einem ersten oder zweiten Stockwerk auf den Strand. Aber der Platz mit diesem freien Blick und der kühlenden Brise war zu kostbar. Elf und zwölf Stock hoch steigen jetzt in steiler zementener Front die Häuser empor, und die Riesenpalmen, die den früheren Gebäuden die Dächer beschirmten, reichen den neuen kaum mehr bis zu ihrer Brust. Der Blick auf die Bucht wird allmählich enger, denn gegenüber steht stolz – und nachts mit einer Lichtkrone geschmückt – der Pão de Açúcar, der Zuckerhut, ein mächtiger Fels, der den Eingang zur Bucht bewacht, und vor dem jedes Schiff demütig vorüberziehen muß, das in den Hafen will. Und wieder eine Wende, eine Kehre, und man ist in einer anderen Bucht, der von Botafogo. Verschwunden die freie Vista, man glaubt an einem von Bergen umstandenen See zu sein zwischen anderen Bergen und Hügeln als vordem, denn dies gehört zum landschaftlichen Geheimnis von Rio, daß seine Berge dank ihrer unregelmäßigen Formung von jedem Winkel aus gesehen eine andere Silhouette zeigen; was von Botafogo aus gesehen schroff wirkt, ist vom Flamengo aus gesehen lind, die eine Fläche desselben Felsens grün bewaldet, die andere nacktes Gestein, die dritte von Häusern bis zum Gipfel bestanden, und ebenso ändert durch das unablässige Zickzack die Bucht bei jeder Wendung ihre Konturen. In dieser Stadt der Vielfältigkeit wirkt dasselbe Meer, dasselbe Gebirge infolge der unbeschreiblichen Varietät der Ausblicke immer neu und überraschend. Statt dasselbe wiederzufinden, entdeckt man sich alles hier immer wieder von Anfang an.

Und wieder zwei Straßen, und man ist unvermutet in einer anderen Bucht, der Praia Vermelha, die so versteckt in einem Engpaß zwischen den Felsen liegt, so abseits von den Wohnvierteln, daß ich Wochen brauchte, um sie zu finden. Und plötzlich ist alles wieder anders. Verschwunden die Stadt, verloren der Ausblick auf die Bucht. Keine Luxushäuser, kein Verkehr, keine Geschäftigkeit, nur Wellen und Fels und Strand und Stille. Unwillkürlich hat man das Gefühl, man sei am Ende seines Wegs, am Ende der Stadt.

Aber man ist nur bei einem neuen Anfang, bei einem der vielen Anfänge, mit denen diese Stadt immer wieder überraschend beginnt. Nur eine Straße und ein Tunnel durch den scheinbar weglosen Felsen, und man findet sich plötzlich am Badestrand von Copacabana, diesem Super-Nizza, diesem Super-Miami, an dem vielleicht schönsten Strande der Welt. Unglaubhaft wie es klingen mag, jedoch mit diesen fünf Minuten von Rio nach Rio befindet man sich an einem völlig anderen Meer, in einer anderen Luft, in einer anderen Temperatur, als wäre man stundenweit gefahren. Und was man am Strande von Flamengo und der Avenida Beiramar gesehen, war wirklich ein anderes Meer, weil nur das Wasser der völlig umschlossenen Bucht, das Meer allerdings, aber ein gebändigtes, gefesseltes, geschwächtes Meer, das keine Kraft mehr hat zu wilden Wellen und trotz aller Breite und Weite keine deutliche Flut und Ebbe mehr aus sich zu holen vermag. Hier aber in Copacabana steht plötzlich die umsprühte, vom Wind umschlagene Stirn gerade gegenüber dem Atlantischen Ozean, und man weiß und fühlt, daß tausende Meilen weit bis hinüber nach Europa und Afrika nichts vor einem liegt als dies gewaltige Meer. Mächtig, grünschäumend wirft sich die Flut, Poseidons Gespann, mit den weißen Mähnen seiner Wasserrosse gegen den riesig breiten, helleuchtenden Strand. Der Donner umbraust einem die Ohren, und so stark ist dieser anprallende Schlag, so mächtig der Atem des Atlantischen Riesen, daß die verstäubte Luft dampft von Jod und Salz. So stark und durchsättigt ist sie von Ozon, daß, verwöhnt von der sonst weichen und ein wenig schwülen Atmosphäre, viele Menschen es gar nicht vertragen können, an dieser ewig donnernden, ewig sprühenden Küste zu wohnen. Aber wie erfrischend darum! Mit fünf Minuten Fahrt ist es vier oder fünf Grad kühler geworden, und auch dies gehört zu den hundert Geheimnissen dieser Stadt, die nur der lang Ansässige wirklich meistert, daß hier von Ecke zu Ecke die Temperaturen sich merklich unterscheiden, daß im selben Wohnviertel die rückwärtige Straße heißer sein kann und die vordere kühl, die rechte windig und die linke windstill, nur weil sie in einem bestimmten Winkel zur Meerbrise liegt, oder weil andererseits diese Brise durch einen Bergvorsprung gehemmt wird. So ist zum Beispiel der Anfang von Copacabana, der Leme heißt, nicht so beliebt und nicht so fashionabel und kostspielig, obwohl er nur einen Kilometer weit entfernt liegt und scheinbar die gleiche Front zum Meere hat. Die Avenida Atlântica aber, die Front von Copacabana, ist der Luxusstrand. Er hat ein berühmtes Hotel, die obligaten Cafés, mit Zigeunermusik, ein Spielkasino und die breite Promenade, er hat seine eigenen – und darum etwas unbrasilianischen – Sitten. Hier allein sieht man wie in den europäischen und nordamerikanischen Sommerstationen Mädchen in Hosen, Männer in bloßem Sporthemd (was sonst streng verpönt ist und einem sogar den Einlaß in einen Autobus verunmöglicht). Hier sitzt man im Freien in Restaurants und Cafés. Es gibt keine Geschäfte, keine Lastwagen, denn dieser Strand will allein dem Luxus, dem Vergnügen, dem Sport, der Promenade, den Farben, der Körperlust und Augenlust gehören. Er ist im letzten gewissermaßen die Luxuskabine für das gigantische Bad an dem riesigen Strande, der an manchen Tagen hunderttausend Menschen zusammenholt, ohne deshalb überfüllt zu sein. Manchmal hat man das Gefühl, als gehöre dieser Strand nicht zur eigentlichen Stadt; er sei nur ähnlich wie in Nizza, aber viel grandioser, einer arbeitenden, tätigen Millionenstadt zugunsten der Fremden und Luxusmenschen künstlich aufgesetzt worden und erst allmählich in das Leben, in den Organismus eingewachsen. In der Tat, vor zwanzig Jahren waren es kaum ein paar schüchterne Häuschen, die sich damals in die Sanddünen wagten. Aber seit man die Liebe zur Luft, zur Sonne, zum Wasser und die neuen Geschwindigkeiten des Automobils entdeckt, stellten ganze Quartiere sich mit unheimlicher Geschwindigkeit auf. Heute fährt man nach Copacabana so selbstverständlich wie in Wien in den Prater oder in Paris ins Bois, die vordem auch noch ein Ausflug und beinahe eine Reise gewesen. Wenn nicht das Herz, so ist Copacabana gewissermaßen die Lunge, durch die Rio atmet. Aber bei all seiner Schönheit ist eines symbolisch: daß man an diesem Strande sitzend oder stehend, Brasilien eigentlich im Rücken hat. Denn diese eine Avenida blickt – freilich über einen ganzen Ozean – nach Europa hinüber. Sie ist so neu-europäisch, wie die Avenida Rio Branco vor dreißig Jahren europäisch war, und es ist typisch, daß die Fremden und die Reisenden lieber an der Avenida Atlântica leben als dierichtigen cariocas, die sich hier eher zu Gast als zu Hause fühlen.

Und wieder eine Kehre – hier muß der Fußgänger innehalten, es ist zu weit für einen Tag – und man meint auf Zauberflügeln plötzlich in die Schweiz getragen zu sein; da liegt, ein paar Dutzend Meter entfernt vom Strande, ein See, die Lagoa Rodrigo de Freitas, rings von Bergen umschlossen. An seinem flachen Rande hat sich mit unheimlicher Geschwindigkeit eine ganz neue Villenstadt angeschmiegt, aber über ihm halten die Berge Wacht, und des Nachts spiegeln sich ihre dunklen Konturen magisch in seinem schwarzen Metall. Aber nicht rasten! Nur einen Blick auf diesen Bergsee inmitten einer Metropole, auf den romantische Negerhütten unbekümmert niederblicken; noch ein anderer langer Strand, der von Ipanema und noch ein zweiter, der von Leblon, ist zu umfahren, wo noch die Häuser und die Palmen des Boulevards jung sind. Dann erst nähert die Avenue sich der offenen Natur, und es beginnt die Avenida Niemeyer, wie die Corniche der Riviera in und durch den Fels gesprengt, hart an dem immer felsiger, immer abrupter werdenden Strand sieht sie hinab auf das Meer, das hier unruhiger und gefährlicher sich gebärdet. Aber zur Rechten beruhigen schützend die Hügel, mit grünem Gestrüpp, mit Palmen und Bananen niedersteigend – es ist eine Fahrt voller Abwechslungen, ehe man bei Joá einen Hügel erreicht, der Rast und Überblick gewährt. Aufgetan die Bucht mit ihren Inseln und Felsen, aufgerollt das Panorama der fernen Berge, verschwunden hinter dieser farbigen Kulisse die Stadt – man ist im Freien, man ist am Ende! Aber wie lange noch? Ein Jahr? Ein Jahrzehnt? Denn schon werden am nächsten Strande, der Praia da Tijuca, die Grundstücke ausgemessen; wo Sand weiß und weich einem jetzt den Schuh füllt, wird bald eine neue Häuserfront sich gegen das Meer stellen – wer kann sagen, wo Rio enden wird, wo es wirklich innehält.

Und wieder eine Kehre und wieder eine andere Welt. Der Wagen klettert in steilen Kehren den Berg hinauf, für eine Viertelstunde ist man im Urwald; kaum ein Haus, bestenfalls ein paar Hütten, halb von Palmen verdeckt, in denen die Neger hausen. Schon beginnt man zu vergessen, daß man doch nur einen einstündigen Ausflug innerhalb der Stadtgrenze unternommen, und man hat das Gefühl, in dieser Zeit sich um Meilen und Meilen entfernt zu haben. Aber plötzlich an einer Kehre blickt man hinab, und da liegt sie wieder, die Stadt! Ganz anders liegt sie da, weil von einer anderen Seite gesehen, man erkennt sie und erkennt sie doch nicht. Und welchen Weg immer man nun nimmt, höher noch aufsteigend zu der Vista Chinesa, der Mesa do Imperador oder rückkehrend durch Tijuca, diesen alten aristokratischen Villenort, überall verschieben sich die Perspektiven; ein fotografischer Apparat verbrauchte zehn Dutzend Filmstreifen, um nur die überraschendsten dieser Aspekte festzuhalten. Und dann ist man wieder in der Stadt, man weiß nicht aus welcher Richtung und in welche Richtung – nach Monaten findet man sich noch nicht zurecht – und wieder auf neuen Boulevards, etwa dem palmenbestandenen der Mangue oder vorbei am Jardim Botânico oder auf der parkhaften Praça da República. In ein oder zwei Stunden hat man nicht nur eine Stadt sondern eine Welt umschwungen und steht, noch sanft taumelig, inmitten des farbigen Tumults der Menschen und Geschäfte: die eine dieser südländischen Straßen erinnert an die Cannebière von Marseille, die andere, steil die Hügel hinan, an Neapel, die tausend Kaffeehäuser mit heiter schwatzenden Männern an Barcelona oder Rom, die Lichtspielhäuser mit ihren Reklamen und die Hochhäuser an New York. Man ist zugleich überall und weiß doch an jenem einzigartigen Zusammenklang: man ist in Rio.

Žanrid ja sildid
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Selle raamatuga loetakse